Die (postmodernen) Nibelungen: Blut und Spiele

„Hinter ihren Schwertern fließt Blut.“ (Das Nibelungenlied)

Sommer. Sonne. Spiele. Auch vor Worms macht die Hitze nicht Halt, kein Bollwerk, das die Wärme stoppt; alles ist durchlässig. „Alles fließt“, heißt es in der berühmten Formel des griechischen Philosophen Heraklit (ca. 520 – ca. 460 v. Chr.), panta rhei (altgriech. πάντα ῥεῖ). Oder präzisier (bei Platon überliefert): „Alles fließt [bewegt sich fort] und nichts bleibt“ (altgriech. Πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει; Vgl. Kratylos 402A = A6). Und es sind nicht nur die Wärme, der Sommer, die Zeit, die stetig dahinströmen wie der Rhein, nein, es fließt auch das Blut. Bei Amazon Prime einmal mehr fiktiv-brachial in Szene gesetzt durch die neue Roland-Emmerich-Gladiatoren-Serie „Those About to Die“, in Worms dagegen fließt es für den Zuschauer live und erlebbar bei den Nibelungen-Festspielen. Dort, auf der Bühne vor dem Wormser Dom St. Peter, wird in munterer Reihenfolge das (Kunst-) Blut vergossen, weggeschrubbt, untersucht, sich damit beschmiert, darin gewatet, als sei die Erde, der Himmel, jeder Gedanke aus Blut, im Blut, mit dem Blut. Und am Ende – warten keine genähten Wunden, keine geheilten Narben. Keine Versöhnung. Nur Blut. Das einfach nicht aufhören will zu fließen.

Ein bisschen fühlt man sich als Zuschauer, als würde man eine bizarre Szenerie beobachten, in der eine Horde lebender Toter durch eine Welt der Albträume und der Schuld wandelt, von Geistern verfolgt und gegen Feinde (innere wie äußere) ankämpfend – ohne dass es sich dabei um waschechte Vampire handelt. Nibelungen mit Fangzähnen. Das wäre einmal ein Spektakel. Willkommen zu einem Abend des Blutes. Willkommen in einem Reich, das zwischen Reue, Trauer, Gewalt, Rache, Angst, Wahnwitz, Zerrissenheit und Tod trudelt. Und mittendrin: Dietrich von Bern. Der (postmoderne?) Diplomat.

Die von den Autoren Feridun Zaimoglu und Günter Senkel gewählte Hauptfigur der Nibelungenfestspiele 2024 ist eine Gestalt, die im mittelalterlichen Epos um den Drachen, Siegfried, Brunhild, Hagen etc. erst relativ spät auftritt. Da sind die Hochzeitspläne zwischen der Siegfried-Witwe Kriemhild und dem Hunnenkönig Etzel bereits besiegelt und Dietrich, Protagonist zahlreicher eigener Heldengeschichten, verkörpert während der blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hunnen und Burgundern das durchaus ambivalente Ideal eines christlichen Ritters, zwischen Versöhnung und Kampf, Tod und Vergebung.

Das Theater zeigt Dietrich nun zunächst als einen vom Kämpfen müden und desillusionierten Charakter, der dem ewigen Blutvergießen abschwört und damit auf die Rückeroberung seines verlorengegangenen Reiches verzichtet. Als nächstes sieht man ihn am Hof von Burgund – als Brautwerber; eine Abweichung von der ursprünglichen Geschichte. Im Nibelungenlied ist es Markgraf Rüdiger von Bechelaren (Pöchlarn), dem die Rolle des Vermittlers zukommt.

Aber dieser Dietrich hat eine Mission. Mit der Reise zum Burgunderhof hofft Dietrich nicht nur, den Hofstaat von den friedlichen Absichten Etzels zu überzeugen, sondern auch sich selbst davon, dass eine Abkehr vom Blut möglich ist. Wie schwierig sich dies gestaltet, stellt er schnell fest.

