Der Frankfurter Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno verstand bekanntlich Kultur als Verblendungszusammenhang[i]. Die Ethnologie als die Kunde von fremden Kulturen hat sich gegen dieses pejorative Verständnis menschlicher Kollektiväußerungen gerne gesträubt, auch wenn ihre Tresore von Nachrichten aus aller Welt schon früh überquollen mit Belegen, wie die Menschen, verteilt in Raum und Zeit, sich offensichtlich immer gegenseitig etwas vormachten. Dem Bann ihrer eigenen Produktion erlagen dann zuletzt auch die fremden Betrachter und Chronisten. Sträubten sich Ethnographen aber gegen diese Vereinnahmung durch den fremden Zauber, gelangten sie schnell zu hochnäsigen, „eurozentristischen“ oder lange genug rassistischen Aburteilungen.
Im fein oder grob gesponnenen Netz gegenseitiger Täuschungsakte spielt die Magie eine zentrale Rolle. Der im letzten Jahr verstorbene Ethnologe und Kulturphilosoph Klaus E. Müller hat die Magie das „verborgene Grundmuster“ menschlichen Denkens und Handelns genannt[ii]. Darin unterschieden sich archaische oder traditionale Kulturen nicht von der modernen Zivilisation, die „magisches Denken“ gerne den überwundenen Entwicklungsstufen von homo sapiens zuordnet. Spätestens seit Edward Bernays „Propaganda“ aus dem Jahre 1928[iii] liegen die verfeinerten Beeinflussungs- und Manipulationstechniken der heutigen Massengesellschaft offen. „Verführung ist die wahre Gewalt“, schrieb schon Gotthold Ephraim Lessing 1772 in „Emilia Galotti“ – das Zeitalter der Aufklärung brachte mit der Befreiung von überkommenen Zwängen bekanntlich neue und viel raffiniertere Formen der Menschenführung, die mittlerweile eine Zukunft aus technisch regulierter Totalprogrammierung befürchten lässt.
In der biblischen Tradition steht das Bild vom Guten Hirten im Zentrum, der für seine ihm folgenden Schafe bis zur Selbstaufopferung sorgt. Gefolgschaft wird gegen Sicherheit getauscht; diese ungleiche Relation zieht sich durch alle menschlichen Kollektive – ob tribal, autoritär oder demokratisch verfasst – , wobei ihre asymmetrische Grundkonstruktion in der Regel verschleiert bleibt. Gerade das Ritual, ohne das keine Kultur ihren Bestand erhalten kann, dient der Verschleierung von Abhängigkeiten und Bevormundungen. Sie wird z.B. durch Wiederholung erreicht, die – Kierkegaard hat das herausgearbeitet[iv] – den Menschen mehr noch als Hoffnung oder Erinnerung einfach „glücklich“ macht. „Das Ritual erhält uns am Leben“, erfährt der Ethnograph nach seinem bohrenden Fragen um die Bedeutung des ebenso unverständlichen wie symbolgeschwängerten Treibens. Die Ritualsprache bleibt kryptisch. Trotz des manchmal ohrenbetäubenden Lärms wirkt das Ritual vor allem schweigend, wie ein Götterbild.
Wer aber sagt, was die versteinerte Gottheit meint? Der Priester mit seinem Pathos. In den Theaterwissenschaften weiß man, wer Pathos einsetzt, lügt[v]. Der Priestertrug ist nur Umstürzlern offenbar[vi], oft solchen, die neue magische Formeln ausprobieren wollen und dabei die altbewährte Asymmetrie reproduzieren. Ohne Charisma, also magische Kraft der Autorität, gelingt in diesem Feld nichts. Hirten ohne Wunderkraft suchen Gefolgschaft vergeblich oder werden verlacht. Alle Religionsstifter waren Wundertäter[vii], auch ihre säkularen Kopisten verfügen über solche Gaben[viii], die noch posthum wirken, weshalb sie einbalsamiert oder bewacht werden müssen. Keine Gesellschaft ist vom Bann ihrer Umhüllung befreit, schon die Sprache steckt voller Masken und Magie, die Kleidertracht ist, wie der Bremer Ethnologe Heinrich Schurtz schon 1891 aufzeigen konnte[ix], ein Gewebe von abwehrenden und anziehenden Fäden, und mit allen anderen „Sinndomänen“ oder Geltungsbereichen zusammen ergeben sie ein „magisches Universum“ (Klaus E. Müller), das wie eine umzäunte, dafür fette Weide für Sicherheit und Selbstverständlichkeit bürgt.
