Die Geister Roms – Von Wiedergängern und Nachtgestalten

„Ich, ihr Bürger, bin körperlich tot, aber in dem Wohlwollen und der Freundlichkeit, die ich euch gegenüber empfinde, bin ich lebendig. Ich bin, nachdem ich mich an die gewandt habe, die unter der Erde die Herren der Dinge sind, hier bei euch nun zu eurem Nutzen. Und so rufe ich euch, da ihr ja meine Mitbürger seid, jetzt auf, nicht furchtsam oder verschreckt zu sein, nur weil unerwartet ein Geist anwesend ist. […] Freilich verzeihe ich euch, daß ihr angesichts eines so merkwürdigen Anblicks nicht wißt, was ihr recht tun sollt. Wenn ihr mir zudem ohne Furcht gehorchen wollt, werdet ihr von eurer gegenwärtigen Furcht ebenso befreit wie von der bevorstehenden Katastrophe. Doch wenn ihr zu einer anderen Auffassung gelangt, bange ich um euch, daß ihr wegen eures Mißtrauens uns gegenüber in ein unheilbares Unglück stürzen werdet. Weil ich euch schon zu meinen Lebzeiten wohlgesonnen war, habe ich auch jetzt in diesem meinen unerwarteten Erscheinen vorhergesagt, was für euch vorteilhaft ist. […] Es ist mir nämlich nicht gestattet, lange zu bleiben, wegen derer, die unter der Erde die Herrscher sind.“ (Phlegon von Tralleis, Das Buch der Wunder, S. 19 f. )

Der aus Kleinasien stammende Phlegon von Tralleis, der im 2. nachchristlichen Jahrhundert Beamter und Schriftsteller unter Kaiser Hadrian war, gilt als Verfasser einer Reihe von Büchern und Schriften mit teilweise recht ungewöhnlichen Thematiken: Darunter etwa die Mirabilia, eine Weltchronik der Eigenartigkeiten, eine Beschreibung römischer Feste sowie die Peri makrobion, eine Zensusliste, in der Menschen einzig wegen ihres hohen Alters aufgeführt sind. Hinzu kommt das oben zitierte Buch der Wunder, das neben Geistern auch von Riesen, Monstergeburten, schwangeren Männern und Wunderwesen wie dem Hippozentaur handelt und den Paradoxographischen Schriften zugerechnet wird. Darunter versteht man antike Sammlungen, welche bizarre, außergewöhnliche oder wundersame Ereignisse, Begebenheiten, fremde Völker oder Wesen aufführen – im Gegensatz zu Mythen wird von diesen jedoch angenommen, dass sie auf realen Beobachtungen und Beschreibungen beruhen, ihnen also auch ein gewisser Wahrheitsgehalt immanent ist. So versammelt auch das Buch der Wunder eine ganze Reihe von sensationell-denkwürdigen Geschichten, die sich bis ins Mittelalter großer Beliebtheit erfreuten. Und noch Johann Wolfgang von Goethe verfasste seine vampirische Ballade Die Braut von Korinth unter dem Eindruck von Phlegons bekanntestem Werk.

Doch zurück zu der erwähnten Geistergeschichte: Diese beginnt (unter Verweis auf den Bericht eines Griechen namens Hieron von Alexandreia oder Ephesos) mit einem gewissen Polykritos, dem gewählten Anführer der Aitoler. “Während er im Amt war, nahm er sich eine Frau (aus dem benachbarten Lokris) zur Gemahlin, schlief mit ihr drei Nächte lang und schied dann in der vierten Nacht aus dem Leben.“ (Phlegon, S. 18) Das kurze Intermezzo blieb derweil nicht folgenlos. Die Frau gebar ein Zwitter-Kind, woraufhin die Volksversammlung beschloss, dass dieses aufgrund seiner Widernatur mitsamt der Mutter zu verbrennen sei. Der Geist des toten Polykritos erscheint daraufhin, um seinen Landsleuten zunächst ins Gewissen zu reden. Doch dies scheitert natürlich, mit fatalen Folgen:

