Wir befinden uns im Museum, stehen vor einem Gemälde. Eine seltsame Anziehungskraft geht von diesem Gemälde aus. Es ist, als würden wir förmlich in die dargestellte Landschaft hineingezogen; wir fühlen uns fast wie eine der in Rückenansicht gemalten Personen, welche im Bild die Landschaft betrachten. Wir sehen Berge, Wälder oder auch das Meer, Segelschiffe, Nebelschwaden, Wolken, Himmel und – Licht. Es ist dieses Licht, was die Gemälde Caspar Davids Friedrichs so einzigartig macht, die unergründliche, schwer zu definierende Lichtstimmung, welche seinen Landschaften eine fast schon transzendente Wirkung verleiht.
Viel ist schon geschrieben worden über den eigenbrötlerischen Maler aus Greifswald und vor allem über sein Werk, das seiner Zeit weit voraus war und nach dem Tod des Künstlers zunächst gar für mehrere Jahrzehnte in Vergessenheit geriet, bevor es 1906 in der „Deutschen Jahrhundertausstellung“ der breiten Öffentlichkeit wieder ins Gedächtnis gerufen wurde. Nun jährt sich Caspar David Friedrichs Geburtstag in diesem Jahr zum 250. Mal, was mit mehreren Ausstellungen gebührend gefeiert werden wird. Allein in der Geburtsstadt Friedrichs sind mehr als 160 Veranstaltungen geplant. Die Hamburger Kunsthalle zeigt noch bis zum 1. April die Ausstellung „Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit“, anschließend präsentiert die Alte Nationalgalerie Berlin „Caspar David Friedrich. Unendliche Landschaften“, bevor Albertinum und Kupferstichkabinett in Dresden mit der Kunstschau „Caspar David Friedrich. Wo alles begann“ das Jubiläumsjahr beschließen.
Der Kunsthistoriker und Publizist Florian Illies hat den Kanon um den wohl berühmtesten Maler der Romantik eine weitere Stimme hinzugefügt – und was für eine Stimme! Selten, sehr selten hat man ein Buch in der Hand, welches man nach der ersten Lektüre gleich wieder von vorne lesen will. Illies‘ Buch „Zauber der Stille. Caspar Davids Reise durch die Zeiten“ gehört für mich in diese Kategorie.
Florian Illies, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte und Neuere Geschichte in Bonn und Oxford, war Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und der ZEIT, deren Mitherausgeber er seit 2017 ist. Er war Verleger beim Rowohlt-Verlag, Leiter des Auktionshauses Grisebach und begründete die Zeitschrift „Monopol“. Bereits seinen Büchern „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ (S. Fischer, 2012) und „Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929–1939“ (S. Fischer, 2021) war großer literarischer Erfolg beschert.
Auf höchst unterhaltsame und informative Weise verbindet der Autor in „Zauber der Stille“ Fakten, Zitate, politische Streifzüge, Anekdoten und vor allem Biographisches zu einer einzigartigen Collage. Der schnelle Wechsel von Absätzen, Tempi, von Zeiten und Persönlichkeiten mag zunächst ungewohnt sein für Lesende, die an einen mehr oder weniger chronologischen Aufbau gewöhnt sind; sehr schnell wird man jedoch von dieser unkonventionellen Art des Erzählens in den Bann gezogen.
Wird Lernen und Erleben mit Emotionen verbunden, dann wird das Gelernte besser im Gedächtnis verankert, das hat die Hirnforschung längst bewiesen. Wenn die Vermittlung von Wissen auf derart unterhaltsame, berührende und zuweilen lässige Weise erfolgt, zeigt sie umso mehr Wirkung. Dabei ist in jeder Zeile die Wertschätzung des Autors für den Maler und dessen Werk spürbar. Die Auseinandersetzung und Einordnung, die Bildinterpretationen des Kunsthistorikers Illies sind profund und trotz aller Begeisterung für das Œuvre Friedrichs nie überschwänglich. Zudem wird mehrfach dargelegt, dass Friedrichs Landschaften idealisierte Darstellungen sind, was bedeutet, dass der Maler keine Gegend eins zu eins abbildete, sondern seine Bilder aus Versatzstücken komponierte. Er nahm die Natur quasi seelisch in sich auf, um dann die verinnerlichten Bilder in seiner ganz eigenen Interpretation auf die Leinwand zu bannen. Illies gießt dies in nahezu zärtliche Sätze, wie zum Beispiel diesen: „Caspar David Friedrich atmet Natur ein, um sie als Kunst wieder auszuatmen.“ (ZdS, S. 159)
Zeitreise durch die Elemente
Als Prolog ist dem Buch eine Szene vorangestellt, die direkt aus einem Gemälde Friedrichs selbst stammt: „Auf dem Segler“ schildert uns den Maler und seine junge Frau, die nach ihrer Hochzeitsreise auf einem Segelboot auf dem Bodden gen Stralsund segeln. Dabei nimmt sich der Autor auch schriftstellerische Freiheiten, etwa, wenn er die Gemütslage des Künstlers beschreibt: „Aus dem rötlichen Licht erheben sich die Türme der Stadt, ihr Segler gleitet sanft darauf zu, Friedrich ist voll sehnsüchtiger Andacht […] Genau diesen Moment muss ich malen, denkt er voll innerem Feuer; vielleicht, vielleicht bin ich gerade das erste Mal in meinem Leben wirklich glücklich, das Wasser unter mir, die Erde vor mir, die Luft um mich, meine Hand in der ihren.“ (ZdS, S.9) Mit diesem Satz verweist Illies gleichsam auf die vier Elemente, mit denen er die Kapitel seines Buches überschreibt: Feuer, Wasser, Erde und Luft. Jedes Element fungiert gleichsam als Thema, als roter Faden, der das Bukett aus superb geschriebenen Miniaturen zusammenhält.