„Das Kollektiv ist die Chance des Einzelnen zu handeln“, wird der Soziologe Max Weber gern zitiert. Die meisten Kollektivisten halten sich an die Gepflogenheiten, weil sie im Banne des Glaubens stehen und die Kritik der Nächsten fürchten. Wird aber der Konsens brüchig, ist das die Stunde der Interpreten, der Sterndeuter und Propheten, auch der Teufelsbündler – heute vor allem der Wissenschaftler und der moralischen Umdeuter der cancel culture. Aber auch diese haben die Grenzen des Wachstums und der Begreiflichkeit zu beachten und müssen vor allem die Häretiker und Querdenker in ihren Reihen bekämpfen. An den leicht lenkbaren Einschaltquoten und der Zitierhäufigkeit sehen sie, dass sie noch auf dem Weg von Hirt und Herde sind, dass ihrem Vorsagen die Nachsager willig folgen und ihre impressive Gewalt noch die richtige Wirkung zeigt.
Politiker werden unterschieden in solche, die die Nation spalten, und solche, die sie einen. Die Nation selbst ist aber eine mythische Pflanze, die fortwährend Nachgießen verlangt. Die Geschichte zeigt, dass der Erfolg der Kollektive wesentlich von der Intensität ihres immer nachbesserungswürdigen Glaubens abhängt. Die Überzeugungskraft des eigenen Blendwerks wird dann im Erfolgsfall anderen übergestülpt und diese geben es ihrerseits weiter. So haben sich Stifterreligionen über große Teile des Erdballs verbreitet, das magische Universum eines Träumers und seiner davon Geblendeten wird dann wirklich universal oder – heute – global. Das Evangelium als welterlösende Botschaft ist in den Wohlstandsländern durch den demokratischen Wertekonsens mit seinem inhärenten Fortschrittsglauben überwölbt worden, der längst mit noch raffinierterer magischer Überredungskraft medial verbreitet wird. Zu den Apostelbriefen und der Sonntagsschule sind Ganztagsschulen, Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen und „Soziale Medien“ als magischer Klebstoff getreten.
Glaube, Ideologie oder Kollektivkonsens sind phantastische Sozialhüllen, die – nach Niklas Luhmann[x] – Komplexität reduzieren und damit Handlungen freisetzen, die ihrerseits aber wieder magischen Mustern folgen. Der Pilger steigt in die trüben Fluten des Ganges, um sich reinzuwaschen. Fromme Heiligenverehrer küssen in Les Saintes Maries de la Mer die Schwarze Sarah auf den Mund, wie Tausende vor ihnen und nach ihnen. Die Verzückung überstrahlt jede Vernunft – das war auch bei der Blendung des Apostels Paulus vor Damaskus so, auch wenn er danach an die Stelle des „redens“ das „sagen“ setzen wollte[xi].
Wie Martin Buber und Franz Rosenzweig mit ihrer expressionistischen Neuübersetzung der Bibel[xii] nachweisen wollten, leben Heilige Schriften weniger von der Semantik als von der Melodie ihrer Botschaft. Priester, die ihren Beruf des Blendens richtig verstanden haben, singen oder rhythmisieren ihre Wahrheiten vor den zuhörenden Gemeinden. Damit bekommt das „Wort“ wieder den Wert des Werks, des Kunstwerks, das vor allem im Tönen schweigend wirkt. Auch die lebhaftesten Explikatoren, Schriftausleger, Museumsführer und Kunstkommentatoren müssen zu dieser Ebene zurückkehren, wo allein die Aura[xiii] waltet und das selbstredend wortlos, auch wenn Gehorsame sorgfältig auf ihr Gehör achten. Auf das Wort folgt die Wirkung, ob Fluch, Segen oder beides, wie ein Bannstrahl, wenn das Wort magisch aufgeladen ist und die soziale Aufstellung aus Führer und Geführten, aus Lehrer und Belehrten, aus Sprechern und Besprochenen, aus Vormündern und Mündeln, aus Darstellern und Akklamateuren besteht. Diese Asymmetrie von Blender und Geblendetem ist die Voraussetzung jeglicher Zauberhandlung , jedes Rituals, wie auch jeder kulturellen Aktivität.