„Die Menge war zusammengelaufen und machte sich daran, das Wesen zu ergreifen, als der Geist das Kind erfaßte, die meisten von ihnen zurückzutreten zwang, das Kind rasch Glied um Glied zerriß und aufzufressen begann. Die Leute begannen zu schreien und Steine auf ihn zu werfen, um ihn zu vertreiben. Von den Steinen nicht verletzt, fraß er den ganzen Körper des Kindes auf, mit Ausnahme des Kopfes, und wurde dann plötzlich unsichtbar. Die Leute waren wegen dieser Geschehnisse verstört und in einem Zustand außerordentlicher Verwirrtheit. Sie wollten eine Gesandtschaft nach Delphi schicken, da aber begann der Kopf des Kindes, der auf dem Boden lag, zu sprechen und ihnen die Zukunft in einem Orakel zu weissagen.“ (Phlegon, S. 20 f.)

Es kommt natürlich wie es kommen muss. Das schaurige Orakel sagt großes Unheil für die Aitoler voraus, das denn auch, glaubt man dem Bericht, ein Jahr später eingetreten sein soll. Die Geschichte zeigt also, dass das Erscheinen von Geistern oder von als widernatürlich empfundenen Wesen schon in der Antike mit Vorsicht zu genießen war. Der römische Dichter Petronius, gest. 66 n. Chr. durch eigene Hand, nachdem ihn die Anschuldigungen ereilt hatten, er sei an einer Verschwörung zur Ermordung Kaiser Neros beteiligt gewesen, beschreibt im Gastmahl des Trimalchio aus dem satirischen Roman Satyrica nicht nur die Verwandlung eines Mannes in einen Werwolf, sondern warnt auch vor einer ganz besonderen Art von Geistergestalten: „Ich bitte euch, ihr müsst mir glauben, es gibt tatsächlich Weiber, die mehr können, es gibt Nachthexen, und die machen, was oben ist nach unten.“ (Petronius, 63, 9, S. 69) Doch dagegen gibt es Abhilfe: In Form von Tischeküssen. Ob diese Methode allerdings tatsächlich wirksam gewesen ist, darüber berichtet uns Petronius leider nichts.

Der Glaube an Geister und die damit verbundene Vorstellung, dass hinter der mit unseren Sinnen erfassbaren, als real gedachten, materiellen Welt noch eine immaterielle existiert, ist so alt wie die Menschheit selbst. Auch das Alte Rom kannte diese Erscheinungen. Naturgeister, Totengeister, Hexen, Wiedergänger, Chimären – die Römer glaubten sowohl an eine beseelte Natur (u. a. in Gestalt von Nymphen oder männlichen Mischwesen aus Ziegenbock und Mensch, die Bäume, Flüsse, Berge, Weiden oder Wälder bewachten) als auch an das Fortleben der menschlichen Seele nach dem Tod. Vor allem die Totengeister sollen im Fortgang interessieren, da die Furcht vor ihnen derart ausgeprägt war, dass sie sogar einen festen Platz im römischen Festkalender besaßen. Neben der Angst, einem solchen Wesen leibhaftig zu begegnen, drückte sich dabei aber auch der Respekt für die immaterielle Anderswelt aus. Lebende und Tote existierten zwar in verschiedenen Sphären, aber doch mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander. Der Glaube an Geister reichte gar soweit, dass man versuchte, mit ihrer Hilfe einen Blick in die Zukunft zu werfen oder sie sich dienstbar zu machen, wobei hier literarische Beschreibungen extrem von Papyrusquellen, die uns unter anderem aus dem 3.und 4. nachchristlichen Jahrhundert überliefert sind, abweichen. Konnten die Dichter Totenbeschwörungen wortreich und gruselig ausmalen, gleichen die Beschreibung in den Gebrauchstexten eher denen von meditativ-spiritistischen Séancen. Eine real erfolgte Wiederbelebung von toten Körpern zu nekromantischen Zwecken findet sich indes nicht (oder noch nicht?) in den Überlieferungen.