Im ersten Kapitel mit der Überschrift „Feuer“ lesen wir bestürzt, wie viele Werke Friedrichs bereits verloren gegangen sind. Gleich zu Beginn befinden wir uns mitten im Geschehen, stehen an der Seite des Schriftstellers und Journalisten Eugen Roth – damals Lokalredakteur bei den Münchner Neuesten Nachrichten – und sind Zeuge einer verheerenden Katastrophe: In der Nacht des 6. Juni 1931 geht der Münchener Glaspalast, in dem sich gerade eine große Ausstellung zur Deutschen Romantik befindet, komplett in Flammen auf. Über hundert Gemälde bedeutender Künstler werden zerstört, darunter neun Bilder Caspar David Friedrichs. 1901 war bereits das Geburtshaus des Künstlers niedergebrannt, darunter ebenfalls neun seiner auf Leinwand gebannten Werke.
Das Kapitel „Wasser“ beschäftigt sich unter anderem mit dem zwiespältigen Verhältnis Friedrichs zu Gewässern aller Art. Wir lesen, wie sich der Maler sein vielleicht kompromisslosestes Bild „Mönch am Meer“ abgerungen hat und wie dieses dem einen Zeitgenossen als Ausdruck der Hoffnungs- und Trostlosigkeit erscheint, einem anderen jedoch wiederum Trost und Halt zu spenden vermag.
Das schwierige Verhältnis zwischen Friedrich und Goethe bleibt ebenfalls nicht unerwähnt. Der Dichterfürst, der sich der Wissenschaft verschrieben hatte, war „gefangen in seiner Sehnsucht nach lebenspraller, erzieherischer Kunst“ (ZdS, S. 107) und konnte mit der Melancholie und dem Idealistischen in Friedrichs Bildern nichts anfangen, fühlte gar sich zunehmend genervt von den Versuchen des Künstlers, ihn für seine Werke zu begeistern.
Wir sind auch dabei, wenn Friedrich sein Kindheitstrauma erneut durchlebt – sein Bruder hatte den im Eis eingebrochenen Dreizehnjährigen einst vor dem Ertrinken gerettet und dabei selbst sein Leben verloren. Wir erfahren ferner, dass sich Walt Disney für die Landschaften seines Trickfilm-Klassikers „Bambi“ von Friedrich inspirieren ließ und verfolgen atemlos den vielleicht spektakulärsten Kunstraub der deutschen Nachkriegszeit, bei dem unter anderem ein Gemälde Friedrichs entwendet wurde und unter recht abenteuerlichen Umständen wieder in sein angestammtes Museum zurückfand.
Nicht zuletzt begleiten wir ein Stück weit den Alltag des Künstlers und lernen seine vielfältigen Wesenszüge kennen, wir wandern mit ihm durch die Natur, schmunzeln gar über eher unbekannte Facetten seiner Persönlichkeit: „Wie lustig und beschwingt Caspar David Friedrich sein kann. In seinen Briefen blitzt immer wieder sein Schalk auf, und seine Freunde berichten von ausgelassenen Späßen, die sie miteinander trieben, und dass die Schwermut eben nur die eine Seite seiner reichhaltigen Seele ist.“ (ZdS, S. 89 f.)
Mit Zauber der „Zauber der Stille“ ist Florian Illies erneut ein außergewöhnlicher Beitrag zur Kulturgeschichte gelungen. Hervorragend recherchiert, mit Sinn für Timing, Figurenzeichnung und Details. Ein sachkundiges und gleichzeitig sinnliches, fesselndes Buch, das hervorragend auf das Jubiläumsjahr des großen Romantikers einstimmt.
Ein Beitrag von Isabel Bendt
Literaturhinweis:
Florian Illies: Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2023.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.