Die „Femme fatale“
Die „Femme fatale“ ist die „verhängnisvolle Frau“, jener schillernde Frauentypus, der die Polarität von Lust und Leid zu vereinen vermag. Sie besticht durch ihre magisch-sinnliche Anziehungskraft, die einem jeden den Verstand rauben kann. Bei ihr wird man zum willenlosen Objekt, denn was oder wen sie begehrt, macht sie sich auch zu Eigen. Die Femme fatale jedoch bloß als „Sexsymbol“, „Machtweib“ oder skrupellose Nymphomanin zu sehen, wäre zu kurz gedacht. Es handelt sich bei diesem schaurig-schönen Typus vielmehr um eine stilisierte Verkörperung weiblicher Willensstärke, Selbstbestimmtheit und auch Überlegenheit. Sie ist die Wilde, die sich nicht bändigen lässt und die mit konventionellen Rollenmustern bricht. Ihr Auftritt als „sexy Vamp“ ist dabei ihre Maskerade, ihr Werkzeug, das Mittel zum Zweck. Eine abschließende Definition der Femme fatale lässt sich aber kaum geben, zu vielschichtig und variantenreich tritt sie in Erscheinung. Kurzum: Man kennt sie unter „vielen Namen“ und aus „unzähligen Geschichten“ (Hilmes: Die Femme fatale, S. 100) – und so trifft man auch in den Mythen der alten europäischen Kulturen auf die Verhängnisvolle.
Die klassischen Femme fatales
Im Kontext der europäischen Mythologien denkt man bei der „Femme fatale“ sicherlich gleich an die schönen, reizvollen und liebestollen Göttinnen aus der klassischen Antike. Dort begegnet man der griechischen Aphrodite, die Göttin der Liebe, die jedoch den Trojanischen Krieg in Kauf nimmt, um durch das Urteil des Paris zur schönsten Göttin gekürt zu werden. Die sagenhaften Sirenen, die mit ihrer Schönheit und ihrem verzückenden Gesang die Männer verführen und sie für immer in den Tiefen der Gewässer festhalten, besetzen ebenfalls die Rolle des wollüstigen Weibes. Auch die Zaubergöttin Circe zeigt sich als „Femme fatale“, wenn sie den faunesken Picus in einen Specht verwandelt, weil er sich ihrer Lust widersetzt hat. Nicht zu vergessen sind Venus, die als Salacia die Buhlgöttin verkörpert, und Diana, die Jagd-, Mond- und Schutzgöttin der Frauen, die später als Anführerin und Göttin der Hexen angesehen wurde – der fatalen Frauenschar schlechthin. In der klassischen Mythologie ist die „Femme fatale“ also keine Unbekannte. Aber wie steht es um diesen Frauentypus in der nordischen Mythologie?
Die nordischen Femme fatales
Freyja, der Vamp
Dass man auf der Suche nach den nordischen „Femme fatales“ bei der berühmtesten und berüchtigtsten Göttin Freyja beginnt, ist nur naheliegend, wird sie doch gerne als die nordische Aphrodite oder Venus angesehen. Den drei Göttinnen gemein ist ihre Funktion als Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin, als Göttin der Schönheit und der Erotik – und eben auch ihr Auftreten als „Femme fatale“. In der Lokasenna („Lokis Spottrede“), einer altnordischen Dichtung aus der Lieder-Edda (13. Jh.), wird Freyjas unheilvolle Wollust recht eindeutig durch Loki zur Sprache gebracht: „von den Asen und Alben, die hier drinnen sind / ist jeder dein Geliebter gewesen. / […] Du bist eine Hexe / und stark mit Unheil vermischt, / seit dich bei deinem Bruder die milden Ratenden überraschten, und da musstest du, Freyja, furzen“ (Ls 30, 32). Die Göttin der Schönheit wird hier als „Femme fatale“ diffamiert, als eine, die sich frei nach ihrem Willen jeden, sogar ihren Bruder, zum Geliebten nimmt und die die lasterhaften Attribute des Hexenhaften und Unheilvollen trägt. Auch im eddischen Hyndlulióð („Hyndlalied“) beschimpft die Riesin Hyndla die Liebensgöttin als „Beischlaffreundin“: „mehrere schlüpften dir unter die Schürze“ (Hdl 47).
