„Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“

Lasst uns vom Wind erzählen. Ich gebe zu, würde mich jemand fragen, was der Wind ist, würde mir im ersten Moment keine passende Antwort einfallen und im zweiten Moment vermutlich das Zitat aus Hänsel und Gretel: „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“. Zum einen, weil es ein bekannter Reim aus einem bekannten Märchen ist. Zum anderen, weil dem Wind, lässt man sich die Worte einmal gründlich auf der Zunge zergehen, tatsächlich etwas Kindliches anmutet. Er ist verspielt. Er ist unberechenbar. Ist er ausgeglichen, beglückt er uns mit einem lauen Lüftchen. Ist er aufgewühlt, stürmt und tobt er. Ist er traurig, heult er. Und ist er zufrieden, säuselt er. Wind ist im Grunde ständig um uns. Wir sehen von ihm aber nur seine Wirkung auf die sichtbaren Dinge und auf uns selbst. Sein Wesen, seine Gestalt ist für uns – mit Ausnahme von Tornados oder Superstürmen – weitgehend unsichtbar. Wind ist bewegte Luft und Luft brauchen wir zum Atmen und für die Erhaltung unserer Existenz.

Schon in der Philosophie der alten Griechen ist Luft (gedacht als „pneuma“ – das materielle, luftartige Prinzip von Natur und Leben) mit dem Geist und der Seele oder aber mit dem Schicksal in Verbindung gebracht worden. So sahen u.a. die Stoiker im „pneuma“ eine Form von alles durchdringender, kosmischer Macht, während die christliche Theologie es als Heiligen Geist oder Geist Gottes umgedeutet hat. Vielleicht liegt die wahre Seele der Luft aber im Wind. Einfach deswegen, weil er von den vier bekannten Elementen das stärkste ist. Seine Kraft treibt das Wasser an und bewirkt die Strömungen im Meer. Wind kann bereits verglühendes Feuer wieder neu entfachen und sein Atem lässt Böden und Gestein erodieren. Daher ist er sowohl als gutes wie auch als böses Prinzip seit jeher in den Vorstellungen der Menschen mit dem Wirken übermenschlicher Wesen wie Göttern, Riesen oder Dämonen in Verbindung gebracht worden. In der Edda (Wafthrudnirlied 37) sitzt der Riese Hraeswelg („Leichenverschlinger“) in Gestalt eines Adlers am Rand des Himmels und verursacht den Wind durch das Schlagen seiner Schwingen. Beschwichtigen kann man den Wind, wenn er in Tiergestalt auftritt (neben Adler sind noch Eber, Wolf, Hund, Pferd und Bär möglich), indem man ihn füttert. Das sogenannte „Windfüttern“ ist im Volksglauben weit verbreitet. Brotkrumen, Salz, Mehl oder Federn werden dabei auf die Fensterbank gelegt. Auch ungebackene Brotlaiber in Form von Symbolen, Tieren oder Menschen auf Zäune zu stecken oder anzubrennen, soll den Wind gnädig stimmen.

Wind existiert auf der gesamten Welt. Ihm sind keine Grenzen gesetzt wie Feuer, Wasser oder Erde. Er driftet über allen und findet seinen Weg in die kleinsten Spalten. Er steht niemals still. Er muss sich immer selbst aufs neue antreiben und wandern, wobei er sehr oft als Mittler von Fruchtbarkeit und Mangel gedeutet wird. Im Märchen „Als der Wind sich verliebte“ (aus Kamerun) wird dazu folgendes erzählt: „Eines Tages war der Wind müde geworden vom vielen Herumrasen. Er ließ sich in einem versteckten kleinen Tal nieder, um Ruhe von Allem zu finden. Trocken und heiß war es aber in dem kleinen Tal. Die Sonne brannte derart herunter, dass selbst dem Wind der Atem stockte. Gräser und Büsche waren gelb vor Trockenheit, kein Tier außer der Eidechse ließ sich blicken. Und selbst die hob abwechselnd immer zwei Beine in die Höhe, wenn sie stehen blieb. Denn der Boden war sogar ihr zu heiß, um länger darauf stehen zu können.“ Im Tal machte der Wind die Bekanntschaft mit einem Mangobaum und verliebte sich in diesen. Da es aber, ohne den Wind, immer heißer ward, wurde der Mangobaum traurig: ‚„Mein lieber Wind“, sprach er, „was wirst du denn für ein Wind sein, wenn du aufhörst zu wehen, wenn du aufhörst zu rauschen und zu tanzen? Alles Grün wird verdorren, die Menschen die Tiere werden verhungern ohne dich. Kein Wasser wird mehr fließen können. Die Menschen brauchen dich doch. Du wohnst draußen in der ganzen Welt. Dein Platz ist leider nicht hier bei mir.“ Das sah der Wind wohl ein. Schweren Herzens nahm er nach einiger Zeit Abschied von seinem liebsten Mangobaum. Er machte sich wieder auf in die Welt, dorthin, wo alle schon sehnsüchtig auf ihn warteten. Den Geruch vom Mangobaum aber, den hatte er fest in seinem Herzen eingeschlossen und von nun an immer bei sich.'“