Wie in vielen antiken Gesellschaften spielte auch bei den Römern die Auseinandersetzung mit dem Tod sowohl im rituell-kultischen Bereich, im Volksglauben und in der Philosophie eine wesentliche Rolle. Dabei sei in diesem Zusammenhang kurz die – auch für die Existenz von Geistern – nicht unwichtige Frage aufgeworfen, welche Vorstellungen die Römer eigentlich vom Leben nach dem Tod kannten. Zum einen konnte das eigene Weiterleben durch die memoria, verstanden als überzeitliches Erinnern, abgesichert werden, indem man zu Lebzeiten den entsprechenden Ruhm etwa durch siegreiche Schlachten, literarische Zeugnisse oder politisches Wirken erlangte, zum anderen durch die eigenen Nachkommen, in denen laut antiker Vorstellung jeder Mensch fortlebte.

Darüber hinaus gab es die Vorstellung der Epikureer, welche die Existenz eines Jenseitsreiches und damit von Geistern, ja sogar der Angst vor dem Tod, ausschloss, im Gegensatz zu den Stoa, die von der platonischen Seelenlehre beeinflusst war. Demnach besitzt jeder Mensch eine Art unsterblichen Seelenfunken, der Ausdruck einer göttlichen ratio ist, die es für das Gemeinwohl und die Mitgestaltung der Weltordnung einzusetzen gilt, und der am Ende wieder in diese ratio einfließt. Oder etwas poetischer gesprochen: Die Seele stammt von den Sternen und findet nach dem Tod dorthin zurück. Ein Gedanke, der sich auch bei den Orphikern wiederfindet, welche die (verdienstvollen) Seelen bei den Sternen oder aber, angelehnt an den Mythos von Orpheus und Eurydike, unter der Erde verorteten. Um einiges pragmatischer ging es indes im römischen Volksglauben zu. Der Ort, wohin die Toten und damit die Seelen wandern, wurde ganz simpel mit dem Grab assoziiert. „Diesem Gedanken entsprechend haben die Gräber, soweit es sich die Familien leisten [konnten], die Form von Häusern. Die an bestimmten Festtagen regelmäßig durchgeführten Familienmahlzeiten an bzw. auf den Grabstätten, die das Gefühl der Verbundenheit mit den Vorfahren stärken sollten, unterstützten diese […] pragmatische Vorstellung.“ (Kremer, S. 21) Demnach war die Vorstellung, im wahrsten Sinne des Wortes mit den Geistern im Bunde zu stehen, zunächst einmal weder erschreckend noch abstoßend. Allerdings war man sich hinsichtlich ihres Auftretens sowie auf welche Art und Weise, sie Einfluss auf die Lebenden nehmen konnten, nicht gar so einig.

„Ich möchte also sehr gerne wissen, ob es nach Deiner Meinung Gespenster gibt, ob sie eine eigene Gestalt haben und überirdische Wesen sind, oder ob sie leere und wesenlose Gebilde sind, die nur in unserer Furcht Gestalt annehmen“, fragt denn auch Plinius der Jüngere in seinem Gespensterbrief. Darin wird u. a. von einem verrufenen und unheilbringenden Haus in Athen erzählt, dem der Philosoph Anthenodorus auf den Grund zu gehen gedachte:

„Anfangs herrschte, wie überall, die Stille der Nacht; dann klirrte Eisen, Ketten rasselten. […] Der Lärm nahm zu, näherte sich und war schon an der Türschwelle, schon im Zimmer zu hören. Er schaute auf, sah und erkannte das Gespenst […] Es stand da und winkte ihm mit dem Finger zu, als wollte es ihn rufen. […] Das Gespenst ging mit langsamen Schritten […] Nachdem es in den Hof des Hauses abgebogen war, verschwand es plötzlich und ließ den Begleiter zurück. […] Am folgenden Tag ging [dieser] zu den Behörden und forderte sie auf, jene Stelle aufgraben zu lassen. Man fand mit Ketten gefesselte und umwickelte Gebeine, die der mit der Zeit in der Erde verweste Körper nackt und vermodert in den Fesseln zurückgelassen hatte. Man sammelte die Gebeine und bestattete sie auf Kosten der Gemeinde. Nachdem die Manen gebührend bestattet worden waren, blieb das Haus in der Folgezeit unbehelligt.“ (Plinius, 7. Buch, 27, S. 521 ff.)

