Die „Mittagsfrau“: Göttin, Sagengestalt, Schreckgespenst oder Horrorfigur

„Eine großgewachsene, knochige, weißgekleidete Frau mit einer scharfen Sichel, striff an sonnigheißen Sommertagen des Mittags zwischen 12 und 14 Uhr über die Felder. Diese Gestalt wurde von den Sorben/Wenden „die Mittagsfrau“ genannt. Sie hatte es besonders auf die Leute abgesehen, die während der Mittagsruhe auf dem Feld arbeiteten. Erwischte die Mittagsfrau jene Person, so konnte sich diese nur retten, indem sie eine Stunde lang über Flachsanbau, Flachsernte und Flachsverarbeitung erzählen konnte. Wehe dem, dem dies nicht gelang, der verwirkte sein Leben“.

„Die Mittagsfrau“ – Erscheinung, Zuordnung, Deutung

Die „Mittagsfrau“ gilt nicht nur in den beiden Lausitzen, sondern auch im gesamten slawischen Raum als eine bekannte und weitverbreitete Sagengestalt mit anthropomorphen Formen, die auch zur Magie eines Ortes bzw. einer Region gehört. Als „Pśespołnica“ oder auch „Serpownica“ (Sichelfrau) im Sorbischen, im Polnischen als „Południca“, im Tschechischen „Polednice“ oder im Russischen „poludnitsa“ ähnelt sich zwar die „Mittagsfrau“ in ihren slawischen Eigenbezeichnungen, unterscheidet sich allerdings zumeist deutlich in den jeweiligen Erzählungen. Zunehmend wurde die „Mittagsfrau“ der heimischen Sagenwelt und Folklore zugeschrieben und wurde dementsprechend auch zum Gegenstand bildkünstlerischer Auseinandersetzungen. In Polen wie im östlichen Europa wurde die „Mittagsfrau“ auch als eine Wiedergängerin toter Bräute aufgefasst. In Russland warfen sich dagegen noch im 19. Jahrhundert die Bauern des Mittags auf den Boden, um der dämonischen „Geistfrau“ zu entgehen, riefen den Allmächtigen zu Hilfe und beteten das Vaterunser rückwärts.

Narrative über das Erscheinen eines „daemonium meridianum“ kann man schon in antiken, frühchristlichen und mittelalterlichen Schriften, Chroniken, Historien- und Kuriositätenliteraturen sowie in Predigten und Sagen finden. Je nach Deutung bzw. Interpretation tritt die „Mittagsfrau“ als weiße Göttin, als Fee oder als teuflisch-schöne Tödin auf. Zumeist wird sie weiß gekleidet oder in ein weißes Tuch gehüllt gezeigt. Auf dem Kopf trägt sie eine Kapuze, welche aus demselben weißen Tuch zusammengefaltet ist. Auch hier könnte das Weiß ein Hinweis auf das Toten- bzw. Leichentuch sein. Einer Schnitterin gleich hält die „Mittagsfrau“ eine scharfe, zuweilen golden erscheinende Sichel in der Hand.

Ihrer mythischen Herkunft folgend, kann die „Mittagsfrau“ auf weitgehend verdrängte, zu einem Feldgeist „deklassierte“ slawische Licht-, Sonnen- und Schicksalsgöttinnen zurückgeführt werden. Zu ihnen zählten die aufreizend hübschen Frühjahrs- und Sommergöttinnen wie Vesna, Morena/Marzanna oder Zorya. So wäre es durchaus  wahrscheinlich, dass die ursprüngliche Version der „Mittagsfrau“ von einer der drei slawischen Schicksals- und Sternenschwestern abgeleitet wurde. Zu ihnen gehört auch die Mittagsgöttin, Schutzpatronin der Bauern und Schnitter. Auch hier ist ein Bezug zum Tod und zur Wiedergeburt gegeben, stirbt doch die Sonnen- bzw. Mittagsgöttin jede Nacht, um am nächsten Tag wieder aufzuerstehen, bildlich häufig dargestellt im Schließen und Öffnen der Himmelspforten. Es gibt außerdem einen Bezug auf Kupala, die russisch/belarussische Göttin der Sommersonnenwende, die auch in Gestalt einer hübsch gekleideten Stroh- bzw. Erntepuppe auftreten kann. Auch hier haben wir es mit einer wahrscheinlichen Anbindung an den Tod und den Teufel zu tun. Im Zusammenhang mit den slawischen Göttinnen des Todes sei darauf verwiesen, dass das grammatikalische Geschlecht von „Tod“ in den slawischen ebenso wie auch in den romanischen Sprachen nicht männlich, sondern weiblich ist. Daraus ergibt sich zwangsläufig auch eine andere Auffassung in der Symbolik, Interpretation und Darstellung. Nicht wie im Deutschen als „reitender männlicher Tod“ oder als jeglicher Erotik barer klappriger „Knochenmann“. Im Gegenteil, die „Tödin“ kann anziehend, erotisch und verführerisch sein. Sie ist in der slawischen Auffassung oft eine außergewöhnliche Schönheit, bildschön und zugleich todbringend. In einem Akt des „letzten Entzückens“ nimmt sie den Sterbenden, den „kleinen“ mit dem „großen Tod“ vereinend, mit in ihre Welt, in ihr Reich der Toten. In dieser Auffassung könnte der weibliche Tod auch als eine besondere Version der „Femme fatale“ in der antiken, nordischen wie auch slawischen Mythologie gelten. Dem widerspricht die sich weitgehend haltende neuere Interpretation und Darstellung der „Mittagsfrau“ bzw. „Kornmuhme“ als ein altes, unansehnliches, unerotisches Weib.