Die Griechen widmeten dem Wind im 1. vorchristlichen Jahrhundert sogar ein Bauwerk in Athen, das als der „Turm der Winde“ bekannt ist und noch heute Archäologen, Touristen und Interessierte anlockt.

Der Turm der Winde (Athen)

Der Bauforscher Hermann Kienast bescheinigt diesem gar „der besterhaltene Bau der Antike in ganz Griechenland“ zu sein. Stolze 13 Meter ist der „Turm der Winde“ hoch und wurde nach Entwürfen des makedonischen Astronomen und Architekten Andronikos von Kyrrhos errichtet . Dabei zeigt das oktogonale Bauwerk die Reliefs der acht von den Griechen verehrten Haupt- und Nebenwinde. Diese waren: Boreas, der Nordwind. Kaikias, der Nordostwind. Apheliotes, der Ostwind. Euros, der Südostwind. Notos, der Südwind. Lips, der Südwestwind. Zephyros, der Westwind. Und Skiron, der Nordwestwind. Auffällig, ist, dass alle Winde männlich sind; vier gereifte Männer mit Bart und Mantel stehen vier junge Männer mit Attributen wie Früchten, Kannen oder Blumen gegenüber. Unter jedem der Windreliefs war ursprünglich eine Sonnenuhr angebracht. Im Turm selbst befand sich eine Wasseruhr. Das Dach krönte, den archäologischen Untersuchungen zufolge, eine Figur (wahrscheinlich ein bronzener Triton), der als Wetterfahne fungierte und sich je nach Windlage in die entsprechende Richtung bewegte.

Lips, der Südwestwind

Eine faszinierende Vereinigung der Elemente, die Raum für Deutungen lässt. Ursprünglich orientierte sich das griechische Windsystem an den Jahreszeiten (Boreas, der Nordwind, der den Winter bringt; Zephyros, der Westwind, der das Frühjahr einläutet; Notos, der Südwind für den Sommer mit seinen Gewittern). Den drei Hauptwinden waren dabei auch die Orphischen Hymnen No. 79 -81 gewidmet.

„Sea-born, aerial, blowing from the west, sweet gales, who give to weary’d labour rest:
Vernal and grassy, and of gentle found, to ships delightful, thro‘ the sea profound;
For these, impell’d by you with gentle force, pursue with prosp’rous Fate their destin’d course.
With blameless gales regard my suppliant pray’r, Zephyrs unseen, light-wing’d, and form’d from air.“
(Orphische Hymne 80, An Zephyros)

Dagegen mutet die Windsbraut, ein Wetterdämon der germanischen Mythologie, der man nachsagt, vor allem während der Zeit der „Wilden Jagd“ zum Abschluss des Jahres ihr Unwesen zu treiben, geradezu gruselig an, wenn sie durch Ritzen kriecht oder das Heu aufwirbelt. Durch Lärm ließ sie sich ebenso vertreiben wie durch das Werfen eines sogenannten Drudenmessers, dem man nachsagt, es könne Geister und Schadenszauber abwehren. Die Ursprünge der Windsbraut lassen sich ebenfalls bis in die griechische Mythologie zurückverfolgen. Demnach entführte Boreas die Nymphe Oreithyia (Ovid, Metamorphosen, Buch 6), weshalb diese danach – recht abwertend – als Windsbraut bezeichnet wurde. Vor allem die heftigen Wirbelwinde am frühen Morgen werden mit ihr in Verbindung gebracht.

