Der jüdische Kaufmann und bibliophile Intellektuelle Salman Schocken (1877 – 1959) gehörte in der Zeit der Weimarer Republik zu den bekanntesten Persönlichkeiten im öffentlichen Leben Deutschlands. Von seinem Aufstieg vom Handelsvertreter zum Leiter eines riesigen Konzerns, seinem Werdegang als Verfechter des Zionismus, dem besonderen Verhältnis zu Sprache und Literatur, der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland und seinem Leben im Exil nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht sein Lebensweg für ein bedeutendes und paradigmatisches Stück deutsch-jüdischer Zeitgeschichte. Soweit Salman Schocken im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland heute aber noch präsent ist, kennt man ihn lediglich als den erfolgreichen und innovativen Geschäftsmann, der nicht zuletzt durch seine modernen Kaufhausbauten (zum weitgehend erhaltenen Chemnitzer Haus existiert inzwischen umfangreiche Literatur) in Erinnerung geblieben ist.
Schocken ist jedoch nicht allein als erfolgreicher Unternehmer eine wichtige Gestalt der Zeitgeschichte, sondern er ist als Verleger und Sammler jüdischer und deutscher Literatur für die Kultur des 20. Jahrhunderts von Bedeutung. Sein kommerzieller Erfolg als Leiter eines der größten Kaufhaus-Konzerne Deutschlands ermöglichte ihm ein kulturelles Engagement, das seinesgleichen sucht. Es ist in einem kurzen Beitrag wie diesem nicht möglich, der vielschichtigen Persönlichkeit Schockens und seiner kulturellen Aktivitäten gerecht zu werden. Ich möchte deshalb hier vor allem auf seine bibliophile Neigung und die daraus erwachsene Büchersammlung aufmerksam machen. Seine Sammlung darf sicherlich als eine der bedeutendsten Privatbibliotheken des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Im Bestand befanden sich Originalmanuskripte verschiedener Epochen, frühmittelalterliche Drucke und zahlreiche Textfragmente aus dem 12. Jahrhundert, die aus einem Fund in einer Kairoer Synagoge stammten. All dies neben den bedeutenden Werken moderner Autoren, wertvollen Autografen (darunter eine 46seitige Abhandlung von Albert Einstein, in der dieser seine Relativitätstheorie beschreibt) und Erstausgaben sowie dem Nachlass von Novalis und dem von Theodor Fontane. Die wichtigsten Werke von Goethe und Schiller, von Schopenhauer, Nietzsche, Meister Eckhart, Spinoza, Freud, Heine und Karl Kraus gehörten zu dieser gewaltigen Sammlung, aus der sich – nach seinen eigenen Worten – Salman Schockens Biografie „ablesen“ lässt. (Gerade Goethes Werk war für ihn von immenser Bedeutung. Für Thomas Mann soll Schocken einer der versiertesten Goethe-Kenner gewesen sein.) Zum Bestand der Sammlung gehörten neben der Originalhandschrift des „Faust II“ auch Notizen von Karl Kraus zu „Die Letzten Tage der Menschheit“ sowie Heinrich Heines letztes Testament, das Schocken auf seinen Reisen immer mit sich geführt haben soll. Dass Schockens weitgefächerte Interessen aber auch die soziale Frage und die Ideen des Sozialismus einschloss, belegt eine einzigartige Kollektion, die ebenfalls zum Bestand der Bibliothek gehörte: dreiundzwanzig unterschiedliche Ausgaben des „Manifest der Kommunistischen Partei“ von Karl Marx und Friedrich Engels.
Als Autodidakt hatte sich Schocken bereits in seiner Jugend eine umfangreiche Bildung erworben und frühzeitig begonnen, vor allem – aber keineswegs ausschließlich – jüdische Literatur zu sammeln. Die Anfänge seiner Sammlertätigkeit sind während seiner Jugendjahre als reisender Handelsvertreter zu suchen. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht über entsprechende Mittel und Möglichkeiten verfügt, um sich eine eigene Bibliothek aufzubauen, gilt seine Leidenschaft der Literatur und dem Sammeln von Büchern. Bücher waren ihm in diesen Jahren wohl zeitweise wichtiger als ausreichend Nahrung. Besonders die erschwinglichen Ausgaben der Insel-Bücherei soll er bewundert haben. Diese Bewunderung sollte sich dann später auch in seinem eigenen Verlag niederschlagen, denn die Insel-Bücherei gilt als Inspiration und Vorlage der „Schocken-Bibliothek“, deren Gestaltung sich maßgeblich an dieser orientierte. Mit dem kommerziellen Erfolg, der sich ab 1906 zunehmend einstellte, wurde es Schocken auch möglich, mit Erwerbungen in größerem Stil seine entstehende Bibliothek aufzubauen und stetig zu erweitern. Beraten wurde er dabei u.a. von Moses Marx, dessen über 2.500 Bände zählende Hebraica- und Judaica-Sammlung Schocken 1924 erwarb.
