Der MYTHO-Blog liest extra 4.0 – Geometrie und Monster

Die Geburt der Religion aus dem Geiste der Geometrie. Edwin Abbott Abbott: Flatland (1884)

Zu berichten ist von einer imaginären Welt, in der wir uns allezeit befinden und ohne die wir gar nicht wären. Die Rede ist von der Geometrie, jene im Räumlichen sich manifestierende Zahlenwelt. Sie ist also gar nicht imaginär, sondern höchst real. Und doch kann das Reale imaginäre Gestalt annehmen, wenn wir es beleben. Ein Schrank, in dem sich eine andere Welt öffnet, wie in den Narnia-Büchern von C.S. Lewis, eine Pfütze, ein Zauberhut wie bei den Mumins … Das Innenleben von Streichholzschachteln oder Zahnbürsten … Überall sind wir umgeben von Welten, die, wenn wir sie näher betrachten, auf seltsame Weise belebt sind und dadurch ins Imaginäre abzurutschen scheinen. Wo die Sinne aufhören, beginnt das Imaginäre.

Dass die Geometrie imaginäre Dimensionen hat – oder besser gesagt, sinnlich schwer nachvollziehbare, kontrafaktische Welten hervorbringt, scheint seit dem 19. Jahrhundert eine neue Idee zu sein. Um 1850 begannen Mathematiker und später auch Künstler oder Schriftsteller, selbst Psychologen und Philosophen von einer vierten Dimension zu reden. Mathematisch gesehen erwuchs die Vorstellung aus neuen Geometrien, die in der euklidischen nicht vorgesehen waren – etwa aus gekrümmten Flächen. Daraus wiederum erwuchs die Idee von Objekten aus höheren Dimensionen, deren geometrische Abdrücke in der dreidimensionalen Welt sichtbar wären. Zunächst handelte es sich bei dieser neuen Dimension um eine Erweiterung des Raumes. Als Zeit wird die vierte Dimension erst mit H.G. Wells‘ Die Zeitmaschine (1895) populär. 1884 spann ein Mathematiker und Philologe, Schuldirektor in London, ein Land aus, das nur aus Linien und Flächen besteht. Das ist die Grundidee des Romans Flatland von Edwin Abbott Abbott (1838-1926). Es ist eine der Fiktionen, die auch gerne von Naturwissenschaftlern gelesen werden. Zunächst einmal tauchen wir in die zweidimensionale Welt ein. Der Erzähler ist ein A. Square, also ein Quadrat. Dort erscheinen Kreise wie eine Münze, die sich auf einer Tischplatte bewegt. Anders erkennt man Dreiecke durch die sich verändernden Linien und durch Helligkeitsänderungen, wenn man ihnen näher kommt. Aber Vorsicht, wenn man die Spitze übersieht! Die Figuren sind gesellschaftlich nach Klassen geordnet. Je mehr Ecken einer hat, desto höher der Status. Ganz viele Ecken und fast rund sind die Geistlichen. Frauen sind nur Linien, niedere Kasten bringen es zu Dreiecken. Man sieht, der Autor macht sich lustig über viktorianische Vorstellungen von der Klassengesellschaft und der Stellung der Frau – oder folgt er nur sexistischen Stereotypien? In einem Traum gerät das Quadrat in das Reich der eindimensionalen Wesen. Es fällt ihm schwer, die Figuren, die nur noch Strecken auf einer Linie darstellen (je länger, desto höherstehender), von einer Welt der Flächen zu überzeugen, aus der er stammt. Noch schlimmer wird’s im Punktland … Schließlich wird ihm jedoch selbst seine eigene Begrenztheit deutlich gemacht, als er in einer Vision Besuch aus der dritten Dimension erhält, nämlich von einer Kugel. Er kann diese höhere Dimension nur erahnen, denn er sieht sie ja mit seinen zweidimensionalen Augen. Das heißt, die Kugel erscheint in sich verjüngenden und vergrößernden Linien – so, wie wenn ein Ball durch eine Ebene sinkt. Hier kommt nun neben der gesellschaftskritischen Komponente noch eine theologisch-religiöse hinzu. Was ist, wenn vierdimensionale Wesen unsere dreidimensionale Welt durchqueren? Wir werden sie nur annähernd erfahren können, und es fällt schwer, aufgrund der spärlichen Spuren eine höhere Welt nachzuweisen. So werden wir in diesem Buch Zeugen der Geburt von Religion aus dem Geiste der Geometrie.

Vor allem haben dieses Buch und ähnliche Gedankenexperimente, etwa auch von Charles Hinton und Claude Bragdon, den Okkultismus und in der Folge die Kunst beeinflusst. Wer weiß schon, dass die schwarzen Quadrate und Linien eines Malevich oder Kupka, Mondrian, die Figuren eines Kandinsky, einer Hilma af Klimt auf eben solche Denkspiele und mehrdimensionale Visionen zurückgehen? Sie alle wollen die Sichtbarkeit des Unsichtbaren spurenhaft zeigen und Gedanken abbilden. Am eindrücklichsten tat dies übrigens Salvador Dalí mit seinem Gemälde „Crucifixión“, auch als corpus hypercubus bekannt: Hier ist Jesus auf einem Kubus gekreuzigt, einem sogenannnten Tesseract, der die 3-D-Version eines vierdimensionalen Objektes darstellt. Ein weiter Weg vom viktorianischen Flatland in die künstlerischen Untiefen und abstrakten Unhöhen des 20. und 21. Jahrhunderts, der aber auch zeigt, wie Geometrie die Phantasie befruchten kann.

