Fans von Stephen King, Horrorfilmen und Fantasy-Romanen haben mit großer Wahrscheinlichkeit schon mal vom Windigo gehört. Doch wie viele wissen tatsächlich etwas über den Ursprung dieser ikonischen Gestalt?
Der Windigo ist ein mythologisches Wesen aus den Traditionen der Algonkin-Völker im Osten Kanadas und dem Gebiet der Großen Seen. Er ist der Geist des Winters, der von Menschen Besitz ergreift, sie in den Wahnsinn treibt und zu Kannibalen macht. Dieses Wesen ist unter verschiedenen Namen bekannt: Bei den Ojibwa heißt es wīnthikō, bei den Cree wīhtīkow und bei den Mi’kmaq gibt es ein verwandtes Wesen namens Chenoo.
Der Windigo wird gewöhnlich als ein anthropomorphes Wesen mit einem furchterregenden Aussehen beschrieben: Er hat einen lippenlosen Mund mit riesigen spitzen Zähnen, durch die sein Atem mit einem schaurigen Zischen strömt, das meilenweit zu hören ist. Seine hervortretenden Augen ähneln denen einer Eule, nur dass sie viel größer und völlig blutunterlaufen sind. Die Füße sind fast einen Meter lang, mit auffallend spitzen Fersen und nur einer einzelnen, großen Zehe. Seine Hände enden in klauenartigen Fingern. Der Windigo ist so groß, dass er die Spitzen der Bäume abknicken kann. Er sucht sich seine Opfer aus, verfolgt sie unbarmherzig und wartet bis zur Dunkelheit, bevor er sie überfällt und frisst. Er hat ein Herz aus Eis und sein Körper ist so hart wie Stein, undurchdringbar von einer Kugel oder einem Pfeil und unempfindlich gegenüber Kälte.
Die Algonkin-Welt war vielfältig und nicht alle Völker nahmen den Windigo in derselben Weise wahr. In Mi’kmaq-Mythen werden die Chenoos im Allgemeinen als Riesen beschrieben. In Ojibwa-Geschichten sind einige Windigos in Riesen verwandelte Menschen. Bei den Plains Cree konnte der Windigo eine komische, clownartige Gestalt in rituellen Tänzen sein, obwohl er eine bedrohliche Gestalt in ihren Erzählungen blieb. Trotz dieser Unterschiede liegt der Fokus der Mythen auf dem Thema des Kannibalismus.
Der Windigo in der Algonkin-Mythologie
Der Windigo erscheint sowohl in mythischen „prähistorischen“ Geschichten, die im nördlichen Cree als acayohkiwin bezeichnet werden, als auch in jüngeren Geschichten, die in einem historischen Kontext spielen, den acimowana. In den mythischen Erzählungen wurden Windigos häufig als kannibalische Riesen dargestellt, die so mächtig waren, dass sie selbst den stärksten Trickster erschrecken konnten. Aspekte dieser Traditionen haben bei den meisten Stämmen überlebt. Zum Beispiel glaubte man häufig, dass Windigos von entfernten Inseln aus dem hohen Norden kamen.
Die meisten Algonkin-Völker der Subarktis legten jedoch eine stärkere Betonung auf jüngere Geschichten, in denen gewöhnliche Menschen aus verschiedenen Gründen in mörderische Kannibalen verwandelt wurden – durch Hunger, den Fluch eines Schamanen, spirituelle Verdorbenheit oder schlechte Träume. Träume waren besonders wichtig, weil sie als so real wie eine Erfahrung im Wachzustand betrachtet wurden. Wenn eine Person einen Traum hatte, in dem ihr der Windigo erschien, ihr Nahrung anbot und sie nicht in der Lage war, die Identität dieses Wesens zu erkennen, konnte sie mit List dazu gebracht werden, in ihrem Traum einen anderen Menschen zu essen. Danach war das Opfer dazu verdammt, dieses Verlangen auch im Wachzustand zu haben.
Windigo-Geschichten wurden aus verschiedenen Gründen erzählt. Auf einer praktischen Ebene hielten sie Kinder von den Gefahren des Waldes oder von Fremden fern. Da jede Familie erwarten musste, Perioden von Hungersnot zu durchleben, war der Windigo auch eine Möglichkeit, über das reale Problem des Hungers zu sprechen, während man gleichzeitig für Unterhaltung sorgte.