Neben der privaten Sammlung führte sein literarisches Interesse 1929 unter anderem auch zur Gründung eines Instituts zur Erforschung der hebräischen Poesie. 1931 folgte sein Verlagshaus, das seinen Sitz anfänglich in Berlin hatte und fünf Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1938 geschlossen wurde). Der Schocken-Verlag publizierte in dieser kurzen Zeit seines Bestehens mehr als zweihundert Titel, viele davon in bibliophiler Ausgabe, und hielt u.a. auch die Weltrechte am Werk von Franz Kafka. Vor diesem Hintergrund mag Schocken seine geschäftliche Stellung durchaus als Last empfunden haben, denn sie erlaubte ihm wohl nicht, die kaufmännische Tätigkeit zu beenden und sich ausschließlich seiner Leidenschaft – den Büchern, der Literatur, der Philosophie und jüdischer Geschichte – zu widmen. Bereits seit den zwanziger Jahren förderte Salman Schocken aber Dichter und Schriftsteller, darunter Martin Buber und insbesondere den späteren Nobelpreisträger Samuel Agnon. (Bemerkenswert scheint mir in diesem Zusammenhang, dass Agnon in seinem Roman „Herrn Lublins Laden“, in dessen Hauptfigur – dem Leipziger Kaufmann Herr Lublin – Salman Schocken erkennbar ist, diesen lediglich als Geschäftsmann darstellt. Den Bibliophilen, den belesenen Sammler und Kenner literarischer Welten, sucht man hier vergeblich.)
Im Jahr 1934 verließ Schocken unter dem Druck der Ereignisse mit seiner Familie Deutschland, er wanderte zunächst nach Palästina aus und gründete in Tel Aviv einen neuen Verlag. Sein Kaufhauskonzern wurde von den Nationalsozialisten einige Zeit später beschlagnahmt und der Berliner Verlag 1938 liquidiert. Glücklicherweise gelang es Schocken aber noch rechtzeitig, seine Bibliothek zu retten. In den Jahren 1934 bis 1937 gelangte der Bestand seiner Sammlungen auf dem Seeweg von Hamburg in das britische Mandatsgebiet Palästina. So erreichte im Dezember 1935 eine Ladung von 164 stabilen Holzkisten den Hafen von Haifa. Darin befanden sich laut Transportpapieren „alte und gebrauchte Bücher“ im Wert von 250.000 Reichsmark. Die Ausfuhr von Büchern aus Deutschland war zwar nicht generell verboten, doch wäre diese Aktion wahrscheinlich nicht möglich gewesen ohne kluge und umsichtige Vorausplanung und einem Netzwerk von Beziehungen und Absprachen mit zuständigen Behörden. Der Ort der Bestimmung der Sammlung war die vom Architekten Erich Mendelssohn im Auftrag Schockens entworfene und neu erbaute Bibliothek im West-Jerusalemer Stadtteil Rechavia. Ein vom Bauhausstil inspiriertes und vom Geist des Bauhauses durchdrungenes Gebäude, von der schlichten, klar gegliederten Fassade bis zu den Details im Inneren wie den stählernen Handläufen und Türklinken, den verglasten Treppenhäusern und der Möblierung. Hier sollten die mittlerweile 60.000 Exemplare hebräischer sowie etwa 15.000 Exemplare deutscher Literatur, Manuskripte, Handschriften, Inkunabeln und Drucke eine sichere Heimat finden.
1937 wurde der Bestand noch um die Sammlung Wolfskehl erweitert, die Schocken aufgekauft hatte und Wolfskehl damit den nötigen finanziellen Spielraum verschaffte, um Deutschland verlassen und sich in der Emigration eine neue Existenz sichern zu können. Karl Wolfskehl (1869-1948) gilt als bibliophiler Sammler von großer Bedeutung: Seine Sammlung umfasste u.a. auch Werke zur Geschichte der Germanistik und Zeugnisse poetischer Sprachentwicklung.