Ein Beitrag von Elmar Schenkel


Literaturhinweis:

Von den fünf deutschen Übersetzungen sei diese empfohlen: Edwin A. Abbott: Flächenland. Ein mehrdimensionaler Roman. Übers. v. Joachim Kalka. Klett-Cotta, Stuttgart 1982.

https://en.wikipedia.org/wiki/Tesseract#In_popular_culture (abgerufen 15.5. 2021)


H. P. Lovecraft – Der Meister des kosmischen Horrors

Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) ist wohl der bedeutendste Autor unheimlicher Phantastik des 20. Jahrhunderts. Der „Einsiedler von Providence“, wie ihn manche nennen, schuf mit seinen schaurigen Geschichten über alte kosmische Götter und ihre Erdendiener die Grundlage all dessen, was uns Freunde der Horrorliteratur noch heute so begeistert: nervenaufreibende Spannung, ein wohliges Schaudern und manchmal einen leisen Zweifel, ob nicht doch irgendetwas Wahres an seinen Geschichten ist.

Ich empfehle Lovecrafts Geschichten, da er einer modernen, in Technik und Wissenschaft weit entwickelten Gesellschaft ein Grauen gegenüberstellt, welches diese nicht erklären kann. Seine Erzählungen beschreiben einen unbedeutenden, im Weltall umherirrenden Planeten mit seinen Bewohnern und neben ihr uralte und mächtige Gottheiten, die außerhalb der Zeit stehen: die großen Alten. Diese Wesen lauern zusammen mit ihren Dienern im Schatten und interessieren sich in keinster Weise für die Menschheit und deren Schicksal, da sie ihr an Wissen und Macht weit überlegen sind. Die Entdeckung einer solchen fremden Realität und den damit verbundenen, aus dem Urchaos entspringenden Gräueln würde uns Menschen in den Wahnsinn treiben. Lovecrafts Charaktere stolpern (meist durch Zufall) über Reste solcher äonenalter Kulturen und müssen erkennen, dass die Menschheit einer solchen Macht nicht gewachsen ist. Das Böse ist bei Lovecraft also kein kineastischer Gegenspieler, der am Ende von dem Helden besiegt wird. In seinen Geschichten sind die Wesen und Monstren wahrhaftig eine Verkörperung des Bösen. Dies bedeutet auch, dass „die Guten“ alles andere als sicher sind. Bei Lovecraft gibt keinen Gott, der sie vor dem Bösen schützt und damit auch keine Erlösung – nur die Unendlichkeit eines kalten schwarzen Kosmos, dem die Menschheit ausgeliefert ist. Das ist die lovecraftsche Antwort auf die alte Frage: Was liegt draußen im All, hinter den Sternen? Ob sie gefällt oder nicht, ist dem Leser seiner Geschichten überlassen.

Der nun neugierig gewordener Leser wird vielleicht erst einmal zu der berühmten Erzählung Der Ruf des Cthulhu greifen, in der Hoffnung, doch endlich Aufklärung über dieses ominöse Wesen zu erhalten. Ich entgegne diesem Leser, dass er dies gerne tun kann, gleichwohl handelt es sich hier um ein zweischneidiges Schwert, denn einerseits besteht die Gefahr, mit dem „Cthulhuvirus“ infiziert zu werden (was keineswegs eine Schande wäre), andererseits mag sich angesichts der aus verschiedenen erzählerischen Fragmenten aufgebauten und ins Dokumentarische abgleitenden Erzählweise der eine oder andere Leser abgeschreckt fühlen. Dies bedeutet aber natürlich nicht, dass man zu Beginn mit Der Ruf des Cthulhu nicht gut beraten wäre. Aber ich will noch ein paar alternative Vorschläge anbringen, die sich gut für den Einstieg in Lovecrafts Werk eignen. Ich für meinen Teil kann guten Gewissens sagen, dass Erzählungen wie Der Flüsterer im Dunkeln, Berge des Wahnsinns und Die Farben aus dem All einen freundlichen ersten Eindruck von Lovecrafts schriftstellerischen Fähigkeiten vermitteln.

Warum lohnt es sich also, Lovecraft zu lesen? Sicherlich liegt einer der Hauptgründe darin, dass er es auf ausgezeichnete Art und Weise versteht, den Leser am Schicksal seiner Protagonisten teilhaben zu lassen. Lovecraft hält seine Leser meistens über das, was genau passiert, im Ungewissen. Halbwahrheiten und Andeutungen dominieren seine Erzählungen und erzeugen dadurch den klassischen „Kopfkino-Effekt“, welcher der Fantasie gerade so viel Raum lässt, um das Unvorstellbare in jenem Maße zuzulassen, dass es in den Bereich des Möglichen fällt. Hierdurch entsteht die eigentliche Freude beim Lesen: sich genussvoll dem Gedanken hinzugeben, dass es dank Lovecraft Erklärungen für Geschehnisse gibt, die über die Möglichkeiten des gesunden Menschenverstandes hinausgehen. Denn beim Lesen seiner Werke wird mir immer wieder klar, dass es ist nicht die Angst vor dem Monster, sondern die Angst vor der Welt ist, in der das Monster lebt, eine Erkenntnis, die mich wohlig schaudern lässt. Diese Unkenntnis des Unbekannten ist es auch, warum seine Erzählungen so grandios funktionieren. Nicht umsonst ist Lovecrafts wohl bekanntestes Zitat:“Die älteste und stärkste Emotion des Menschen ist Angst, und die älteste und stärkste Angst ist jene vor dem Unbekannten„. Lovecraft lesen heißt, sich dieser Angst zu stellen.

Ein Beitrag von Leonhard Lietz


Literaturhinweise:

Chronik des Cthulhu-Mythos. FESTA-Verlag 2011.

The Complete Fiction of H. P. Lovecraft. Race Point Publishing 2014.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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