Die potenzielle Brautkandidatin Kriemhild ist in Trauer. Ihr einst heldenhafter Gemahl Siegfried liegt nach dem Meuchelmord durch Hagen von Tronje für alle sichtbar aufgebahrt. Siegfrieds Blut fließt – im Bühnenstück – unablässig (als hätte er neben seinem eigenen auch das Blut des einst erschlagenen Drachen in sich aufgesogen), vor allem dann, wenn sein Mörder in der Nähe der Leiche weilt. Blut lügt nicht. Und da sich niemand den mysteriösen Zauber (oder das Blutwunder, je nach nach Deutung) erklären kann, haben Furcht und Paranoia längst in Burgund Einzug gehalten. Die klaffende Wunde im Inneren des Königreichs, die Gefahr der äußeren Bedrohung zwischen den Hunnen und/oder den Truppen einer weiteren Kriegspartei – jener des Kaisers Ermenrich – aufgerieben zu werden, bleibt bis zur letzten Zuschauerreihe hinauf spürbar. Und damit die Frage: Wird es dem Diplomaten Dietrich gelingen, ein weiteres Blutvergießen zu verhindern?

Geschickt verweben die Autoren hier den Stoff des Nibelungenlieds mit Motiven aus den Sagen und Liedern der Dietrichsepik, von denen es neben Hildebrandslied (9. Jahrhundert) oder der nordischen Thidrekssaga (13. Jahrhundert) so einige gibt. U. a. ist Dietrich auch in der Sage von König Laurin und seinem Rosengarten dabei. Von dieser Geschichte wird in einem weiteren Artikel noch die Rede sein, man kann ihr aber am Ende des Artikels bereits als Nacherzählung im Audio lauschen. Ein kleines Intermezzo bei all dem Blut, wiewohl auch Rosen ihre Dornen haben und Helden eben tun, was Helden tun: kämpfen, siegen, Ruhm einsammeln, Macht demonstrieren, leiden, weiterkämpfen, sich opfern. Oder eben tragisch scheitern. Damit ähneln die altvorderen Recken auffällig den postmodernen Helden, Marvel und Co. lassen grüßen.

Und es lassen sich eben auch ganz praktische Anpassungen vornehmen. So wird im Diplomaten u.a. aus Wittich, dem mit einer unüberwindlichen Rüstung und dem Schwert Mimung ausgerüsteten Kampfgefährten Dietrichs aus der Thidrekssaga kurzerhand Witta, eine nicht nur blutleckende, sondern leider auch etwas eindimensional daherkommende Kampfamazone. Mit dem Wittich der Epik hat sie, wenn überhaupt, die Zwielichtigkeit gemeinsam. Dabei wird sie nicht müde, Dietrichs Kopf im Kampf zu fordern, und, als dieser sich ihr verweigert, kurzerhand dem etwas überdreht wirkenden Kriemhildbruder Giselher den Garaus zu machen. Künstlerische Freiheit am Rhein. Es hat dann schon etwas Shakespearehaftes, dass ausgerechnet Witta am Ende dem Gift aus einem Weinpokal zum Opfer fällt.

Für die Dramatik indes völlig logisch. Das Stück schwingt sein unsichtbares Damoklesschwert über den Häuptern der Figuren und Dietrich selbst darf/soll keine Rache nehmen. Auch wenn der von Witta herbeigeführte Tod seines Bruders oder der Tod der Söhne von König Etzel, für deren Schutz Dietrich verantwortlich war, allemal Grund genug wären, wie ein Berserker über die Erde zu toben. Der Diplomat aber lässt Dietrich auf dem Drahtseil zwischen Vernunft und Chaos wandeln. Er sieht das Blut, sieht die Sinnlosigkeit seiner Taten, bereut, will sich selbst und andere von der Möglichkeit besserer Entscheidungen überzeugen. Ohne zu ahnen, dass er damit den Strom des Blutes befeuert. Denn das Blut will und kann einfach nicht aufhören zu fließen.