Dichter verdichten oder fügen zusammen, Denker zergliedern. Johann Gottfried Herder hat erstere mit Prometheus, letztere mit Epimetheus verglichen[xiv]. Zergliedern ist auch entblättern und auflösen, bevor wieder ein Genius aus den Fragmenten ein neues Trugbild schafft. Solve et coagula – löse und binde -, das war der Arbeitsrhythmus der Alchimisten und vorwissenschaftlichen Zauberer, die die Massen beeindruckten und die Mächtigen verunsicherten, bis diese die Laborergebnisse selbst auszuwerten gelernt hatten und die raffinierten Methoden allgemeine Akzeptanz und gesellschaftlichen Nutzen erfahren konnten. Heute erscheint alles programmiert und digital kontrolliert; das einst vielgestaltige Blendwerk ist noch vor Einführung des chinesischen Punkte-Systems einheitlich geworden und hat sich perfektioniert, so dass das magische Universum wie ein „stählernes Gehäuse“ (Max Weber) erscheint, aus dem nur noch Todessüchtige entkommen.
Mundus vult decipi – die Welt will betrogen sein – galt in der Fassadenkultur des alten Rom als Rechtfertigung von Sinn und Wahn. Der Kulturphilosoph Dietmar Kamper hat in seinem tiefgründigen Essay „Die schwarze Venus“[xv] die Doppelwahrheit beschrieben, dass der Schein nicht nur trügt, sondern auch trägt. Unbeachtet der eben gestreiften Endzeitangst vor der terra linquenda darf der Konnex aus trügen und tragen für die gesamte Kulturgeschichte geltend gemacht werden, von den im Fackellicht auf den Höhlenfels aufgetragenen Tierbildern bis zur technisch hyperaufwändigen Vision einer Marsbesiedelung. Beide Kreationen faszinieren und blenden, sichtbar für das Auge, in den Mythen und Verheißungen hörbar für das Ohr. Die Trugbilder und Technophantasien pflegen sich aufzulösen wie eine fata morgana, die man bei näherem Hingehen schon verloren hat. Doch sind Zauber und Entzauberung auch etwas wie mythische Zwillinge: Sie bekämpfen sich unermüdlich, weil sie sich nicht trennen können.
Die Ambivalenz der Magie, so könnte hier der Schlusssatz lauten, ist keine Mischung, sondern ein Pendel, das sich aber nicht zwischen gleichen Polen bewegt, sondern zwischen höchst ungleichen, so wie wir die Asymmetrie zwischen Sprecher und Zuhörer mit der zwischen Hammer und Amboß vergleichen können, die sich trotz aller Herr-Knecht-Dialektik (Hegel) nicht einfach umkehren lässt. Das Schwanken zwischen den Extremen folgt aber immerhin dem kosmischen Rhythmus aller Ungleichheiten wie Ein- und Ausatmen, als Wechsel von Verklärung und Aufklärung, von Einschluss und Ausschluss, von Licht und Dunkel, Tag und Nacht, Leben und Tod. Das bringt Aura mit Aurora zusammen, der Morgenröte, ein Himmelstrug, der das Geheimnis des Tages noch in sich verbirgt, bevor es sich selbst entlarvt und schließlich ins Ungestaltete (Novalis) oder ins „Offene“ (Hölderlin) der Nacht zerfließt. „Das Nichts“, sagt Jakob Böhme “sehnt sich nach dem etwas“[xvi] – wie wohl auch umgekehrt.
