Der MYTHO-Blog liest immer noch 4.0

Träume in Bildern – Die Sandman-Graphic Novel Reihe von Neil Gaiman

Wenn er künftig einen weniger frivolen Gegenstand wählte und sich noch ein bisschen mehr zusammennähme, so würde er Dinge machen, die über alle Begriffe wären.

So urteilte Goethe über die ihm zuvor so wohl noch nie begegneten Bildgeschichten Rodolphe Töpffers, der als Vater des modernen Comics gilt. Comics haben von dort einen weiten Weg zurückgelegt und sind heute ein ganz eigenes kreatives Medium. Sie vereinen Gestaltungselemente der bildenden Kunst mit dem Sequentiellen des Films und der Tiefe des geschriebenen Wortes. Zusätzlich haben sich auch eigene Erfindungen beigetragen wie die Sprechblasen oder das onomatopoetische „PENG“. Obwohl ihre Ursprünge, wie der Name erahnen lässt, eher im Reich des Witzes liegen, gibt es heute eine Vielzahl von Themen, die in ihnen behandelt werden. Graphic Novel hat sich dabei als Begriff für eben die Comicbücher herauskristallisiert, welche sich eher komplexeren beziehungsweise erwachseneren Themen widmen. Und was könnte erwachsener sein, als die Träume und Alpträume der Menschen?

In der Sandman-Reihe, welche sich über 2000 Seiten entfaltet, hat Neil Gaiman in den 90er Jahren die zum heutigen Stand meist ausgezeichneten Graphic Novel Reihe der Welt geschaffen. Protagonist ist der bleiche Dream, der ein wenig (sehr, quasi sein Gleichnis) wie Lead-Singer Robert Smith von The Cure aussieht. Er trägt viele Namen: Oneiros, Morpheus oder Lord L’zoril,- denn er ist alt, uralt. Nicht so alt wie seine große Schwester Death (Tod), aber dennoch… Gemeinsam mit ihren anderen fünf unter dem Buchstaben „D“ stehenden Geschwistern, Destiny (Schicksal), Desire (Verlangen), Delirium (Fieberwahn), Destruction (Zerstörung) und Despair (Verzweiflung) bilden sie die sieben Ewigen (The Endless), die als „anthropomorphe Personifikationen“ kategorisch noch über den Göttern stehen. Und wo schon Goethe seinen Prometheus erkennen lässt, dass sich Götter kümmerlich von Opfersteuern und Gebetshauch nähren, brauchen auch bei Neil Gaiman die Götter die Bewunderung oder Furcht der Sterblichen. Nur die Ewigen sind von derlei unabhängig und bestehen, ob an sie geglaubt wird oder nicht.

Die Handlung spielt sich nicht nur in der physischen Welt ab, sondern auch im Traumreich (The Dreaming) und in anderen metaphysischen Dimensionen wie der biblischen Hölle. Der Sandman-Kosmos ist ebenso in das DC-Universum eingebettet, also der gleichen Welt, die auch Batman, John Constantine und die anderen Superhelden der Justice League beheimatet. Dazu werden weitere mythologische und religiöse Figuren eingebunden. Loki, die Musen, etwas wie die Moiren, Thor, Lucifer, Beelzebub und viele mehr kommen vor. Aber auch historische Akteure aus unserer Welt wie Mark Twain, Shakespeare und Caesar haben ihre Rollen. Durch eben diese Vermischung entsteht ein nahezu greifbarer Raum, der viele Regeln bricht, aber eben deswegen einen unheimlichen Sog entfalten kann. Wer hier eintaucht und erlebt, wie die kaleidoskopartigen Geschichten und Untergeschichten zu einem Ganzen verwebt werden, erfährt eine einzigartige Bühne für das Drama des Menschseins. In dieser können psychologische und anthroposophische Untersuchungen angestellt werden wie kaum woanders. Was bedeutet es, Träume zu haben und was wäre die Welt ohne sie? Was bedeutet es zu sterben? Verfallen Menschen ohne Anerkennung dem Wahnsinn oder sind die, die nach Anerkennung gieren, schon lange über die Klippe gegangen? Es gibt geheime Veranstaltungen für Serienmörder. Katzen träumen von einer Welt, die ihnen angemessener erscheint. In einem 24-Stunden-Höllentrip in einem amerikanischen Diner werden Abgründe des Menschseins ausgelotet. Mobbing, Missbrauch, viel Unangenehmes wird beleuchtet.

Auch gesellschaftlich ist The Sandman divers und seiner Zeit voraus gewesen. Queere, Schwule, Trans-Personen. Sie, die außerhalb der Mehrheitsnorm stehen, waren selbstverständlicher Teil von Neil Gaimans Lebenswelt, und er wollte diese Tatsache in seinem Werk widergespiegelt sehen. Dabei werden diese Facetten des Menschseins als eben genau das behandelt, was sie sind – Facetten. Anteile einer Person. Selbstverständlichkeiten. Das unterscheidet sie von der heutigen Kommerzialisierungswelle der Sexualität, welche unter der Fahne einer scheinbaren Befreiung des Menschen diesen in identitäre Muster drängt. Vermutlich, weil der Werbe-Algorithmus so besser sehen kann. Gaiman interessiert sich nicht für Maskenmenschen. In The Sandman schreibt er, was er am besten schreibt – faszinierende Charaktere voller Tiefgang.

Jedenfalls beginnt die Geschichte (oder sollte man sagen „die Geschichten beginnen“?), wenn ein englischer Magier bei dem Versuch, den Tod gefangen zu nehmen, versehentlich den Herren der Träume erwischt. Jahrzehnte verbringt dieser in Gefangenschaft, seinen fordernden Aufsehern keinen Zentimeter entgegenkommend. Bis seine Zeit gekommen ist und er den ihm zustehenden Platz wieder einnimmt. So nimmt die Geschichte ihren Anfang, doch alles andere, muss man selbst erfahren.

Ein Beitrag von Sebastian Helm


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .