Der MYTHO-Blog liest immer noch 1.0

Liebe Leserinnen und Leser des MYTHO-Blogs,

endlich ist es wieder soweit! Nach drei Jahren Wartezeit heißt es wieder „Lesen frei“ zur Leipziger Buchmesse. Sich ins Getümmel der Neuerscheinungen werfen. Altbekannte und neue Autorinnen und Autoren kennenlernen. Autogramme und Werbetaschen jagen. Sich durch volle Messehallen und Buchhandlungen kämpfen. Oder einfach nur die unzähligen Flüsse aus Worten genießen. Bereits in der vergangenen Woche haben wir uns ganz philosophisch, mythisch und astronomisch mit Friedrich Nietzsche und Elmar Schenkel auf die Lektüre eingestimmt und uns zu den Sternen aufgemacht. In dieser Woche wollen wir beweisen, dass Bücher eine durch und durch irdische Angelegenheit sind. Oder doch nicht? Von erzählenden Häusern wird dieser Tage die Rede sein, von Wechselbälgern, von wiederentdeckten Mumien und last but not least vom legendären Sandmann – dem Hyd’schen Zwilling des allseits beliebten Sandmännchens. Denn Bücher haben durchaus eine dunkle Seite. Und dabei sind sie irdischer denn je. Quod esset demonstrandum. Und nun viel Freude beim Lesen.

Ihr Team vom MYTHO-Blog

Die Lebenden und die Geister

Was passiert, wenn das Haus, in dem wir wohnen, beginnt, sich, seine Umgebung und uns als seine Bewohner*innen zu schildern? Was ist, wenn das Haus der auktoriale Erzähler wird, aus dessen Sicht eine Familiengeschichte aufgerollt wird? Würden wir in der Geschichte unseres Hauses gut wegkommen oder gar nicht bemerkt werden? Identifizieren sich unsere Häuser mehr mit uns als wir mit ihnen?

Die Belgierin Diane Meur lässt uns in dem Gutshaus eine sensible und aufmerksame Person erkennen, die nicht zu betrügen ist. Manchmal kann es ein Gespräch nicht zu Ende verfolgen, weil die Menschen sich im Garten spazierend zu weit von ihm entfernen. Sonst ist es ein sorgsamer Chronist. Als Haus hat es den täglich gleichen Ausblick auf seine Landschaft im Verlauf der Jahreszeiten, es bemerkt das Kommen und Gehen von Personen, im Falle der Lebenden und der Geister sind es Gutsherren und Verwalter einer Familie in Galizien, Familienmitglieder, beliebte und weniger beliebte, Tiere, Nachbarn, der Arzt, die künftigen Schwiegersöhne, Verehrer und Verschwörer. Aber es bemerkt auch die Veränderungen an sich selbst: das Altern, das Renovieren des Salons im Stil der Zeit, die Geheimverstecke der nistenden Vögel. Es kann aus der Sicht der Gardinen und Vorhänge erzählen, aus der Sicht der vergoldeten Zierleisten. Aufstieg und Fall einer Familie sind ablesbar an den Arbeiten am Haus. Ist Geld da für Neu- und Anbauten oder zeigt der Verfall von Räumlichkeiten einen Mangel an diesem und damit etwas von den Zeitläuften draußen? Ja, der Bauzustand spiegelt den Zustand der Familie über ein Jahrhundert und vier Generationen. Wichtig sind auch die Umzüge: aus dem Haus, ins Haus, aber auch zwischen den Zimmern. Erhält das junge Paar eine eigene Wohnung? In welchen Räumen wird der neue Verwalter wohnen? Eine Vorliebe des Hauses ist Emotionalität. Es liebt die Stimmung, wenn die Stimmen schrill werden, die Türen knallen, Tränen fließen und aufgebrachte Jugendliche hinausrennen. Natürlich liebt es auch das zärtliche Geflüster von Liebesleuten. Es kennt nicht nur die Dialoge der Herrschaft, es kennt auch die des Geschirrs in der Küche und die der Hausmädchen. Manchmal erzählt das Haus von Besuchen im Dorf oder in den Läden der nahen Stadt, die es eigentlich nicht erlebt haben kann. Doch es merkt, dass wir Lesenden das merken und bekennt schnell, das nicht selbst erlebt, sondern nur aus Gesprächen erfahren zu haben. Es ist ein ehrliches altes Haus! Es macht nicht gemeinsame Sache mit dem Spion! Es weiß alles, was der Spion gern wüsste, aber – es hat keinen Auftraggeber und verrät keinem seine Geheimnisse.

Als Haus versteht es nicht vordergründig etwas von Politik. Aber es sieht, wie am hinteren Rand ihres Blickfeldes Bäume geschlagen werden für die Trasse der kommenden Eisenbahn und wie diese in Betrieb genommen wird. Es nimmt wahr, wenn sich aufgeregte unangekündigte Besucher mehren, manche in Uniformen. Es spürt den Aufruhr in seinen Bewohnern und der Umgebung. Es fühlt mit einigen seiner Bewohner mehr als mit anderen. Eine junge Frau der letzten erzählten Generation der Familie liebt und bedauert es so sehr, dass es sich diese als neue Hülle seiner selbst erwählt – mit allen Vor- und Nachteilen, das Leben als Haus aufgegeben zu haben.

Ein Beitrag von Angelika Weirauch


Buchtipp:

Diane Meur: Die Lebenden und die Geister. Verlag Nagel & Kimche 2008.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Titelbild von Lothar Dieterich auf Pixabay

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