Indianische Geschichtenerzähler wie Basil Johnston stellen die Annahme in Frage, dass der Windigo ausschließlich übelwollend ist. Obwohl er ein furchterregender Geist ist, der Ausschweifungen bestraft, belohnt er gleichzeitig die Bescheidenen. Der Windigo ist eine Metapher für Exzess und die Geschichten fordern daher zum Maßhalten auf.
Die Windigo-Psychose
Von dem mythologischen Wesen ist der kontroverse medizinische Begriff der „Windigo-Psychose“ abgeleitet, die von Psychiatern als eine kulturspezifische Störung beschrieben wird, mit Symptomen wie einem intensiven Verlangen nach Menschenfleisch und der Angst, ein Kannibale zu werden. Die Faszination von Ethnologen und Psychologen von der sogenannten Windigo-Psychose führte in den 1980er Jahren zu einer heftigen Debatte über die Realität des Phänomens. Einige Wissenschaftler hielten sie für eine Erfindung, das Fabrikat naiver Ethnologen, die die Geschichten, die ihnen erzählt wurden, gutgläubig für bare Münze nahmen. Andere haben auf eine Anzahl von glaubhaften Augenzeugenberichten hingewiesen, sowohl von Algonkin als auch von Euro-Kanadiern – als Beweis, dass es sich um ein historisches Phänomen handelte.
Einer der bekanntesten Fälle ist der eines Fallenstellers der Plains Cree aus Alberta namens Swift Runner. Im Winter 1878 litten Swift Runner und seine Familie an einer Hungersnot und sein ältester Sohn starb. Obwohl sich in nur etwa 25 Meilen Entfernung ein Posten der Hudson’s Bay Company befand, tötete Swift Runner seine Frau und die fünf übrig gebliebenen Kinder und aß sie. Aufgrund der Tatsache, dass er sich in so großer Nähe von Nahrungsmitteln befunden hatte, wurde geschlossen, dass es sich in Swift Runners Fall nicht um Hungerkannibalismus handelte, sondern um einen Menschen mit „Windigo-Psychose“. Er gestand schließlich und wurde von den Behörden in Fort Saskatchewan hingerichtet.
Wenn bei den Algonkin eine Person Zeichen einer solchen Störung zeigte, wurde häufig versucht, sie zu heilen. Die Methoden beinhalteten normalerweise Exorzismus-Versuche, Gebete und die Verabreichung von heißem Fett, um die inneren Organe des Opfers zu wärmen, da angenommen wurde, dass sein Herz sich in Eis verwandelte. Wenn diese Versuche fehlschlugen und die Person zu aggressivem Verhalten neigte, wurde sie in der Vergangenheit häufig getötet – nicht selten auf eigenen Wunsch der Betroffenen.
Der Windigo in der Kolonialgeschichte
Europäische Berichte über Windigo-Fälle datieren bis ins 17. Jahrhundert zurück. In der frühen Zeit des Kontakts reagierten Jesuiten und Pelzhändler darauf nicht unbedingt mit dem Versuch, die traditionellen Praktiken auszumerzen. Sie bemühten sich häufig, dieses Phänomen zu verstehen und zu interpretieren, wenn auch im Lichte ihrer eigenen Interessen. Nicht selten brachten Indianer Angehörige, von denen sie glaubten, dass sie sich in Windigos verwandelten, zur Betreuung zum lokalen Posten der Hudson’s Bay Company.
Im späten 19. Jahrhundert sahen sich die Algonkin aufgrund von Landverlust, Krankheiten und der Dezimierung ihres Jagdwildes mit einer Krise konfrontiert. Inmitten dieser Katastrophe brach die sogenannte Windigo-Hysterie aus, während der es zu gehäuften Tötungen von Menschen kam, von denen man annahm, dass sie sich in Windigos verwandelten. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts fand in ganz Kanada eine Reihe von Mordprozessen statt. Die Regierung war bestrebt, ihre Autorität zu behaupten, indem sie die Irrationalität der Menschen demonstrierte, deren Kultur sie zu zerstören versuchte.