Kriemhild nimmt das Heiratsgesuch Etzels an. Und als Dietrich in einer geisterhaften Vision der Zukunft (zu spät) erkennt, was sein Wunsch auf Versöhnung heraufbeschwören wird, erliegt auch er dem großen Gleichmacher. Brunhild ist es, die bezwungene und zur Alkoholikerin mutierte Walküre, die Dietrich den Todesstoß (ausgerechnet in den Rücken – man merke das Perfide des Motives) versetzt, mit großem Gestus und den Schlussworten, dass Burgund fallen muss. Ein Ende, das „Game of Thrones“ zur Ehre gereicht. Und Zuschauer und Zuschauerinnen doch in einem seltsamen Stimmungsgemisch zurücklässt: euphorisiert und ohnmächtig zugleich. Denn die leise Hoffnung auf ein (vielleicht) alternatives Ende drängte sich zwischenzeitlich auf. Gleichwohl, es sind die Nibelungen und wie sie, sind auch wir alle dem Blut ausgeliefert. Die Botschaft ist eben klar: Alle haben Blut an den Händen. Niemand ist unschuldig. Und doch: was wäre wenn? Wenn, ja, wenn Hagens Speer Siegfried nicht präzise getroffen hätte? Der Nibelungenschatz zum Wohl Burgunds verwendet worden wäre? Wenn die Burgunder die Einladung an den Etzel-Hof, die ihren Untergang herbeiführte, nicht angenommen hätten? Wenn es nicht zum fiktiven Streit zwischen Kriemhild und Brunhild vor dem Wormser Domportal gekommen wäre?

Fragen, die eine Geschichte, eine Sage, einen Mythos fortspinnen. Ein Potenzial, in dem auch die Gefahr lauert, sich eigene Versionen davon zurechtzubasteln, wie u.a. die Geschichte des 20. Jahrhunderts nur allzu deutlich gezeigt hat. Daher darf und sollte man auf die Szenerie der Nibelungen-Festspiele und der Aussage ihres aktuellen (Anti-Kriegs-) Stücks auch etwas skeptisch blicken, und natürlich muss man fragen, was „Der Diplomat“ bei allem Unterhaltungswert mit dem eigentlichen Nibelungenstoff gemein hat, bis auf die Tatsache, dass er davon inspiriert wurde.

Mir persönlich war es ein wenig zu viel des Blutes (und die Verweise auf das aktuelle Weltgeschehen zu offensichtlich), das mir vor allem zu viel Aufmerksamkeit von der prächtigen Domkulisse und der wirklich tollen Leistung der Schauspieler abgezogen hat. Bei allem Bemühen scheitert der (postmoderne) Diplomat Dietrich am Ende vor allem an sich selbst, an seiner Naivität, seiner Schuld, an seinen guten Absichten, denen die letzte und willensstarke Konsequenz einer wahren Alternative fehlt. So bleiben am Ende nur Schwarz und Weiß. Leben oder Tod. Wenn das Blut nicht aufhören will zu fließen … Vielleicht ist das der Kern einer Heldengeschichte, dass sie keine wirkliche Alternative haben darf. Oder uns als Zuschauer, Leser, Teilhabende auf ihre Weise auffordert, nach einer zu suchen.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm



Literaturhinweise:

Das Nibelungenlied. Mit einem Nachwort von Uwe Johnson und einem Essay von Manfred Bierwisch. Insel Verlag, Berlin 2012.

Platon. Kratylos. Griechisch/Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Gernot Krapinger, Reclam: Stuttgart 2014.


Wir danken dem Mutabor Verlag für die freundliche Genehmigung. Nachzulesen ist das Märchen König Laurin und sein Rosengarten in: Blumenmärchen aus aller Welt. Ausgewählt und illustriert von Djamila Jaenike. Herausgegeben von der Mutabor Märchenstiftung. 2. Aufl. Trachselwald 2021.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

2 Antworten auf „Die (postmodernen) Nibelungen: Blut und Spiele“

  1. „…,die im mittelalterlichen Epos um den Drachen, Siegfried, Brunhild, Hagen etc. erst relativ spät auftritt…“

    Siegfried der Drachentöter weist große Ähnlichkeiten mit dem thessalischen Nationalheld Achilleus auf:

    „In der griechischen Mythologie ist Achilleus nur an seiner Ferse verwundbar. In der Nibelungensage taucht der Drachentöter Siegfried auf. Nachdem Siegfried den Drachen getötet hatte, nahm er ein Bad im Blut vom Drachen. Dadurch wurde Siegfried – wie Achilleus – ebenfalls nahezu unverwundbar. Ein Blatt fiel vor dem Bad im Blut auf den Rücken von Siegfried. Während Achilleus an der Ferse verwundbar war, war Siegfried an einer kleinen Stelle am Rücken verwundbar“ ->

    https://www.mythologie-antike.com/t13-achilleus-im-deutschen-sprachgebrauch-achilles

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