Wind ist aber nicht nur eine elementare Kraft, die nach eigenem Gutdünken wirkt. Er konnte auch beschworen werden. Wind- und Wetterzauber, die dem Volksglauben nach nur mit übermenschlichen, respektive teuflischen Kräfte in Verbindung stehen konnten, wurden häufig als das Werk von Hexen proklamiert. Dazu zählt u. a. die Vorstellung, Winde und Sturm (aber auch Nebel oder Gewitter) hervorzurufen, indem Steine in eine Höhle, einen Sumpf oder einen Abgrund geworfen werden. Auch das Schlagen mit Stöcken auf einen Fluss sollte die Winddämonen entfesseln, von denen man glaubte, sie hausten in der Erde und könnten durch solcherlei Handlungen in Wut emporsteigen. Sogar Martin Luther war der Ansicht, dass, wenn man einen Stein in einen Sumpf wirft, dieser den Bann des Teufels lösen könne, der dann einen furchtbaren Sturm über die Erde bringe.

Das Auftreten bzw. Nicht-Auftreten des Windes wurde auch für das Wahrsagen genutzt. So soll der Wind ein Zeichen dafür sein, wenn sich jemand erhängt hat. Damit in Zusammenhang steht die Vorstellung von der „Wilden Jagd“, in welche die Seelen der Verstorbenen einfahren. Wotan, einer der Anführer dieser geisterhaften Gesellschaft, zählt zu den Gehenkten, da er selbst neun Nächte lang am windigen Baum hing. Heult der Wind im Ofenloch, soll es dem Volksglauben nach kalt werden. Weht der Wind nachts ohne Unterlass, ist Regen nicht fern. Eine besondere Bedeutung kommt dem Wind in der Zeit der „Zwölften“ zu (den 12 Nächten zwischen Weihnachten und Neujahr), denn dann bringt er Fruchtbarkeit. Im Volksmund findet sich dazu häufig der Ausspruch, die Bäume würden „rammeln“.

Zum Abschluss sei noch eine Windgeschichte erzählt, die Franz Xaver von Schönwerth (1810-1886), ein Volkundler der Oberpfalz überliefert. Demnach war der Wind ein alter Mann mit langem Bart. Dieser versteinerte einen Mann, der ihm nicht sonderlich wohlgesonnen war. Die Windsbraut hatte den Mann zuvor in den gläsernen Berg, den Palast des Windes geführt, wo der Wind ihn durch den Schlag mit einer Rute versteinerte. Und weiter heißt es: „Es kommen täglich neue Menschen, die versteinert werden. Der Mann wird aber auf wundersame Weise befreit durch einen Vogel, der ihm den Ring und einen Zettel von seiner Gattin bringt. Der Vogel führt ihn fort zu einem Fürsten, der ihm sagt, er sei sein Befreier. Mit einem dritten Befreiten zusammen kämpfen sie dann gegen das Heer der Winde. Es ist kurz vor 11 Uhr, von Schlag 11 an wird der Wind Gewalt über sie haben. Da öffnet einer (der Männer) weit den Mund, daß der Wind und sein Heer einziehen, schließt dann den Mund wieder und speit später den ganzen Mageninhalt ins Meer. Seitdem ist das Meer so unruhig und alle Winde kommen daher.“ (überliefert in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 9, Sp. 637 f.)

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm

Literaturhinweise:

Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Band 9. Hanns-Bächtold Stäubli/Eduard Hoffmann-Krayer (Hrsg.). Berlin 1987.

Hermann J. Kienast: Der Turm der Winde in Athen. Reichert: Wiesbaden 2014.

The Theoi Greek Mythology Website (www.theoi.com)

Wind erzählt. Magische Weltmärchen vom Wind. Tobias Koch (Hrsg.). München 2016.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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