In den Krisenzeiten der römischen Republik zählten Geistererscheinungen zu den Prodigien, den warnenden Vor- oder Wunderzeichen, und wurden grundsätzlich negativ interpretiert. „So sollen beispielsweise vor der Ermordung Cäsars […] verschiedene Geister gesichtet worden sein.“ (Kremer, S. 22) Dennoch zeigten sich die Totenseelen auch unabhängig von einschneidenden historischen Ereignissen wie der Bericht des Plinius zeigt. Als Gründe für diese Ruhelosigkeit, die man bis in unsere heutige Zeit mit Geistern in Verbindung bringt, vermutete man einen zu frühen Tod durch Mord, Unfall oder Krankheit, während des Lebens angehäufte Schuld oder auch eine unziemliche Lebensführung. Einen weiteren Punkt sah man zudem im Fehlen einer ordentlichen Bestattung, welche eng mit dem Totenkult in Verbindung stand. Dieser sah u. a. vor, dass der Name des Verstorbenen unmittelbar nach dem Tod mehrmals laut ausgerufen wurde. Cicero und Vergil beschreiben zudem das Auffangen des letzten Atemzugs durch einen der Hinterbliebenen. Augen und Mund mussten verschlossen sein, und es war Brauch, dem Toten eine Kupfermünze – den sogenannten Charonsgroschen – auf die Zunge zu legen. Eine Tradition, die schon bei den Griechen praktiziert wurde. Neben Aufbahrung, Waschung und Bekränzung des Leichnams spielte auch die rituelle Totenklage eine wesentliche Rolle, die von bestellten Sängern oder Frauen vorgetragen wurde, um die Seelen zu beschwichtigen. Nach der Aufbahrung folgte die Beisetzung, und – je nach Rang und Stellung des Toten – ein Leichenzug samt öffentlicher Leichenfeier. Als Beisetzungsarten waren Feuer-, in spätantiker Zeit aber auch zunehmend Erdbestattungen üblich. Blieb der Tote unbestattet, konnte die Seele nicht ins Totenreich gelangen und der Verstorbene trieb fortan als Geist sein Unwesen (vgl. Aurelius Augustinus, Einführung, S. XII ff).

Im Alten Rom kannte man verschiedene Arten von Totengeistern. Diese wurden entweder relativ allgemein und unpersönlich als effigies bezeichnet, was so viel wie Bild oder Erscheinung bedeuten konnte, oder aber konkret als manes (Manen), lares (Laren – Schutzgeister der Familie oder eines bestimmten Ortes), penates (Penaten – Schutzgeister der Vorräte, des Herdes und der Familie), lemures (Lemuren) oder larvae (Larven) benannt; wobei die Bezeichnungen auch beliebig vertauscht werden konnten.

Der Ausdruck di(s) manibus (den göttlichen Manen) findet sich häufig auf Grabsteinen wieder. „Vielleicht sind damit ursprünglich Götter, die über die Toten wachen (di inferni – Unterweltsgötter) angesprochen, die möglicherweise mit den Ahnen der Toten (di parentes – Elterngötter) gleichgesetzt werden können, vielleicht werden aber auch die Totengeister der Verstorbenen selbst als Schutzgottheiten ihrer Gräber gedacht.“ (Kremer, S. 24) Mit den Manen werden in der römischen Religion die guten Totengeister assoziiert. Der Name manes kann dabei auch als Euphemismus verstanden werden, der „die Guten“ bedeutet. In Verbindung mit Grabinschriften bezieht sich dieses „Gute“ auch darauf, auf welche Weise man von den Toten sprach. Sprach man schlecht über sie, musste man fürchten, dass sie keine Ruhe fanden und als schlechte/böse Geister etwa in Gestalt von Lemuren oder Larven erschienen. Waren Lemuren mitsamt ihrem Spuk in der Regel an einen bestimmten Ort gebunden, um auf ihre klägliche Lage aufmerksam zu machen, wie der Geist in Plinius‘ Gespensterbrief, galten die Larven als so bösartig und grauenhaft anzuschauen, dass sie nicht nur die Lebenden, sondern auch andere Geister heimsuchen konnten. Larven ähnelten Dämonen oder entsprachen in der Vorstellung der Römer den Geistern böswilliger Menschen oder Mördern. Ihnen wurde u. a. nachgesagt, Wahnsinn hervorzurufen. Aber auch die nicht gut behandelten Schutzgeister (lares) konnte sich in Larven verwandeln und Familien oder Wanderer an Wegkreuzungen heimsuchen. An eben jenen Kreuzungen gab es häufig ihnen geweihte Schreine, bis der Kult im 4. Jahrhundert von Kaiser Theodosius II. verboten wurde. Männlichen Laren (sowie ihren weiblichen Gegenstücken, den virae) sagte man im Übrigen nach, trotz ihrer Geisterhaftigkeit recht vital und zeugungsfähig zu sein. Zu vermuten ist, dass sich bei diesen Vorstellungen Geisterglaube und die Überreste alter Fruchtbarkeitsriten miteinander verbunden haben.