Die verhängnisvolle Dimension ihres Verlangens wird im Sörla þáttr („Erzählung von Sörli“, 14. Jh.) deutlich: Das Objekt ihrer Begierde ist jedoch kein Mann, sondern Schmuck – ganz nach dem Motto „diamonds are a girl‘s best friend“. Die ersten beiden Kapitel der kurzen Saga erzählen die Ursprungsgeschichte von Freyjas magischem Halsband, dem „Brisingamen“: Nach der Erzählung muss Freyja mit jedem der vier Zwerge, durch die das Schmuckstück geschmiedet wurde, eine Nacht verbringen – dies war der Preis für ihr Collier. Ihr Verlangen nach dem Brisingamen war so groß, dass die Wanengöttin der Forderung nachkam. Die fatalen Konsequenzen dieses Schmuckerwerbs spielen sich jedoch auf einer ganz anderen Ebene ab: Odin war über den Zwergenbeischlaf so erzürnt, dass er Freyja das Halsband abnehmen ließ und sie vor eine Wahl stellte: Will Freyja das Halsband tatsächlich wiederhaben, muss die Liebe bringende Göttin einen ewigen Krieg unter zwei Menschenkönigen entfachen; der Frieden bleibt hingegen bewahrt, wenn sie auf ihr Schmuckstück verzichtet. Freyja nahm den Krieg – wie Aphrodite – in Kauf. Hat eine „Femme fatale“ also erst einmal ein Objekt der Begierde gefunden, so ist sie zu vielem bereit, um es an sich zu binden.
Die Polarität, die für die „Femme fatale“ so typisch ist, wird durch Facetten der nordischen „Frau“ bzw. „Herrin“ – nichts weiter heißt der altnordische Name „Freyja“ wörtlich – verkörpert. Und so verwundert es kaum, dass die in der Vǫluspá („Weissagung der Seherin“) erwähnte dreimalgeborene, dreimalverbrannte und dennoch lebende Wanin Gullveig, die Göttin des Goldrauschs, der Lust, Zauberei und Zwietracht, als Freyja interpretiert wird (vgl. Vsp 21, 22).
Die goldbesessene Frigg
Die von Freyja bekannte Lust nach Schmuckstücken weiß Saxo Grammaticus auch der Asengöttin und Odinsgattin Frigg („Geliebte“) zu attestieren. In der Gesta Danorum („Die Taten der Dänen“, um 1200) heißt es, dass sie die goldene Statue Odins, die Könige ihm zu Ehren schmieden ließen, durch einen Diener zerstören ließ; der Beischlaf fand auch hier als eine Gegenleistung statt, um sich Schmuck aus dem Gold des Odinbildnisses fertigen zu lassen. Für Odin ist das Handeln seiner fatalen Frau von solch großer Schmach, dass er das Land verlässt und beschließt, erst nach ihrem Tod zurückzukehren (vgl. Gesta Dan I, 7).