„Die Mittagsfrau“ – ein Mythos von nachhaltiger Breitenwirkung

Die slawische Mittagsfrau mit ihren vielfältigen Facetten findet auch in der germanisch-deutschen Mythologie ein ebenbürtiges Pendant. Im deutschsprachigen Bereich wird sie oft „Kornmuhme“ oder „Roggenmuhme“ genannt, so z.B. in einem gleichnamigen Gedicht vom Maler und Dichter August Kopisch (1799-1853):

„Laß stehn die Blume! / Geh nicht ins Korn! / Die Roggenmuhme zieht um da vorn! / Bald duckt sie nieder, / Bald guckt sie wieder: / Sie wird die Kinder fangen, / Die nach den Blumen langen.“ (1815-1853)

Sowohl „Mittagsfrau“ als auch „Kornmuhme“ basieren auf Erzählungen über die schwere Arbeit der Bauern, die im heißen Sommer vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung auf dem Feld arbeiten und angesichts ihrer körperlichen Plagerei eine überaus gebotene Ruhe- und Erholungsphase brauchen. In diesem Kontext gilt es die „Mittagsfrau“, die „Korn- oder Roggenmuhme“ als eine Warnung zu verstehen, als eine bildhafte Verkörperung eines drohenden „Hitzschlags“ bzw. „Sonnenstichs“, vor dem unbedingt gewarnt werden muss. Aus diesem Grunde sollten die ungeschriebenen Gebote und Rituale, zu denen die Mittagsruhe gehörte, eingehalten werden. Nach Ablauf der von der „Mittagsfrau“ gebotenen Ruhezeit verliert sie ihre Macht über die Sterblichen. Bis in die Neuzeit hatte sich in vielen Regionen der Brauch gehalten, die letzten Ähren zu einer anschaulichen „Kornmuhme“ zusammenzubinden. Sie verbleibt auf dem abgeernteten Feld und ist wahrscheinlich eine Erinnerung an Opfergaben für Naturgeister und Götter.

In einer weit verbreiteten Version galt die „Mittagsfrau“ oder „Mittagshexe“ aber auch als ein Schreckgespenst, und zwar in Gestalt einer nicht mehr weiß-, sondern schwarzgekleideten, hohlwangigen, totenbleichen, schwarzhaarigen alten Frau. Sie hat zwar ein menschliches Gesicht, aber Pferdefüße. So ist in Mähren die „Mittagsfrau“ eben nicht mehr eine weiße Göttin, sondern eine alte, böse Hexe, die ihren Opfern die Erinnerung raubt, sie mit lebenslanger Verwirrung straft oder ihnen erbarmungslos den Kopf mit der Sichel abschlägt. In dieser Gestalt tritt sie auch als „Korndämon“ oder „Roggenhexe“ in Schauermärchen und Horrorgeschichten auf. Sie kann aber auch als Kinderschreck dienen, fast immer mit der Warnung verbunden: „Die Kornmutter ist im Feld!“ Damit sollten die „unfolgsamen“ Kinder vor dem Spielen und Toben in den Feldern abgehalten werden. Die „Mittagsfrau“ kann aber auch in Gestalt eines plötzlich auftauchenden Wirbelwindes auftreten, der den Menschen auf dem Feld den Verstand raubt, Geist und Glieder lähmt und sie ums Leben bringt. Diese grauenvolle „Mittagshexe“ hat zumeist als „Kornmuhme“ auch Eingang in deutsche Horrorstories und deutsche Sagen gefunden. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf einen Podcast von RTL+:

