Der Unterwasserpanther

Der Unterwasserpanther ist eines der mächtigsten Unterweltwesen in der Mythologie nordamerikanischer Indianer, besonders der Algonkin-Völker im Gebiet der Großen Seen. In der Ojibwa-Sprache wird dieses Wesen Mishipeshu genannt, was übersetzt „Großer Luchs“ heißt.  Der Unterwasserpanther ist ein Mischwesen und vereinigt in sich die Merkmale verschiedener Tiere. Er hat den Kopf einer riesigen Wildkatze, häufig eines Pumas oder Luchses, und das Geweih bzw. die Hörner von Hirsch oder Bison. Sein Körper ist mit Schuppen oder manchmal auch Federn bedeckt. Der Rücken und sein ungewöhnlich langer Schwanz sind mit dolchartigen Stacheln bewehrt.

Die Ojibwa halten Mishipeshu für den Herren aller Wasserwesen. Einige Versionen der Nanabozho-Schöpfungsgeschichte beziehen sich auf ganze Gemeinschaften von Wasserluchsen. Es heißt, dass diese Wesen brüllen oder fauchen und dabei Geräusche wie Stürme oder herabstürzende Stromschnellen machen. 

Felszeichnung mit Mishipeshu, Agawa Rock,
D. Gordon E. Robertson / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)

Der Unterwasserpanther lebt in den tiefsten Regionen von Seen und Flüssen, wo er Stürme hervorrufen kann. Häufig wird er als ein übelwollendes Wesen betrachtet, das Tod und Unglück bringt. Aber er kann auch wohltätig sein und Nuggets von blankem Kupfer am Ufer hinterlassen, um gutes Verhalten zu belohnen. Mishipeshu gilt als Bewacher riesiger Mengen von Kupfer im Gebiet des Lake Superior. Die Algonkin-Völker östlich der Großen Seen glauben, dass der Unterwasserpanther die Kraft zu heilen besitzt. Sein Schwanz ist mit Kupferschuppen bedeckt und Kupfer wurde in Heilritualen verwendet. Die Vorstellung, dass Mishipeshu ein böser Geist ist, scheint von christlichen Missionaren und Priestern eingeführt worden zu sein. Für sie war er ein gehörntes „Monster“, dessen Unterweltssphäre ihn zur idealen Repräsentation des Teufels machte. Der christliche Dualismus ist traditionellem indianischen Denken jedoch weitgehend fremd. Alle übernatürlichen Wesen sind im Grunde zugleich gefährlich und nützlich, alle können helfen oder schaden – je nachdem, ob man richtig mit ihnen umzugehen weiß.

Der Wasserpanther – eine Muskogee-Legende

Der Unterwasserpanther wird häufig mit Überschwemmungen und Zerstörung assoziiert. Er bestraft menschliche Verfehlungen, indem er Kanus zum Sinken bringt und Siedlungen überflutet. Die folgende Legende schreibt die Zerstörung der alten Muskogee-Stadt Coosa dem Unterwasserpanther zu.

Ein Mädchen, dessen Vater und Mutter gestorben waren, lebte bei einigen Verwandten. Jeden Tag ging es zu einer Quelle, um Wasser zu holen. Der Pfad führte durch eine tiefe Senke. Als es herangewachsen war, erschien ihm dort eines Tages ein Wasserpanther und es wurde von ihm schwanger. Da die junge Frau von ihren Leuten sehr behütet worden war, wussten diese nicht, was sie davon halten sollten. Einige sagten: „Lasst uns sie töten“, aber andere waren dagegen.

Schließlich brachte die Frau drei Wasserpanther zur Welt und einige Leute sagten wieder: „Lasst uns sie töten.“ „Nein“, antworteten die anderen, „ihre Mutter ist ein Mensch.“ Und nachdem sie sich beraten hatten, kamen sie überein, sie leben zu lassen.

Die Frau sah von Zeit zu Zeit ihren Wasserpanther-Ehemann und berichtete, was geschehen war. Sie sagte, sie sei sehr ängstlich, weil einige der Leute gedroht hatten, ihre Kinder zu töten. Da meinte der Wasserpanther: „Lass uns die Freunde der Jungen von den anderen trennen.“ Und dann zogen sie fort an einen anderen Ort. Daraufhin  versank die alte Stadt, in der die Feinde lebten, und der Ort verwandelte sich in einen großen See. Nur der Pfosten eines Hauses schaute noch einige Zeit aus dem Wasser. Diese Stadt soll Coosa gewesen sein, obwohl es auch möglich ist, dass es Fus-hatchee gewesen ist. Die Leute, die die jungen Wasserpanther töten wollten, wurden zu dem Haus ihres Vaters auf dem Grund des Sees gebracht. Was aus den anderen geworden ist, ist nicht überliefert.