Huldra, die Wilde aus dem Wald
Aber nicht nur die Göttergeschichten, sondern auch die niedere Mythologie und der nordische Volksglaube kennen die „Femme fatale“: Die Huldra ist ein weiblicher und elfenhafter Naturgeist. Den Köhlern galt sie als Schutzgeist. Bekannt ist die Huldra vor allem für ihr betörendes Aussehen und ihre Vorliebe für Menschenmänner, vor denen sie ihren tierischen Schweif, der ihre Rückseite schmückt, zunächst recht gern versteckt. Mit ihrer bezaubernden Erscheinung und ihren betörenden Gesängen zieht sie die Herren in den Bann: Wer ihre Liebesbedürfnisse dann zu stillen vermag, darf in die Welt der Menschen zurück, wer nicht, wird vom Tode heimgesucht. Auch heißt es, dass, wenn ein Mann eiserne Gegenstände über ihren Kopf wirft, er die schönschweifige Waldhüterin heiraten muss; ist er ihr ein guter Gemahl, schenkt sie ihm Kinder und Wohlstand, kommt er ihren Ansprüchen nicht nach, wird sie zur hässlichen und verhängnisvollen Frau. Die Polarität der reizvollen Naturdämonin zeigt sich eindrücklich auch in der Vorstellung, dass die Huldra von vorn schön, von hinten jedoch hässlich sei. Huldra ist auch eine derjenigen, die die in den Rauhnächten umherziehende „Odensjakt“, der nordischen Variante der Wilden Jagd, anführt, aber auch von ihr getrieben wird – die Jägerin kann eben auch zur Gejagten werden (vgl. Meyer: Germanische Mythologie, S. 117ff.).
Die reitende Nachtmahr
Die nordische Welt der Sagen und Folklore kennt zahlreiche Geschichten über die Mahr, einen weiblichen wie männlichen Druckgeist, der seine Objekte lustvoll wie quälend um den Schlaf bringt, indem sie durch die Nacht hindurch geritten werden. Eine frühe Überlieferung zu dieser Nachtdämonin findet sich in Snorris Ynglinga saga aus dem 13. Jh.: Dort wird eine dämonische, hexenhafte und zauberkundige Mahr namens Huld beauftragt, den König Vanlandi mittels Zauber zu seiner Frau zurückzubringen, die er seit zehn Jahren zurückgelassen hat, oder ihn anderenfalls zu töten. Der Zauber der Mahr zeigt seine Wirkung und Vanlandi will umkehren, wird jedoch von seinen Vertrauten abgehalten, die Rückkehr ins alte Land anzutreten. In der folgenden Nacht erscheint ihm die Mahr, sie drückt und reitet ihn, bis er den Tod findet (vgl. Yng 16). In volkstümlichen Erzählungen wird der Mahr auch die Fähigkeit zur Gestaltwandlung zugeschrieben und ihr wird nachgesagt, Krankheit und Schaden zu bringen. Häufig ist sie aber auch einfach die verführerisch-erotische Dämonin, die ihren Auserwählten lustvoll durch die Nacht treibt (vgl. Meyer: Germanische Mythologie, S. 76ff.), was vielleicht nicht sämtlichen Moralvorstellungen entspricht, wohl aber auch nicht zum Tode führt und den Betroffen selbst womöglich am wenigsten stört.
Als Freyja-Thor den Riesen bezirzte
Kommen wir noch einmal auf die Götterwelt des Nordens zurück: Bemerkenswert ist nämlich, dass die „Femme fatale“ innerhalb der nordischen Mythologie nicht an das Geschlecht gebunden ist, nicht einmal an die Kategorie des Anthropomorphen. Verfolgt man etwa die Geschichte um Freyjas Brisingamen weiter, stößt man in der Þrymskviða („Thrymrlied“) auf eine untypische Femme-fatale-Situation: Der Riese Thrymr hat Thors magischen Hammer Mjöllnir gestohlen, um die betörende Freyja als Gegenwert einzufordern und sie zu seiner Frau zu machen. „Mich müsstest du kennen als Mannstollste, / wenn ich mit dir fahr nach Riesenheim“ (Thrk 13), entgegnet die schöne Göttin Loki, als sie von der Forderung erfährt. Da sich Freyja der Liebschaft mit dem Riesen verweigert, bleibt Thor nichts anderes übrig, als sich selbst seinen Hammer wiederzuerobern. Dies ist der Ausgangspunkt für eine Travestie-Episode, in der sich der Donnergott selbst zur verführerischen Liebesgöttin transformiert: Er verhüllt sich mit ihren Kleidern, legt das magische Brisingamen an und wird zur Freyja; Loki tritt als Brautjungfer auf. Der Riese ist von diesem Abbild der schönen Freyja so bezirzt, dass er „Freyja-Thor“ den Hammer selbst überreicht und sich nun als ihr Gemahl wähnt. Als Thrymr der Travestie auf die Spur kommt, ist dieser „not amused“; Thor hingegen hat seinen Hammer wieder – und Freyja ihre Ruhe. In dieser mythologischen Episode wird der Donnergott äußerlich wie habituell zur „Femme fatale“, das ursprüngliche Geschlecht spielt also eine untergeordnete Rolle. Und scheinbar ist die Anziehungskraft der Liebesgöttin so enorm, dass selbst ein Abbild von ihr ausreicht, um die Sinne zu vernebeln.