Die Jerusalemer Schocken-Bibliothek mit ihren umfänglichen Sammlungen wurde in der Folge für die deutschsprachigen Emigranten im Mandatsgebiet zu einem wichtigen Ort des kulturellen Austauschs, zu einer Art Heimstätte. Hier fanden Lesungen, literarische Begegnungen und Diskussionen, akademische Gesprächsrunden statt. Als ein Höhepunkt dieser Veranstaltungen gilt eine Lesung, die Salman Schocken 1939 persönlich hielt. Das Thema lautete: „Der deutsche Romantiker Jean Paul“.
Es entsprach Schockens ausdrücklichem Wunsch, dass seine Bibliothek öffentlich zugänglich sein sollte. Else Lasker-Schüler, die von Schocken finanziell unterstützt wurde, war hier ebenso zu Gast wie Gershom Scholem oder Hugo Bergmann. Auch in Lasker-Schülers Exilbriefen an Salman Schocken wird das besondere Verhältnis der deutsch-jüdischen Emigranten zu ihrem Förderer Schocken beispielhaft deutlich.
1961 vertraute die Familie Schocken die Bibliothek dem „Jewish Theological Seminary“ an und übergab den Bestand an Inkunabeln der israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem. In den 1970er-Jahren wurde schließlich ein Teil der Schocken-Sammlungen aufgelöst und auf Versteigerungen angeboten. Es waren dies vor allem die Bestände der Deutschen Literatur vom Barock bis zur Moderne, die den Hauptteil des ersten Auktionskataloges von 1975 ausmachten. Die umfangreicheren Sammlungen der ‚Judaica‘ und ‚Hebraica‘ stehen der Öffentlichkeit jedoch weiterhin in der Schocken Library in Jerusalem zur Verfügung, die unter dem Titel “The Schocken Institute for Jewish Research“ als Forschungsstätte dient und nach Anmeldung auch öffentlich zugänglich ist. Nach wie vor ist sie damit auch heute ein Ort der wissenschaftlichen Arbeit. Jedes Jahr kommen Interessierte hierher – insbesondere auch aus deutschsprachigen Ländern – um Manuskripte und Dokumente des Schocken-Archivs einzusehen und auszuwerten.
Eine Bibliothek definiert sich nicht allein durch die Menge der Bücher, denen sie Heimstätte ist, nicht allein durch Auswahl und Ordnung der dort versammelten Werke, sondern auch durch die daraus erwachsene Bedeutung in historischer sowie in bildungsgeschichtlicher Hinsicht. Die Schocken-Bibliothek – ihre Entstehung, die ursprüngliche inhaltliche Zusammensetzung und insbesondere ihre Geschichte ist im weitesten Sinne auch ein Erinnerungsort deutsch-jüdischer Zeitgeschichte. In der Schocken Library in Jerusalem wird eine von Salman Schockens Karteikarten mit dem bemerkenswerten handschriftlichen Vermerk „Faust + Moses“ aufbewahrt. Als ich sie sah, musste ich daran denken, dass Salman Schocken geäußert haben soll, seine Bibliothek sei seine wahre Autobiografie. Er starb 1959 in einem Schweizer Hotelzimmer. Als man ihn fand, hielt er – so die Legende, der man nur zu gern glauben möchte – zwei Bücher in seinen Händen fest umklammert: Goethes Faust II und Martin Bubers Geschichten des Rabbi Nachman – vielleicht ein letzter Verweis seinerseits auf die gescheiterte deutsch-jüdische „Symbiose“.
Ein Beitrag von Jörg Jacob
Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Jörg Jacob lebt und arbeitet als freier Autor in Leipzig, zuletzt erschien Godot gießt nach/Herr Tod will leben, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019, sowie ein aktueller Romanauszug in Doppelte Lebensführung, Poetenladen, Leipzig 2020.
Literaturhinweise:
Antony David, „The Patron, A Life of Salman Schocken, 1877-1959“, New York (Metropolitan Books) 2003.
Konsum und Gestalt, Borrmann, Mölders, Wolfram (Hrsg.)
Gershom Scholem: „Von Berlin nach Jerusalem (Bibliothek Suhrkamp).
Schmuel Josef Agnon, „Herrn Lublins Laden“
Konrad Fuchs „Ein Konzern aus Sachsen“, DVA
Else Lasker-Schüler, „Exilbriefe an Salman Schocken“.
Stefanie Mahrer, „Salman Schocken – Topographien eines Lebens“.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.