Ein Beitrag von Prof. Bernhard Streck (Homberg an der Ohm, Ende Mai 2022)
Bernhard Streck ist Professor für Ethnologie i. R. und lehrte u. a. an den Universitäten Gießen, Berlin, Mainz und Heidelberg. 1994-2010 war er Leiter des Instituts für Ethnologie der Universität Leipzig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Religionsethnologie, Fachgeschichte, Ethnographie Nordostafrikas und Tsiganologie. Zahlreiche Publikationen, u. a. „Sudan – Steinerne Gräber und lebendige Kulturen am Nil“ (1982), „Wörterbuch für Ethnologie“ (1987/2000), „Die Halab“ – Zigeuner am Nil (1996), „Fröhliche Wissenschaft Ethnologie“ (1997).
Literaturhinweise:
[i] Koch, Gerhard R.: Theodor W. Adorno. Philosoph, Musiker, pessimistischer Aufklärer. Frankfurt am Main: Societätsverlag 2013
[ii] Müller, Klaus E.: Magie. Die verborgenen Grundmuster unseres Denkens und Handelns. Berlin: Reimer 2021
[iii] Bernays, Edward: Propaganda. Die Kunst der Public Relations. Aus dem Amerikanischen von Patrick Schnur. Berlin: Orange Press 2018
[iv] Kierkegaard, Sören: Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie von Constantin Constantius (Kopenhagen 1843). In: Ders.: Die Wiederholung. Die Krise. Frankfurt am Main: Syndikat 1984
[v] Gerda Baumbach, mdl. Mitteilung
[vi] Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. [1888] Werke hg. von Karl Schlechta, Bd. III, S. 607-682, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1979
[vii] Anonymus: Traktat über die drei Betrüger. Französisch – Deutsch. Hg. v. Winfried Schröder. Hamburg: Felix Meiner 1992
[viii] Voegelin, Erich: Die politischen Religionen. Stockholm: Bermann-Fischer 1939
[ix] Schurtz, Heinrich: Grundzüge einer Philosophie der Tracht. Stuttgart: Cotta 1891
[x] Luhmann, Niklas: Zweckbegriff und Systemrationalität. Tübingen: J.C.B. Mohr 1968
[xi] Taubes, Jacob: Die politische Theologie des Paulus. München: Wilhelm Fink 1993
[xii] Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Heidelberg: Lambert Schneider 1962/86
[xiii] Streck, Bernhard: The spellbinding aura of culture. Tracing its anthropological discovery. In: Meyer, Christian/Felix Girke: The rhetorical emergence of culture. New York/Oxford: Berghahn 2011, S. 119-36
[xiv] Symon, Karl Heinz: Der Dichter und Denker. Zu „Hölderlin und die Philosophie“ von Johannes Hoffmeister (1907-1955). Zweiter Alfelder Brief. In: Ders.: Einer blieb nicht fern? Zu Friedrich Hölderlins „Der Einzige“. Drei Alfelder Briefe. S. 21-36, Marburg: Blaues Schloss 2022
[xv] Kamper, Dietmar: Im Souterrain der Bilder: Die schwarze Madonna. Bodenheim: Philo 1997
[xvi] Lemper, Ernst-Heinz: Jacob Boehme. Lebenswege (1575-1624). Lausitzer Biographien Nr. 1. Görlitz/Zittau: Gunter Oettel 2000, S.31
Bild: Magische Statuette des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Kultur: teke. Kongo, Afrika.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Mein Glückwunsch zu diesem Beitrag Bernhard Strecks. Obwohl er auf kleinem Raum mit vielen kurzen Zitaten einen dichten, komplexen Text verfasst hat, vermittelt er einen großartigen und weitreichenden Einblick über sein Forschungsgebiet hinaus. Und dies unter dem Titel „Schwindel und Blendwerk“! Das kommt meinen Überlegungen zur Dynamik der Mythomanie entgegen. Das Phänomen ist hierzulande noch wenig bekannt. Herzlichen Dank!