Loki als wilde Stute
Aber nicht nur Thor, sondern auch Loki tritt in die Fußstapfen der verführerischen „Femme fatale“ – jedoch in animalischer Form: Die Gylfaginning („Gylfis Täuschung“) der Snorra-Edda (13. Jh.) berichtet, dass ein Baumeister mithilfe seines Hengstes Svadilfari eine neue Mauer um die Götterwelt Asgard bauen möchte. Als Lohn forderte er von den Göttern die Sonne, den Mond und Freyja. Die Götter willigen ein, schmieden aber Pläne, um der Rechnung zu entgehen. Loki nimmt dabei die zentrale Rolle ein und wird zur animalischen „Femme fatale“: Loki, der Trickster unter den nordischen Göttern, verwandelt sich nämlich in eine reizvolle Stute und verführt den Hengst Svadilfari. Vor lauter Liebeslust kommt der Hengst seiner Arbeit nicht nach, die Mauer wird nicht zur vereinbarten Zeit fertig, und Sonne, Mond und Freyja dürfen bei den Asen blieben. Aus der listigen, animalischen Liebschaft geht schließlich der „rasch gleitende“ Sleipnir hervor, das berüchtigte achtbeinige Pferd Odins, mit dem er über Land, Wasser und durch die Lüfte reitet und das von Loki selbst als Luststute geboren wurde (vgl. Gylf 42). Nicht das Geschlecht und auch nicht die Gestalt sind hier für den Auftritt als „Femme fatale“ kennzeichnend, sondern allein das Prinzip des Listig-Lustvollen.
Liebesgöttin, Naturgeist, Nachtdämonin und Gestaltenwandler
Die „Femme fatale“ ist gewiss nicht zu den Zentralfiguren der nordischen Mythologie zu zählen. Nichtsdestoweniger lassen sich in zahlreichen Quellen diverse mythische Wesen finden, die Aspekte dieser ambivalenten Frauenfigur aufzeigen: Liebesgöttinnen, Naturgeister, Nachtdämoninnen und sogar maskierte oder tierverwandelte Götter werden hier zur „Femme fatale“. Und so gilt auch für die nordische Mythologie Hilmes‘ Aussage, dass man die verhängnisvolle Frau unter „vielen Namen“ und aus „unzähligen Geschichten“ kennt.
Ein Beitrag von Nicole Hausmann
Literaturhinweise:
Die Edda des Snorri Sturluson. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Arnulf Krause. Stuttgart 1997.
Die Götterlieder der Älteren Edda. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Arnulf Krause. Stuttgart 2006.
Eddica Minora. Dichtungen eddischer Art aus den Fornaldarsögur und anderen Prosawerken. Zusammengestellt und eingeleitet von Andreas Heusler und Wilhelm Ranisch. Dortmund 1903.
Hilmes, Carola: Die Femme Fatale: Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart 1990.
Meyer, Elrad Hugo: Germanische Mythologie. Berlin 1891.
Saxo Grammaticus: Gesta Danorum. Übersetzt von Paul Herrmann. Leipzig 1901.
Snorri Sturluson: Ynglinga saga. In: Der.: Heimskringla. Übersetzt von Felix Niedner. Darmstadt 1965.
Stories and Ballads of the Far Past. Übersetzt und herausgegeben von Nora Kershaw Chadwick. Cambridge 1921.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Interessanter Artikel. Generell das Thema nordische Mythologie ist sehr spannend