Legenden
Wenn ich bei Führungen von Schulklassen im Bremer Übersee-Museum die Frage stelle, wer schon mal etwas von Sitting Bull gehört hat, schaue ich normalerweise in leere Gesichter. Das Thema „Indianer“ scheint bei der heutigen jungen Generation kaum noch stattzufinden. Umso mehr überraschte und freute mich das Bekenntnis eines 13-Jährigen, seine Lieblingsbücher seien Die Söhne der Großen Bärin. Kaum ein Buch hat mich auf meiner Lesereise so sehr geprägt wie Liselotte Welskopf-Henrichs Romanzyklus. Mit zehn Jahren bekam ich den ersten Band geschenkt, der der Auslöser dafür war, dass aus meiner frühkindlichen Indianerbegeisterung ein zunehmend ernsthafteres Interesse wurde, das schließlich auch meine Berufswahl bestimmte.
Der ostdeutsche Bestseller stellt einen Gegenentwurf zu Karl Mays Wild-West-Märchen dar. In ihren Werken wollte Welskopf-Henrich (1901-1979), die hauptberuflich Professorin für Alte Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin war, Mays Klischeebilder korrigieren und die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Indianer auf der Grundlage ethnologischer Literatur darstellen sowie Verständnis und Anteilnahme an ihrem Schicksal wecken.
Die Söhne der Großen Bärin stießen schon bei ihrer Erstveröffentlichung 1951 auf begeisterte Resonanz – auch unter vielen jungen Lesern der Bundesrepublik. Im Zentrum ihres Epos über den Widerstandskampf der Plains-Indianer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht der junge Kriegshäuptling Tokei-ihto, der die Seinen schließlich aus der Reservation in die Freiheit nach Kanada führt. Die einbändige Urfassung bildete auch die Grundlage für den ersten, nicht minder erfolgreichen DEFA-Indianerfilm mit Gojko Mitić in der Hauptrolle. In den folgenden Jahren hat die Autorin den Text um die Vorgeschichte der Jugend von Tokei-ihto immer mehr erweitert und schließlich ein sechsbändiges Werk daraus gemacht.
Wie Karl May hat auch Liselotte Welskopf-Henrich ihre ersten Indianer erst Jahre nach dem großen Erfolg ihrer Romane gesehen. Zwischen 1963 und 1974 unternahm sie mehrfach Reisen in die USA und Kanada, bei denen sie auf verschiedenen Reservationen weilte. Führer des American Indian Movement wie Russell Means, Dennis Banks und Vernon Bellecourt besuchten sie in ihrer Ostberliner Wohnung. Für ihre Verdienste um ein menschliches Bild der nordamerikanischen Indianer wurde Welskopf-Henrich von den Lakota der Ehrenname Lakota-Tashina („Schutzdecke der Lakota“) verliehen.
Ihr mehrfach ausgezeichnetes und in über ein halbes Dutzend Sprachen übersetzte Werk gehört bis heute zu den besten Indianerromanen (nicht nur) für junge Leser. Wer sich wirklich im besten Sinne unterhalten lassen will und sich darüber hinaus auf fesselnde Weise mit der Kultur und Geschichte der Plains-Indianer auseinandersetzen möchte, der wird sich der Faszination der Söhne der Großen Bärin nicht entziehen können, sondern die Bücher nicht vor der letzten Seite weglegen und sie auch später gerne immer wieder zur Hand nehmen.
Claudia Roch
Zündstoffe
Es gibt Bücher, an die gerät man nahezu im Vorbeigehen, und stellt dann fest, dass sie etwas Faszinierendes enthalten – einen Zündstoff, Ideen, den Versuch einer Antwort auf Probleme, die die Gegenwart und die nahe Zukunft betreffen und verdüstern. Man sieht einen Titel in einer Buchhandlung, Verfasser ist einem unbekannt, aber man schaut mal hinein und ist gefangen. Mir ging es unlängst so mit Paul Masons Buch Clear Bright Future – A Radical Defence of the Human Being, erschienen 2019 bei Allen Lane, einem Imprint der Penguin Books (später stellte ich dann noch fest, dass es nahezu zeitgleich auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen war, wo es Klare, lichte Zukunft – Eine radikale Verteidigung des Humanismus heißt.) Der britische Autor unternimmt darin nichts Geringeres, als den anscheinend weltweiten Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen, die mehr oder weniger unverhohlen die Universalität demokratischer Freiheitsrechte aushebeln und durch aggressive Nationalismen ersetzen wollen, mit der Bedrohung durch Überwachung, Kontrolle und Manipulation mittels der rasant fortschreitenden Entwicklung der so genannten Künstlichen Intelligenz (KI) zusammenzudenken. Er beschreibt, analysiert und legt einen Gegenentwurf vor, oder formuliert doch zumindest Prinzipien, die einen solchen möglich machen.
