Jeder Anruf enthält Geschichten heute. Jeder weiß etwas anderes, kennt Fälle, berichtet von Nachbarn, Freunden, von sich selbst, aus der Zeitung, aus dem Internet, kennt jenes Gerücht, diese Zahl. Noch nie ist unserer Generation so deutlich geworden, wie wichtig das Erzählen für uns Menschen ist. So ist es in anderen Seuchenzeiten gewesen, so war es in den Kriegen, in den Umwälzungen von der Französischen bis zur Friedlichen Revolution. Wir stellen fest, dass wir auf solche Erzählungen angewiesen sind: sie helfen uns zur Orientierung, sie trösten oder regen auf, sie lenken ab und unterhalten.
Die Wirkung des Virus geht in alle Richtungen. Die NASA sieht weniger Umweltschmutz in China, die Luft wird besser in Leipzig, die Särge stapeln sich, die Fische atmen wieder durch, die Angst treibt die Menschen um, es fehlen Beatmungsgeräte, die Straßen sind leerer, die Kriminalitätsrate in Italien ist gesunken, Camus‘ Die Pest ist ausverkauft, man liest wieder Bücher, die Gewalt zuhause nimmt zu, die Leute helfen sich gegenseitig, sie schlagen sich um Klopapier, jeder verdächtigt den anderen, der hustet, die Pflegekräfte und das medizinische Personal leisten Großartiges, machen Überstunden, bekommen nicht die finanzielle Anerkennung, viele sind auf Kurzarbeit, andere werden kreativ, Kinder basteln, andere kochen wieder selbst, man tauscht Rezepte und Buch- oder Filmtitel aus, man sendet sich lustige Whatsapp-Nachrichten, man wird hypochondrisch, Menschen, die bislang aneinander vorbeigingen, reden miteinander, lächeln sich zu, wünschen sich Gesundheit, andere werden misstrauischer, man entschleunigt, man langweilt sich, man fürchtet sich vor Türklinken und wäscht sich alle naselang, Zukunftsforscher wissen jetzt mehr und danach wieder weniger, Propheten schauen derzeit lieber rückwärts auf die früheren Pandemien oder lesen Nostradamus einmal wieder. Ein Rabbi sagt, Corona habe einen Weltkrieg verhindert.
Das sind Alltagsszenen, die wir alle erleben. Sie alle enthalten Keime von Erzählungen, ja kleine Mythen im Sinne von Roland Barthes‘ Mythen des Alltags. Gleichzeitig hocken die großen Mythen auf der Mauer und warten auf ihre Opfer. Diese Mythen leben von Intentionen. Ihre Erzählungen funktionieren, weil sie davon ausgehen, dass alles Absichten hat. Das heißt das, was uns angeht, ist menschlich belebt, das Virus selbst ist für sie ein Lebewesen, auch wenn wir nicht genau wissen, was eigentlich ein Lebewesen ist. Die Natur ist belebt, das ist eine Grundaussage des Mythos. In diesem Sinne ist auch die Religion ein Mythos, wenn sie an einen Schöpfergott glaubt, an Agenten wie Engel, Heilige, Geister und Dämonen. Das Virus ist so mythenträchtig, weil es unsichtbar ist. Würden Trump oder Johnson von einem Krieg gegen einen Tsunami reden, gegen ein Erdbeben? Nein, aber sie tun es in Hinsicht auf dieses Unsichtbare Etwas, das auch noch „Krone“ heißt, wo es doch die Krone der Schöpfung ins Visier genommen hat. Eher ist es wohl eine Dornenkrone der Menschheit.
Heute erhielt ich Post von Corona selbst. Auf Whatsapp wird eine solche Botschaft verbreitet: Ich, Corona, grüße euch und erkläre euch jetzt, warum ich mich zu euch aufgemacht habe. Auch hier ist menschlich gedachte Intention am Werk, Personifizierung. Corona will uns auf unser falsches Leben aufmerksam machen, sie hat es satt, sich das weiter ansehen zu müssen, wie die Menschen sich gegenseitig zugrunde richten und den Planeten noch dazu. Früher hätte Gott so gesprochen, und deshalb schickte er ja auch die Flut oder zertrümmerte den Turm von Babel. Ich muss oft an diesen Turm derzeit denken, denn der Bau verkörperte so etwas wie Globalisierung. Die Menschen sprachen nur noch eine Sprache und sie bauten mit ihrer Hybris bis an den Himmel heran. Gott strafte sie durch Zersplitterung – und sie wurden wieder in ihre Stämme, Dörfer und Städte zurückgeschickt. Lasst es uns eine Lehre sein: Die menschlichen Türme wachsen genauso wenig in den Himmel wie die Bäume. Es gibt gewisse Gesetze, die das unterbinden. Es gibt tatsächlich Grenzen des Wachstums. Man muss diese Gesetze nicht personifizieren, aber wir verstehen sie besser, wenn wir ihnen ein Bewusstsein unterlegen.
Und hier kommen die Mythologen ins Spiel. Wir beschäftigen uns mit genau diesen Schnittstellen zwischen anthropozentrischer Projektion und wissenschaftlicher Objektivierung. Wir untersuchen die Übergänge zwischen Fakten und Mythen/Mythemen/Legenden/Märchen. Das Studium der Mythen (und der mythisch ohnehin inspirierten Literatur und Künste) hilft uns, einen kühlen, kritischen Kopf zu bewahren, zum Beispiel im Angesicht von Verschwörungstheorien. Aber es hilft auch, unsere Bildwelten in Bewegung zu halten – das heißt, die Zugänge zum Unbewussten. Denn auch das bleibt wichtig: unseren Ängsten und Hoffnungen Ausdruck geben zu können und ähnliche Bilder in anderen Epochen und Mythen der Welt zu entdecken. Entdeckungen, die uns an die Gemeinschaft der Menschen erinnern, die uns jetzt so deutlich mit dieser Pandemie vor Augen tritt. Die Bilder und Geschichten sind ein Reservoir an Gemeinsamkeit und auch an Kraftgebung.
In diesem Sinne wünsche ich unseren Mitgliedern und den treuen Lesern dieses Blogs eine fruchtbare Begegnung mit den Mythen und den heiligen oder weniger heiligen Texten der Menschheit, jetzt, wo wir etwas mehr Zeit haben zum Lesen. Und ich wünsche uns eine Rückkehr zum Gemeinsinn. Mögen wir viel aus dieser Krise lernen. Bleibt gesund und wohlbehalten, bis bald hoffentlich, wenn wir uns wieder in Vorträge drängeln dürfen.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.