Der Mythos Seuche oder: Die Epidemie in der Mythologie

Während uns gerade ein Phänomen und vielleicht schon ein Mythos namens Coronavirus in seinen mephistophelischen Fängen hält und eine goethianische Entschleunigung des gesamten gesellschaftlichen Lebens bewirkt, überschlagen sich Politiker und die sie beratenden Wissenschaftler und Mediziner in einer veloziferischen Orgie von Maßnahmen. Ohne selbst innezuhalten und zu denken, zu reflektieren, so scheint es manchmal. Gefangen in einer weltweiten Dynamik wird die Pandemie eines Atemwegserkrankungen auslösenden Virus, wie sie uns jährlich in Form der Influenza begegnet, zu einer Pandemie der Bewusstseins- und Gesellschaftsveränderung.

An dieser Stelle sei Albert Einstein zitiert, der beschrieb, dass „der intuitive Geist das Geschenk ist und der rationale Geist sein Diener sei.“ In unserer heutigen Gesellschaft finden wir dies verkehrt, aus Gründen der Macht und des von ihr abgeleiteten Kontrollwunsches. Auf dem Weg zum „Homo Deus“ holt uns nun die Natur in Form eines Virus ein. Viren und Bakterien, die uns seit Anbeginn der Menschheit begleiten, viele Millionen Jahren vor uns existiert haben und deren Elemente wir in uns tragen. Ganz abgesehen von den Millionen Bakterien, die unsere sogenannten Floren (Hautflora, Darmflora, Lungenflora etc.) bilden.

Angeregt durch dieses Geschehen möchte ich mich ein wenig der Geschichte der Pandemien, der Epidemien, also der Seuchen in der Geschichte der Mythologie widmen. Wo traten sie auf, welche Bedeutung haben sie erlangt und was wurde ihnen zugeschrieben? Als Mittel zum Zweck, als symbolischer Charakter? Ich lade Sie ein, mich in meine Gedankenwelt und auf meiner Reise durch die Geschichte der Mythologien zu begleiten.

Seuchen: Epidemie, Endemie, Pandemie

Sich rasch ausbreitende, ansteckende und gefährliche Infektionskrankheiten werden als Seuchen bezeichnet. Damit gehen Erkrankung und Tod von Mensch und Tier einher. Sie zeichnen sich durch eine hochgradige Ansteckungsgefahr mit in der Regel kurzer Ansteckungszeit und lebensbedrohlichem Krankheitsverlauf aus. Wir kennen sie als Pocken, Masern und Grippeepidemien in der jüngeren Vergangenheit oder als Cholera und Pest weiter zurück liegend.

Wortbegrifflich lässt sich die Seuche aus dem mittelhochdeutschen Begriff „siech“ ableiten, den wir heute noch als Begriff des Siechtums kennen. Dieser Begriff ist verbunden mit denEmotionen der Angst, des Schreckens, des Leids, das diese Erkrankungen über Millionen von Menschen gebracht haben. Bis ins 18. Jahrhundert hinein stand der Begriff der Pest bzw. der Pestilenz noch für alle Seuchen, denn nichts anderes bedeutet die Pest inihrer Übersetzung. Es waren tragische Ereignisse, die eines Dramas.

Heutzutage wird in der modernen medizinischen Fachterminologie die Seuche durch den Begriff der Infektion ersetzt und die wissenschaftliche Erforschung, die früher Loimologie (von griechisch „Loimos“, Pest, Seuche) genannt wurde, als Epidemiologie bezeichnet.

Die Epidemie ( altgriechisch: über dem Volk,; lateinisch: einheimisch) bezeichnet dabei als häufig verwandte Gleichsetzung mit der Seuche ein gehäuftes Auftreten von Erkrankungsentitäten innerhalb der menschlichen Art, solange dies auf den zeitlichen und räumlichen Kontext beschränkt bleibt, das heißt, auf einen gewissen Zeitraum und eine bestimmte Region begrenzt ist. Umgangssprachlich können wir auch davon sprechen, dass die Seuche über das Volk kommt oder auf das Volk herabfällt.

Von Endemie (altgriechisch: in dem Volk) sprechen wir dann, wenn die zeitliche Begrenzung entfällt. Das heißt, wenn Erkrankungen in einer umschriebenen Bevölkerung oder innerhalb einer begrenzten Region dauerhaft gehäuft vorkommen. Beide Begrifflichkeiten beziehen sich somit nicht nur auf Infektionserkrankungen. Als Beispiel für eine Endemie sei der Kropf, also die auf einem Jodmangel beruhende Veränderung der Schilddrüse genannt. Diese entsteht in einigen Regionen z.B. aufgrund zu niedriger Jodkonzentrationen im Trinkwasser.

