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Das Geheimnis des Tutanchamun

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ Die Eröffnung von Thomas Manns Romanwerk „Joseph und seine Brüder“ spiegelt in Worten das, was sich 1922 im ägyptischen West-Theben abspielte, auf präzise und fast schon ein wenig sarkastische Weise wider. KV62 – das 62. Grab im Tal der Könige war das Ziel des britischen Archäologen Howard Carter (1874-1939). Es sollte die Krönung seiner Karriere darstellen und sowohl die „Tutmania“ auslösen als auch Gerüchte, Ängste und Fantasien über Gräber, Mumien und Flüche beflügeln.

Und so lädt die Ägyptologin und Kunsthistorikerin Nadja Tomou Leserinnen und Leser ein, teilzuhaben an den spannenden Hintergründen von Carters Ausgrabung des Pharaos Tutanchamun. Dessen goldene Totenmaske steht, gemeinsam mit den Pyramiden von Gizeh und dem Tempel von Abu Simbel, als Inbegriff für das Alte Ägypten. Dabei ist über das Leben des Königs, der das Neue Reich (18. Dynastie) etwa von 1332 bis 1323 v. Chr. regierte und bei seinem Ableben zwischen 18 oder 20 Jahre zählte, relativ wenig bekannt. Sein Vater war Echnaton, der dem Reich ein wenn auch kurzes monothetisches Intermezzo (Aton-Kult) verordnete. Als Tutanchamuns Mutter kommen Nofretete, deren Tochter Maketaton oder auch eine Nebenfrau Echnatons in Frage. Tutanchamon restaurierte den Kult des Amun und führte das Reich damit zurück zu den alten Göttern. Er tat sich, wie seine Vorgänger, durch Bautätigkeiten hervor, litt an Skoliose und Malaria und starb vermutlich an den Folgen eines Jagdunfalls.

Der doch recht unerwartete Tod führte zu einem hastigen Begräbnis und ist wohl die Folge, dass der junge Pharao in einem Grab beigesetzt wurde, das von seiner Lage her einer vollständigen Plünderung entging, bis es nach 3300 Jahren mitsamt seinen Schätzen und unter dem tosenden Jubel der Medien eine Auferstehung sondergleichen erfuhr. Jeder Fortschritt von Carters Entdeckung wurde von Touristen als auch Journalisten neugierig und kritisch beäugt. Oft erschwerten die Menschenmassen die Fortschritte von Carters Team. Fast täglich gab es neue Schlagzeilen. Es schien, dass die Welt nach dem verheerenden Krieg von 1914-1918 geradezu süchtig war nach einer Ablenkung von der Wirklichkeit mit all ihren zerstörten Illusionen, Ambitionen und Körpern. Der Blick in ein vergangenes, durch seine Funde geradezu goldenes Zeitalter kam als Ablenkung gerade recht.

„Das Interesse an Carters Entdeckung im Tal der Könige nahm hysterische Züge an. Presseleute stürmten am Ende eines Tages auf Eseln, Pferden, Kamelen und anderen Fortbewegungsmitteln durch die Wüste zum Telegrafenamt, um ihre Zeitung mit weiteren Schlagzeilen frisch vom Grab zu versorgen.“ (S. 214)

Die „Tutmania“ war geboren und wurde zu einem globalen Phänomen. Vor allem in Großbritannien war man auf die Entdeckung stolz. Zumal Carters Ausgrabung auch noch vom britischen Aristokraten und Abenteurer George Herbert, 5. Earl of Carnarvon, finanziert worden war. Carnarvon war bereits vor Tutanchamun Carters Mäzen und Begleiter, wiewohl das Temperament der beiden Gentleman unterschiedlicher nicht hätte sein können. Indem Tomou die beiden Biografien mit in die Entdeckungsgeschichte einwebt, gelingt ihr neben aller historischen Fakten auch ein Zeitporträt von den Bedingungen der Grabungen in Ägypten Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bei denen diplomatisches Taktieren und Konkurrenz nicht ausblieben. Zudem erfährt man Details über den Umfang des Grabschatzes sowie über die Hintergründe von Mumien (auch in Film und Fernsehen), die sich in zerkleinerter Form als „Mumia“ bereits seit vielen Jahrhunderten großer Beliebtheit erfreuten, sollte die Essenz doch als Heilmittel gegen sämtliche Krankheiten wirken. Der Brunnen der Vergangenheit ist also im wahrsten Sinne des Wortes tief und auf ganz eigene Weise unergründlich. Ob Thomas Mann auch an die „Tutmania“ dachte, als er die Sätze schrieb („Joseph und seine Brüder“ wurde zwischen 1933 und 1943 veröffentlicht), darüber darf freilich spekuliert werden.

Nadja Tomous Buch ist allen zu empfehlen, die sich an Zeit-, Biografien- und Altertumsgeschichte erfreuen, ist aber auch an jene gerichtet, die das Alte Ägypten erst neu oder aus der Sicht seiner Ausgräber entdecken wollen. Insgesamt eine unterhaltsame und lehrreiche Lektüre.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm


Buchtipp:

Nadja Tomou. Das Geheimnis des Tutanchamun. Der goldene Pharao und seine abenteuerliche Wiederentdeckung. C.H.Beck: 2022.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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