„Der Spreewald im Jahre 1880: Die jung Wórša und ihr kleiner Bruder Jurij müssen aufs Feld, um bis Sonnenuntergang Flachs zu ernten. In der brennenden Mittagshitze begegnen sie einer mysteriösen alten Frau, die sie bei Laune halten müssen – sonst droht ihnen Schreckliches“.[1]

Rettung vor diesem grausamen Schicksal gelingt allerdings nur denjenigen, die vom Flachs, vom Sähen, Jäten, von seiner Blüte, Ernte und der Weiterverarbeitung eine geschlagene Stunde lang zu erzählen vermögen. Erst dann gibt sich die „Mittagsfrau“ bzw. „Kornmuhme“ geschlagen, lässt ihre Sichel auf dem Felde liegen und verschwindet ebenso geheimnisvoll, wie sie zuvor erschienen ist. Diese Motivik nimmt auch der Spielfilm von Florian Ecker & Team aus dem Jahr 2021 auf, der den Titel „Die Kornmuhme – eine deutsche Folklore“ trägt. Inspiriert wurde der Film vom Gedicht „Die Roggenmuhme“ von Jakob Loewenberg:

„Wie kommst du her in mein Revier / und gehst auf verbotenen Pfaden? / Was raubst du meine Kinder mir, / Kornblumen und Mohn und Raden? / […] Fort, fort zur Mutter! Das Korn nimmt kein End‘, / vergebens will es erwischen, / die Roggenmuhme dicht hinter ihm rennt / die Ähren höhnen und zischen. / Schon fühlt es, wie ihr Arm es umschlingt. / „Erbarme dich mein, erbarme!“ / Dort ist der Rain. „O Mutter!“ – Da sinkt / das Kind ihr tot in die Arme.

Der Film erzählt die Schauergeschichte von einem sagenumwobenen, alten Weib, das durch die Kornfelder streift:

„Zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Bayern pflücken Evi und ihre Brüder Blumen in einem Feld für ihre Großmutter. Zu ihrer Überraschung ist die Großmutter entsetzt über das Geschenk und erzählt ihnen daraufhin die furchterregende Legende eines Monsters, welches in den Kornfeldern lebt – die Kornmuhme“.[2]

Eine musikalische Version stellt Elli Riehl im Rahmen ihres Musikalbums „Die Kornmuhme/World of Stone“ von 2023 vor. Riehl macht dabei „Die Kornmuhme“ zu einem düsteren, gespenstischen, alptraumhaften Musikerlebnis.[3]

Die „Mittagsfrau“ fand weiterhin Eingang in die Dichtung, vor allem in die Literatur der Romantik, sie ist heute auch Thema virtuellen Erzählens. So taucht sie in zahlreichen Videospielen auf wie z.B. in der amerikanisch-polnischen Fantasy-Serie „The Witcher“ (2019-2023), die sich auf die literarische Vorlage der „Hexensaga“ (1990) des polnischen Schriftstellers Andrzej Sapkowski (1948) stützt. Bemerkenswert ist die „Macht des Fragens und des richtigen Antwortens“ wie sie Elias Canetti in seinem Essay „Masse und Macht“ (1960) der „sorbischen Mittagsfrau“ beimisst. Canettis literarisches Werk stützt sich explizit auf internationale ethnologische Quellen. Bewusst platziert der Autor die enigmatische Gestalt vom sorbischen Mittagsdämon am Schluss seines Abschnitts „Elemente der Macht“:

„,Einst lag‘, so heißt es in einer wendischen Sage, um die Mittagszeit bei Dehsa ein junges Bauermädchen im Grase und schlief. Ihr Bräutigam saß neben ihr. Er dachte bei sich nach, wie er seine Braut loswerden könnte. Da kam die Mittagsfrau und legte ihm Fragen vor. Soviel er auch antwortete, immer stellte sie neue Fragen. Als die Glocke eins schlug, stand sein Herz still. Die Mittagsfrau hatte ihn zu Tode gefragt.“

Die final gewählte Pointe bedarf keiner weiteren Kommentierung, nimmt sie doch Bezug auf eine zuvor bereits geäußerte Kernaussage Canettis:

„Denn die Wirkung der Fragen auf den Fragenden ist eine Hebung seines Machtgefühls; sie geben ihm Lust, noch mehr und mehr zu stellen. Der Antwortende unterwirft sich umso mehr, je häufiger er den Fragen nachgibt. Die Freiheit der Person liegt zum guten Teil in einem Schutz vor Fragen. Die stärkste Tyrannei ist es, die sich die stärksten Fragen erlaubt.“

Allerdings spart Canetti eine mögliche Rettung durch das eine Stunde dauernde Erzählen aus, mit der die „Dämonin“ hätte durchaus vertrieben werden können.