Eine Pandemie (altgriechisch: das ganze Volk betreffend) liegt dann vor, wenn sich die Erkrankung über Länder- und Kontinentgrenzen hinweg ausbreitet.

Als historische Pandemie kann die Antoninische Pest, eine Seuche, am ehesten ausgelöst durch die Pocken, auf dem Gebiet des Römischen Reiches in den Jahren 165-180 n. Chr. gelten. Durch den eigentlichen Pesterreger scheint dann 541 n. Chr. die Justinianische Pest ausgelöst worden zu sein, die in der gesamten den Römern bekannten Welt gewütet hat. Die auch als Schwarzer Tod bezeichnete Pest hielt dann mindesten drei Mal im großen Ausmaß (1347 bis 1352 beginnend) und zuletzt 1896 in Europa Einzug und forderte Tote in einer hohen zweistelliger Millionenzahl. Insgesamt ist auffällig, dass parallele Verläufe zu den Fortschritten der menschlichen Entwicklung zu sehen sind.

Doch nach dieser kleinen, eher wissenschaftlich-historischen Einführung wende ich mich nun den Geschichten, Erzählungen und Sagen zu.

Die Seuche im Gilgamesch-Epos

In einem der ältesten schriftlich überlieferten Mythen der Menschheit, der in Episoden aus Sumer überliefert ist und im babylonischen Gilgamesch-Epos zu künstlerischer Einheit gestaltet wurde, genau dort finde ich unsere erste Pest, unsere erste Seuche. Lassen Sie mich Ihnen eine Übersicht zum Mythos geben.

In diesem großen Epos, dessen vollständige Version auf zwölf Tontafeln überliefert ist, über Gilgamesch, dem legendären und sagenhaftem König von Uruk, wird dieser mit dem Tod mehrfach konfrontiert. Und er stellt sich dieser Herausforderung, versucht die Unsterblichkeit zu erlangen und scheitert, ohne dabei in die Gefahr eines Selbstbetruges zu geraten. Dies ist vielleicht die kürzestmögliche Zusammenfassung der Erzählung. Doch ich will ein wenig tiefer in dieses Heldenepos eintauchen und lade Sie ein, mir zu folgen.

Gilgamesch, der mythische König von Uruk, ist zu einem Drittel menschlicher und zu zwei Dritteln göttlicher Herkunft, sodass die Vermutung naheliegt, dass er zu zwei Dritteln unsterblich ist. Im ersten Teil, der ersten Tafel, wird uns der Held und Enkidu, ein von den Göttern geschaffener Tiermensch, der einzige seiner Art auf Erden, vorgestellt. Und Enkidu ist auch das einzige Lebewesen, das Gilgamesch an Kraft und Stärke gleicht.

Gilgamesch wird uns als kluger und doch zugleich auch tyrannischer Herrscher über Uruk präsentiert, der legendären sumerischen Stadt am Euphrat. Aufgrund seines despotischen Verhaltens sind vor allem die Frauen von Uruk unzufrieden und beschweren sich bei der Göttin Ischtar. Diese ist Stadtgöttin von Uruk, die für die Liebe und sexuelle Verführung und gleichsam auch für den Krieg steht. Um es kurz zu machen: Sie veranlasst Himmelsvater Anu und die Muttergöttin, Enkidu als Tiermenschen aus Lehm zu erschaffen, mit der Absicht, den wilden Herrscher zu bändigen.

Über die Ankunft von Enkidu wird Gilgamesch durch seine Mutter, eine Seherin und Traumdeuterin, informiert. Er veranlasst die Dirne Samhat, Enkidu durch ihre verführerischen Reize in ein Liebesspiel zu verwickeln. Dies entfremdet Enkidu seiner Herde, die ihn alleine lässt und er begibt sich deshalb mit Samhat nach Uruk.

An dieser Stelle möchte ich die weitere Erzählung ein wenig kürzen und im Zeitraffer darstellen.

In den folgenden Tafeln wird über das Zusammentreffen von Gilgamesch und Enkidu und ihrem Zweikampf, der bei gleich starken Gegner zu keinem Sieger führt, berichtet. So schließen sie eine einzigartige Freundschaft und gelangen zur Entscheidung, den Schlangendämonen Chumbaba zu besiegen. Lange zieht sich der Kampf hin und doch können die beiden Helden Chumbaba, den Hüter des nördlichen Zedernwaldes, endlich besiegen. Enkidu überzeugt Gilgamesch, den Schlangendämon, der von dreizehn Winden des Sonnengottes festgehalten wird und um Gnade bittet, zu töten. Daraufhin verflucht dieser, kurz bevor er sein Ende nimmt, Enkidu.