Die Besänftigung des Panthers

Die mythologische Vorstellung des Unterwasserpanthers ist sehr alt. Archäologische Funde von unverwechselbaren Schnitzereien, Piktogrammen und anderen Darstellungen des Unterwasserwesens reichen bis in die mittlere Woodland-Periode (ca. 100 v. Chr. – 500 n. Chr.) zurück. Mehrere Effigy Mounds im Mittleren Westen der USA haben die Gestalt dieser Kreatur.

Alligator Mound

Der Archäologe Brad Lepper vermutet, dass der sogenannte Alligator Mound in Ohio einen Unterwasserpanther darstellt. Er postuliert, dass frühe europäische Siedler fälschlicherweise annahmen, dass die Indianer sich auf einen Alligator bezogen, als sie von ihnen erfuhren, dass der Mound eine wilde Bestie darstellt, die im Wasser lebt und Menschen frisst. Nach Leppers Ansicht handelt es sich um einen Schrein, der dem Unterwasserpanther gewidmet war. Eine Steinplattform mit Spuren von wiederholten Verbrennungen wird von ihm als Opferaltar interpretiert. Lepper vermutet, dass der Mound hauptsächlich als eine schamanische Pforte fungierte, durch die den Mächten der Unterwelt Opfergaben überbracht werden konnten. Diese Opfergaben sollten das Wohlwollen oder zumindest die Gleichgültigkeit der Unterweltwesen sichern oder zu verschiedenen Zwecken Kraft aus der Unterwelt abzuschöpfen.

Aus historischer Zeit gibt es zahlreiche Berichte, die beschreiben, wie die Indianer durch Gebete und Opfer versuchten, den Unterwasserpanther günstig zu stimmen. 1723 schrieb der Jesuitenpater Rasles, dass die Algonkin „Michibichi“ opferten, wenn sie fischen gingen oder eine Reise unternahmen. Dieses Opfer bestand darin, Tabak, Nahrungsmittel und Töpfe ins Wasser zu werfen und ihn zu bitten, dafür zu sorgen, dass das Wasser des Flusses langsamer fließt, ihre Kanus nicht an Felsen zerschellen und sie mit reicher Beute heimkehren.

Im Midewiwin-Medizinbund konnte der Unterwasserpanther ein Schutzpatron und Geisthelfer der Menschen sein. Der berühmte Ojibwa-Maler Norval Morrisseau, dessen Großvater mütterlicherseits ein Mide-Schamane war, berichtete von der Errichtung eines Opfersteins für Mishipeshu. Kupferkessel wurden als Opfergaben ins Wasser geworfen und prächtig geschmückte Hunde dem Wassergeist lebend als Speise angeboten.  

Drachen und Jagdmagie

Im 18. und 19. Jahrhundert begannen die Indianer östlich der Großen Seen, durch Handel Gewehre zu erwerben. Sie bevorzugten Musketen mit Messingbeschlägen, auf denen europäische Drachen dargestellt waren, die sie vermutlich für Abbildungen von Mishipeshu hielten. Zur traditionellen Jagdmagie der Algonkin gehörte die Verzierung der Jagdausrüstung mit Darstellungen von ermächtigenden Tiergeistern oder der Beute selbst, um zu garantieren, dass die Ausrüstung ordentlich funktionierte. Jäger suchten häufig die Hilfe von Mishipeshu, indem sie aus Kupfer hergestellte Amulette verwendeten. Diese Amulette wurden oft rituell zerstört, wenn sie nicht mehr benutzt wurden. Auch viele Drachen-Beschläge von Gewehren scheinen entfernt und sorgfältig zerbrochen worden zu sein, was darauf hinweist, dass sie in derselben Weise verwendet wurden.

Ein beachtlicher Teil dieser Gewehre weist eine Bruchstelle am Schwanz des Tieres auf. Dies erinnert an die Mishipeshu-Episode in einer Cree-Version der Erdtaucher-Schöpfungsmythe. Der Trickster Weesagechack überlistete einen Wasserluchs, der ihn töten sollte, indem ihn bat, sich seinen tödlichen Schwanz anzusehen. Nachdem er diesen ergriffen hatte, legte er ihn auf den Rand seines Kanus und schnitt ihn mit einem Stein ab. Ähnliches erzählt eine Legende der Lake Superior Ojibwa. Als drei Frauen in einem Kanu von dem Wasserluchs angegriffen wurden, gelang es einer von ihnen, seinen Schwanz zu brechen und ihn mit einem Paddel zurückzuschlagen.