Ein Beispiel dafür, dass Geister sowohl rachsüchtig als auch körperlich recht real auftreten konnten, spielt in Süditalien und handelt vom sogenannten Heros von Temesa. Am ausführlichsten hat die Geschichte, inklusive des Berichtes, wie sich ein Totengeist unschädlich machen lässt, der im 2. Jahrhundert lebende Reiseschriftsteller Pausanias überliefert. Der Heros von Temesa ist hierbei mehr schauerlich denn heldenhaft. Sein Name wird mit Alybas angegeben und seine Gestalt, welche der Autor selbst in einem Bildnis gesehen haben will, sei schrecklich gewesen, „schwarz in der Farbe und in seiner ganzen Gestalt furchtbar, und er trug als Kleidung ein Wolfsfell“. (Pausanias, Buch VI, S. 308) Pausanias bezeichnet ihn auch nicht als Geist, sondern als „daemon“. Der Bericht lautet wie folgt:

„Als Odysseus nach der Eroberung Ilions herumirrte, soll er von den Winden zu anderen Städten in Italien und Sizilien verschlagen worden und mit seinen Schiffen auch nach Temesa gekommen sein. Hier habe sich einer der Seeleute betrunken und ein Mädchen vergewaltigt und sei von den Einheimischen für diese Untat gesteinigt worden. Odysseus habe sich um seinen Tod überhaupt nicht gekümmert und sei davongefahren, der Daemon des Gesteinigten aber habe ununterbrochen die in Temesa umgebracht und jedes Alter angegriffen, bis die Pythia ihnen, als sie Italien überhaupt verlassen und fliehen wollten, Temesa zu verlassen verbot und ihnen befahl, den Heros zu versöhnen, ihm einen heiligen Bezirk einzurichten und einen Tempel zu bauen und ihm jedes Jahr die Schönste von den Mädchen in Temesa zur Frau zu geben. Als sie das von dem Gott Befohlene taten, geschah ihnen fortan nichts Böses mehr von dem Daemon. [Der Faustkämpfer] Euthymos kam [nun] nach Temesa, und da wurde gerade die Sitte für den Daemon vollzogen, und er erfuhr ihre Lage und begehrte, in den Tempel zu gehen und die Jungfrau zu sehen. Wie er sie sah, wurde er zuerst von Mitleid, dann auch von Liebe zu ihr ergriffen. Das Mädchen schwor ihm, sie würde ihn heiraten, wenn er sie rette, und Euthymos erwartete gerüstet das Erscheinen des Daemons. Er besiegte ihn im Kampf, und der Heros wurde aus dem Lande vertrieben, tauchte im Meer unter und verschwand.“ (Pausanias, Buch VI, S. 307)

Eine Erklärung, wie es möglich ist, dass ein Lebender eine Keilerei mit einem Geist, der in den meisten Fällen mit einem transzendenten Körper gedacht wird, bewerkstelligen und gewinnen kann, liefert Pausanias leider nicht. Um solche übernatürlichen Konfrontationen zu vermeiden, hatten die Römer eine Reihe von Festen etabliert, die den Toten und den Geistern vorbehalten waren. Dazu zählten die Parentalia, die man zwischen dem 13. und 21. Februar beging. Den Fasti des Ovid zufolge, eine Schrift, welche die römischen Festtage behandelt, dienten diese Tage der Versöhnung mit den Verstorbenen, vornehmlich jenen aus der eigenen Familie. Während dieser Zeit durften beispielsweise keine Eheschließungen stattfinden oder Rauchopfer dargebracht werden. Andere Opfer in Form von Kränzen, Salz, Früchten oder Veilchenblüten waren indes durchaus erlaubt, um die Geister zu besänftigen, damit diese sich nicht in Rache übten, sich verwandelten und des Nachts heulend durch Straßen und Felder zogen. An die Parentalia schlossen sich die Feralia am 22. Februar an – ein Festtag, den man am ehesten mit dem christlichen Allerseelenfest vergleichen kann und das „in einem großen Liebesmahl auf den Gräbern [gipfelte und bei dem] alle Zwistigkeiten der lebenden Familienmitglieder [ebenfalls] symbolisch begraben [wurden]“.