Als Gilgamesch nun von seiner Heldentat nach Uruk zurückkehrt, verliebt sich die Stadtgöttin Ischtar in ihn und bittet ihn, ihr Gemahl zu werden. Doch sie wird brüsk zurückgewiesen und sinnt auf Rache. Sie bittet den Himmelsvater Anu, diese Schmach zu rächen und den Himmelsstier gen Uruk zu senden. Anu folgt ihrer Bitte, und der Himmelsstier richtet Verwüstung und Zerstörung in Uruk an und tötet viele von Gilgameschs Männern, bis er endlich von Gilgamesch und Enkidu besiegt werden kann.

Daraufhin präsentiert sich Gilgamesch prahlend als der Größte aller Helden. Um es abzukürzen: Die versammelten Götter beschließen, dass Gilgamesch einer Lektion bedarf. Sie schicken Enkidu eine Seuche, an der er erkrankt und schließlich nach zwölf Tagen langen Leidens stirbt, während Gilgamesch weiterleben muss. Damit erfüllt sich der Fluch des Dämons Chumbaba.

Neben der Trauer über den Verlust wird sich Gilgamesch der eigenen Sterblichkeit bewusst, was ihn in die Verzweiflung führt und ihn wahnsinnig vor Angst werden lässt. Somit macht er sich auf, den Spuren des Sintfluthelden Utnapischtims zu folgen, um wie dieser Unsterblichkeit zu erlangen.

Doch an den Prüfungen, denen er sich unterziehen muss, scheitert Gilgamesch. Und auch das Kraut der ewigen Jugend wird ihm von einer Schlange geraubt. Zurück in Uruk erlangt Gilgamesch die Erkenntnis, sich als guter und weiser König einen großen Namen zu machen und somit unsterblich zu werden.

Wie zeigt sich die Seuche im Epos?

Auf dem ersten Blick stellt die Seuche in diesem Epos die Bestrafung des sich von der Gottheit lösenden Menschen Gilgamesch dar. Wenn ich darauf schaue, weshalb er bestraft wurde, liegt es nahe, auf seine Überheblichkeit abzuzielen. Nachdem er schon die Stadtgöttin Ischtar abgewiesen und dann auch noch dem von Götter-Vater Anu geschickten Dämon besiegt hat, bringt seine Prahlerei das Fass zum Überlaufen. Doch die Seuche trifft nicht ihn, sondern seinen Weggefährten Enkidu.

Während dieser leiden muss und letztendlich verstirbt, bleibt Gilgamesch am Leben. Er muss mit diesem Schicksal fertig werden und wird sich der Endlichkeit seines eigenen Lebens bewusst. Und dies ist für ihn nicht zu ertragen. Statt in Demut anzunehmen, was das Schicksal für ihn bereithält, macht er sich auf den Weg, erneut sein Menschsein zu überwinden. Und wieder scheitert er.

Diese Lehre annehmend, kehrt er zurück und hat seine Lektion gelernt. Er hat erkannt, welches die wesentlichen Werte sind, die ihn als Mensch und König unsterblich machen.

Anders betrachtet, wird der nach dem ewigen Leben strebende Mensch, und damit scheint schon in diesem Epos das erste faustische Motiv verarbeitet zu sein, genau dafür bestraft. Die Götter schicken eine Seuche, nicht um die Menschheit auszulöschen, sondern um diejenigen, die nach dem Überwinden der Götter streben, zu strafen, dem Streben nach dem „Homo Deus“, der sich über die Natur und die Götter erhoben hat, ein Leid entgegenzusetzen, um eine Erkenntnis zu ermöglichen. Die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit als Teil dieser Natur und der Notwendigkeit, dem „göttlichen Willen“ zu folgen. Denn Gott ist nicht tot, sondern lebt im Willen dessen, was auf der Erde und in der Natur passiert, weiter. Durch das Leid erfolgt die Erkenntnis des Willens und die Einsicht, dass nicht der „Homo Deus“ die Überwindung des Menschen ist.

Die Parallelen dieses uralten Epos zu den heutigen Geschehnissen, der Seuche Covid-19, sind offensichtlich. Vielleicht ist es der „Homo immunologicus“ nach Peter Sloterdijk, der die menschliche Natur ausmacht. Der immunologische Charakter des Menschen auf allen Ebenen, die Abwehr der biologischen, psychologischen und soziologischen Bedrohungen und die Anerkenntnis der Stellung des Menschen innerhalb der Natur.

Ein Beitrag von Klaus-Dieter Lübke Naberhaus

Literaturhinweise:

Christoph Jamme/Stefan Matuschek: Handbuch der Mythologie. WBG: Darmstadt, 2014.

Sandra Hempel: Atlas der Seuchen. Librero IBP: Kerkdriel, 2020.

Stefan Maul: Das Gilgamesch-Epos. Beck: München, 2014.

Walther Sallaberger: Das Gilgamesch-Epos. Mythos, Werk und Tradition. C.H. Beck: München, 2008.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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