Der Archäologe William A. Fox vermutet einen Zusammenhang zwischen diesem Motiv der Niederlage von Mishipeshu und den entfernten Messingbeschlägen. Die an die Indianer verkauften Gewehre waren meist von schlechter Qualität. Es kam nicht selten vor, dass sie explodierten und unbrauchbar wurden. Die Explosion einer Muskete könnte danach als Bruch des symbolischen Paktes zwischen einem Jäger und dem mächtigsten Schutzgeist des Wildes betrachtet worden sein. Möglicherweise signalisierte ein solcher dramatischer Unfall das Ende der spirituellen Kraft des Gewehrs. Daher sollte das gefährliche Messingsymbol unschädlich gemacht oder spirituell „getötet“ werden.  

Donnervogel und Unterwasserpanther

In den Mythologien der indianischen Völker der Großen Seen werden die Unterwasserpanther als Wasserungeheuer beschrieben, die in Opposition zu den Donnervögeln leben, den Meistern der Kräfte der Luft. Unterwasserpanther werden als eine entgegengesetzte, aber komplementäre Kraft zu den Donnervögeln gesehen, mit denen sie sich in einem ewigen Konflikt befinden. Mit Stachelschweinborsten verzierte Taschen der Ojibwa zeigen häufig auf einer Seite den Unterwasserpanther und auf der anderen den Donnervogel.

Unterwasserpanther, National Museum of American Indian

Noch in den 1950er Jahren führten die Potawatomi eine traditionelle Zeremonie durch, um den Unterwasserpanther zu besänftigen und das Gleichgewicht mit dem Donnervogel zu bewahren. Die von dem Anthropologen James H. Howard beschriebene Zeremonie beinhaltete die Öffnung eines heiligen Bündels im Besitz von James Kagmega, einem bedeutenden religiösen Spezialisten des Stammes. Kagmega erklärte die Bedeutung dieser Zeremonie wie folgt:

„Wir wurden gelehrt, dass es einen beständigen Krieg zwischen den oberen Mächten (Donnervögeln und ihren geflügelten Verbündeten) und den unteren Mächten (Unterwasserpanthern und ihren Schlangen- und Fisch-Verbündeten) gibt. Ihr Konflikt beeinflusst das Leben der verschiedenen indianischen Stämme hier auf der Erde. Wenn sie ruhig und friedlich sind, sind die Indianer auch friedlich. Wenn es Kampf im Himmel und auf dem Grund der Gewässer gibt, dann gibt es auch unter der Menschheit Krieg.“ (Howard 1969, S. 218)

Kagmega sah keinen Widerspruch darin, an Zeremonien teilzunehmen, die die Donnervögel ehren, wie dem Dream Dance, und an dem Unterwasserpanther-Ritual. Beide – die Donnervögel und der Unterwasserpanther – waren mächtige, wenn auch genau entgegengesetzte Kräfte, die besänftigt, geehrt und in bestimmter Weise durch das richtige Ritual kontrolliert werden mussten.

Ein Beitrag von Dr. Claudia Roch

Literaturhinweise:

Chris Bolgiano. Mountain Lion: An Unnatural History of Pumas and People. Mechanicsburg: Stackpole Books 1995.

William A. Fox. Dragon Sideplates from York Factory, A Twist on an Old Tail. Manitoba Archaeological Journal 2/2 (1992), S. 21-35.

Bill Grantham. Creation Myths and Legends of the Creek Indians. Gainesville: University of Florida Press 2002.

James H. Howard. When They Worship the Underwater Panther: A Prairie Potawatomi Bundle Ceremony. Southwestern Journal of Anthropology 16/2 (1960), S. 217-224.

Brad Lepper / Tod A. Frolking. Alligator Mound: Geoarchaeological and Iconographical Interpretations of a Late Prehistoric Effigy Mound in Central Ohio, USA. Cambridge Archaeological Journal 13/2 (2003), S. 147-167.

Karen M. Strom. Morrisseau’s Missipeshu – Cultural Preservation. <http://www.kstrom.net/isk/art/morriss/art_miss.html> (28.06.2020). 

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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