Beeindruckend ist die sinfonische Dichtung „Mittagshexe“, eine Tondichtung von Antonín Dvořák (1841-1904). Hier wird die Warnung vor der gespenstischen „Mittagshexe“ in ein dramatisches, märchenhaftes, tonmalerisches Bild eingebettete. Den Stoff dafür übernahm der tschechische Komponist einem literarischen Werk von Karel Jaromir Erben (1811-1870), „Kytice“ / „Blumenstrauß“ aus dem Jahr 1853. Es sind düstere, furchteinflößende Gedichte und Erzählungen von Schuld und Sühne, von Hass, Trauer und Tod, von Abgründen der menschlichen Seele. Zu den bekanntesten Dichtungen gehören „Der Wassermann“, „Die Geisterbraut“ und „Die Mittagshexe“, allesamt von Dvořák vertont. So erzählt Dvořáks makabres Meisterwerk „Die Mittagshexe“ von einer überforderten Mutter, die sich von ihrem quengelnden Kind in ihrer Ruhe gestört fühlt. Sie droht dem nörgelnden Kind, wenn es nicht endlich brav sei, die „Mittagshexe“ zu rufen, um es endlich zur Vernunft zu bringen. Mit dem Ruf „Mittagshexe komm und nimm mir diese Nervensäge!“ erscheint tatsächlich die Schreckensgestalt. Es kommt zu einem Kampf auf Leben und Tod, in dem der Tod in Gestalt der „Mittagshexe“ siegt. Die Mutter bricht erschöpft zusammen. Nach dem Ertönen des zwölften Schlags der Mittagsglocke ist der Spuk zwar vorbei, doch das Kind liegt im Sterben. Triumphierend lacht die Hexe über den begangenen Kindstodt.    

Zu den bekanntesten literarischen Werken gehört zweifelsohne der Familienroman „Die Mittagsfrau“ (2007) von Julia Franck. Die Autorin wendet sich weit zurückliegenden, ungewöhnlichen Ereignissen zu. Es ist die Geschichte einer Frau im Kontext einer komplizierten Familiengeschichte über einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten. Dabei dient die „Mittagsfrau“ als eine Art Metapher. Kann durch das Erzählen bisheriges Schweigen bzw. Verschweigen gebrochen werden? Vermag das Sprechen auch Garant für das Überleben sein? Motive des Sprechens und Schweigens findet Franck in der Sagengestalt der „Mittagsfrau“, die aus ihrer Heimat, der Lausitz kommt. Und zwar aufgefasst im Spinnen eines rettenden Erzählfadens, im notwendigen Brechen eines tödlichen Schweigens. Julia Francks Bestseller wurde unter dem Titel, „Die Mittagsfrau“, durch die österreichische Filmemacherin Barbara Albert verfilmt; die Filmpremiere fand am 14. September 2023 in München statt. Verwiesen sei des Weiteren auf Theateradaptionen der „Mittagsfrau“ am Deutschen Theater in Göttingen (2010) wie auch am Deutsch-Sorbischen Theater Bautzen (2013). Ein gewisses Fazit von Buch und Film könnte sein, dass es angesichts der todbringenden Sichel am Hals keine Zeit mehr für das Suchen nach Worten gibt. Sagen entstehen und werden dort verwendet, wo Menschen eine Geschichte brauchen für etwas Unerklärliches, wo wir uns immer wieder unsere Geschichten erzählen müssen. In Francks Roman ist es „die Verwirrung bis hin zum Tod“, darin besteht ihr Fluch. Diesem grausamen Fluch zu entrinnen ist nur dann möglich, wenn wir wenigstens „eine Stunde lang von der Verarbeitung des Flachses“ bzw. vom Erlebten und persönlich Erlittenem erzählen. Nur so können wir erfahren, „wer wir sind, weshalb wir so sind, wie wir sind und wie wir uns weiterentwickeln“.

Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte


Anmerkungen:

[1] https://www.antenne.de/mediathek/serien/german-horror-stories-deutsche-sagen/0001j7brdy0dm0ehg36z09gg68-mittagsfrau

[2] https://www.filmrebell.tv/mediathek/video/die-kornmuhme-eine-deutsche-folklore/

[3] https://www.youtube.com/watch?v=TmCSYgtGLSI


 © Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

 

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