Mason ist freischaffender Journalist (hauptsächlich fürs Fernsehen), preisgekrönter Buchautor, Filmemacher und linker Aktivist. Er hat u. a. für die BBC gearbeitet und war Leiter der Wirtschaftsredaktion des britischen Senders Channel Four. Er verbindet die Verve des Live-Berichterstatters – etwa von der zusammengeknüppelten Anti-Trump-Demonstration in Washington, DC, am Tag von Trumps Amtsübernahme – mit weit ausgreifenden politischen, ökonomischen und philosophischen Überlegungen. Das seit 2008 offen zutage tretende Scheitern der neoliberalen (Wirtschafts)-Ideologie, die einer ganzen Generation eingetrichtert hat, alles, inklusive das menschliche Verhalten, sei den Regeln des Marktes unterworfen und habe keinen davon unabhängigen Wert, ist für ihn der fruchtbare Nährboden, aus dem die aktuellen Populismen erwachsen sind. Hand in Hand gehen dabei der dadurch erzeugte Fatalismus vieler Menschen sowie die Überzeugung von Teilen der (wirtschaftlichen) Elite; Demokratie mit ihrem potenziellen Universalismus von Menschenrechten habe ausgedient und sei durch unverhohlen autoritäre Systeme mit nationalistischer Ausrichtung zu ersetzen, gestützt durch den Einsatz modernster Informationstechnologie.
Als Kern der Malaise hat Mason das Fehlen eines Bildes vom Menschen ausgemacht, das diesen als sich potenziell durch Handeln in sozialer Gemeinschaft verwirklichendes, Freiheit schaffendes Wesen begreift. Die theoretische Abschaffung des Menschen als Subjekt, der Objektivität der Welt und damit der Möglichkeit von Wahrheit, wie sie die Postmoderne predigte (die sich dabei auf eine Ahnenreihe von Nietzsche bis zu dem französischen Marxisten Louis Althusser berief) hat für Mason in einer dialektischen Volte die zynische Leugnung von Wahrheit durch die Trumps dieser Welt und ihre Ideologen zur Folge gehabt – siehe die „alternativen Fakten“, mit denen in den diversen Meinungsblasen so erfolgreich operiert wird. Elektronische Überwachung und Manipulation, wie sie von autoritären Regimes vorangetrieben wird, vor allem dem chinesischen, und die immer näher rückende Möglichkeit trans- oder posthumanistischer „Optimierung“ bzw. Züchtung von Menschen sind weitere und höchst gefährliche Mittel der totalitären Versklavung des Menschen, dem seine Würde als handlungsfähiges Subjekt abgesprochen wird. Mason setzt dagegen eine antitotalitäre Utopie, die sich aus Ideen des frühen Marx und letztlich aus der Tugend-Ethik des Aristoteles speist: Dass Menschen das „gute Leben“, das heißt die Entwicklung ihrer schöpferischen Potenziale, nicht nur für sich selbst, sondern für die Gesellschaft – letztlich für alle – erstreben sollten. Eine in diesem Sinne ethisch verantwortungsvoll eingesetzte und kontrollierte KI könnte, so Mason, dabei helfen, eine von Ausbeutung und Mangel freie Gesellschaft zu errichten, die zugleich ökologisch verantwortungsvoll wäre. Ob seine Vorschläge, wie man so schön sagt, „realistisch“ sind? Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dass Bücher wie Clear Bright Future ein Mittel gegen Fatalismus und williges Sich-Schicken in eine drohende Herrschaft der Maschinenlogik sind. Und solcher Mittel bedürfen wir meiner Überzeugung nach dringend.
Christoph Sorger
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.