Ein weiteres Totenfest, die Lemuria oder Lemuralia, beging man am 9., 11. und 13. Mai, weshalb dieser Monat im römischen Volksglauben auch nicht als Frühlings- oder Wonnemonat galt, sondern in Ableitung des Wortes maiores (die Ahnen, die Ältesten) als Unglücksmonat. Ovid leitete die Lemuria zudem etymologisch von „Remuria“ ab, eines Festes, das sich ursprünglich auf die Besänftigung der Seele des von seinem Bruder Romulus getöteten Remus bezogen haben soll. Um die Geister zu beschwichtigen, musste denn auch in den Häusern eine rituelle Geisteraustreibung vorgenommen werden. Dies wird ebenfalls von Ovid in den Fasti beschrieben: „Kurz vor Mitternacht erhebt sich der Hausherr, barfüßig und durch eine apotropäische Fingerhaltung vor dem Zugriff der Geister geschützt, und wirft nach dem rituellen Waschen der Hände neunmal schwarze Bohnen hinter sich, um ebenso oft eine religiöse Bannformel aufzusagen (haec ego mitto, his … redimo meque meosque fabis – ‚Dieses werfe ich von mir … mit diesen Bohnen kaufe ich mich und die Meinen frei‘). Danach folgen eine zweite rituelle Händewaschung und das Lärmen mit Metallgegenständen […] Zum Abschluss erfolgte die neunmalige Aufforderung an die Geister, das Haus zu verlassen.“ (zitiert bei Kremer, S. 28 f.) Beim Ritual war streng auf die Handlungsreihenfolge zu achten, da sonst zu befürchten war, dass der oder die Geister weiterhin ihr Unwesen trieben.

Im Reigen der jährlichen römischen Totenfeiern darf auch das Mundus patet nicht unerwähnt bleiben, das übersetzt so viel wie “die Welt steht offen” bedeutet, aber besser mit “die Erde steht offen” wiederzugeben ist. Angeblich geht es auf Romulus, den legendären Gründer der Stadt Rom zurück, der laut dem Schriftsteller Plutarch nach dem Abbild des Himmels eine Grube ausgehoben haben soll. Diese war den Geistern der Verstorbenen geweiht und wurde, bis auf drei Ausnahmen im Jahr (24. August, 5. Oktober, 8. November) mit einem Stein verschlossen gehalten. Laut dem Dichter Varro repräsentierte der mundus das Tor zur Unterwelt und trennte Diesseits und Jenseits symbolisch voneinander. Wurden beide Welten allerdings miteinander verbunden, galten für das Zusammentreffen von Toten und Lebenden bestimmte Richtlinien. Es durften, wie bei den Parentalia oder Lemuria, keine Hochzeiten stattfinden, beim Mundus patet zudem auch keine Schlachten ausgetragen werden. Im römischen Kalender handelte es sich bei diesen Tagen „um N-Tage, also Tagen, an denen wichtige Geschäfte ein nefas, ein No-Go, sind, da die Geister der Unterwelt umgehen und Unheil stiften“ (Kremer, S. 30). Ähnlichkeiten dazu findet man u.a. im keltischen Samhain-Fest, das am Vorabend des 1. November begangen wurde und an dessen Stelle heute das allseits bekannte Halloween getreten ist.