Der am besten dokumentierte Fall ist der von Joseph Fiddler, einem Häuptling der Salteaux. 1906 wurden Fiddler und sein Bruder Jack von den kanadischen Behörden verhaftet, da sie eine Frau getötet hatten, um ihre Verwandlung in einen Windigo zu verhindern. Jack beging Selbstmord, aber Joseph wurde vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Er wurde schließlich begnadigt, starb jedoch drei Tage später im Gefängnis, bevor ihn die Nachricht von seiner Begnadigung erreichte.
Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte das kanadische psychiatrische System den Windigo. Die Polizei überführte Windigos in Irrenanstalten, wo sie von ihren Gemeinschaften isoliert waren und mit Morphium oder Alkohol betäubt wurden. Nicht selten starben diese Menschen in den Anstalten – meistens an Tuberkulose, womit auch viele indianische Gefängnisinsassen dieser Zeit infiziert wurden.
Der Windigo in der Populärkultur
Heute glauben die Menschen mit weniger großer Wahrscheinlichkeit an die Realität dieses Phänomens im buchstäblichen Sinne. Doch der Windigo besteht als ein Symbol fort, weil er universelle menschliche Ängste anspricht. Er ist inzwischen ein fester Bestandteil der nordamerikanischen Populärkultur und weltweit ein beliebtes Thema in Literatur und Film.
Dabei hatte wahrscheinlich kein Werk so viel Einfluss wie Algernon Blackwoods Kurzgeschichte The Wendigo, die er 1910 schrieb. Blackwoods Werk hat viele der nachfolgenden Darstellungen in der Mainstream-Horrorliteratur inspiriert, unter anderem Stephen Kings Roman Friedhof der Kuscheltiere. Der Windigo ist auch ein Thema im Film, zum Beispiel in Ravenous, Larry Fessendens Wendigo, Ginger Snaps Back und Lone Ranger. Er erscheint auch in verschiedenen Fernsehserien, wie Teen Wolf, Supernatural, Charmed, Hannibal und sogar in dem Cartoon My Little Pony.
In all diesen Werken ist der Windigo ein Symbol des Bösen, der Wildnis und des Wahnsinns. Er ist größtenteils von seinem kulturellen Kontext getrennt, indianische Glaubensvorstellungen werden kaum diskutiert. Stattdessen werden indianische Völker häufig mit einer simplifizierten Version der Vergangenheit assoziiert.
Im Gegensatz dazu konzentrieren sich die Werke zeitgenössischer indianischer Autoren, Theater- und Filmemacher auf die Traumata, die mit dem Kolonialismus verbunden sind und mit dem Windigo-Geist gleichgesetzt werden, wie Residential Schools und Kulturverlust. Bei vielen indianischen Völkern bleibt der Windigo eine Warnung vor Gier – wird jetzt aber mit den Exzessen von Kapitalismus und Kolonialismus assoziiert, statt mit der Wildnis oder dem Winter. Der Ojibwa-Wissenschaftler Basil Johnston beschreibt den Windigo als den Geist des Egoismus, der durch die westliche Kultur der Ausbeutung und Umweltzerstörung verkörpert wird:
„Diese neuen Weendigoes unterscheiden sich nicht von ihren Vorfahren. Tatsächlich sind sie sogar noch gefräßiger als ihre Ahnen. Der einzige Unterschied ist der, dass die modernen Weendigoes elegante Kleider tragen und sich mit einem Flair von kultivierter und würdevoller Anständigkeit umgeben.“ (Smallman 2014, S. 67)
Ein Beitrag von Dr. Claudia Roch
Literaturhinweise:
Brightman, Robert A. „The Windigo in the Material World“. Ethnohistory 35.4 (1988), S. 337-379.
Marano, Lou. „Windigo Psychosis: The Anatomy of an Emic-Etic Confusion“. Current Anthropology 23 (1982), S. 385-412.
Harring, Sidney L. White Man’s Law. Native People in Nineteenth-Century Canadian Jurisprudence. Toronto: University of Toronto Press 1998.
Smallman, Shawn. Dangerous Spirits: The Windigo in Myth and History. Victoria: Heritage House Publishing Company 2014.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.