Es scheint uns also – trotz des Verweises auf antike Rituale und aller Versuche des modernen und postmodernen Europas, die Toten und damit den Tod räumlich und kulturell von uns fernzuhalten –  in der Tat ein wenig so zu gehen wie dem Zauberlehrling in Goethes Ballade: „die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“. Aber vielleicht wurde dazu bisher noch nicht das richtige Mittel entdeckt. Daher möchte ich zum Abschluss gewissermaßen eine poetisch-satirische und durch und durch Leipziger Alternative anbieten, natürlich verbunden mit der Hoffnung, dass sich niemand von uns in der kommenden Nacht gruseln oder von unheimlichen Wesen verfolgt fühlen möge.

Christian Fürchtegott Gellert

Das Gespenst

Ein Hauswirth, wie man mir erzählt,

Ward lange Zeit durch ein Gespenst gequält,

Er ließ, des Geists sich zu erwehren,

Sich heimlich das Verbannen lehren;

Doch kraftlos blieb der Zauberspruch.

Der Geist entsetzte sich vor keinen Charakteren,

Und gab, in einem weißen Tuch,

Ihm alle Nächte den Besuch.


Ein Dichter zog in dieses Haus.

Der Wirt, der bey der Nacht nicht gern allein gewesen,

Bat sich des Dichters Zuspruch aus,

Und ließ sich seine Verse lesen.

Der Dichter las ein frostig Trauerspiel,

Das, wo nicht seinem Wirt, doch ihm sehr wohl gefiel.


Der Geist, den nun der Wirth, doch nicht der Dichter sah,

Erschien, und hörte zu; es fing ihn an zu schauern;

Er konnt’ es länger nicht als einen Auftritt dauern;

Denn eh der andre kam, so war er nicht mehr da.


Der Wirth, von Hoffnung eingenommen,

Ließ gleich die andre Nacht den Dichter wieder kommen.

Der Dichter las; der Geist erschien,

Doch ohne lange zu verziehn.

Gut! Sprach der Wirth bey sich, dich will ich bald verjagen;

Kannst du die Verse nicht vertragen?


Die dritte Nacht blieb unser Wirth allein.

So bald es zwölfe schlug, ließ das Gespenst sich blicken.

Johann! fing drauf der Wirth gewaltig an zu schreyn,

Der Dichter, lauft geschwind! soll von der Güte seyn,

Und mir sein Trauerspiel auf eine Stunde schicken.

Der Geist erschrak, und winkte mit der Hand,

Der Diener sollte ja nicht gehen;

Und kurz, der weiße Geist verschwand,

und ließ sich niemals wieder sehen.


Ein jeder, der dies Wunder liest,

Zieh sich daraus die gute Lehre,

Dass kein Gedicht so elend ist,

Das nicht zu etwas nützlich wäre;

Und wenn sich ein Gespenst vor schlechten Versen scheut,

So kann uns dies zum großen Troste dienen:

Gesetzt, dass sie zu unsrer Zeit

Auch legionenweis erschienen,

So wird, um sich von allen zu befreyn,

An Versen doch kein Mangel seyn.“


Ein Beitrag von Dr. Constance Timm 


Literaturhinweise:

Aurelius Augustinus. Die Sorge für die Toten. Übertragen von Gabriel Schlachter, eingeleitet und erläutert von Rudolph Arbesmann. Augustinus-Verlag: Würzburg 1994.

Pausanias. Beschreibung Griechenlands Bd. 1. Übersetzt und herausgegeben von Ernst Meyer. Deutscher Taschenbuch Verlag: München 1972.

Petronius Arbiter. Satyrica. Übersetzt und herausgegeben von Karl-Wilhelm Weeber. Reclam: Stuttgart 2020.

Phlegon von Tralleis. Das Buch der Wunder. Antike Sensationsgeschichten. Hrsg. von Kai Brodersen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 2001.

Plinius. Epistulae. Sämtliche Briefe. Übersetzt und herausgegeben von Heribert Philips und Marion Giebel. 3. Aufl. Relcam: Stuttgart 2014.

Poetische Schriften von Christian Fürchtegott Gellert. Theil 1. Gedruckt und verlebt bey F.A.Schraembl, Wien 1792.

Rudolph Kremer: Geister, Hexen, Menschenfresser. Gruselgestalten im Alten Rom. Antike Welt. Zeitschrift für Archäologie und Kulturgeschichte, Sonderheft 11.21. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 2021.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V. 

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