Herzog Ernst – Ein Abenteuerbuch aus dem Mittelalter
Es ist schon so eine Sache mit dem Abenteuer: Ferne Länder locken mit exotischen Reizen unbekannter und ungeahnter Natur. Klar, dass da so manch einer Fernweh bekommt und am liebsten sofort mit gepackten Taschen losziehen möchte. Doch was passiert, wenn man gezwungen wird, seine Heimat zu verlassen und sich dem Unbekannten stellen muss?
Der Abenteuerroman Herzog Ernst ist die Erzählung eines höfischen Ritters, über seinen Aufstieg und Fall und schließlich seine triumphale Rückkehr in die Heimat. Die Geschichte ist schnell auf den Punkt gebracht: Ernst, ein strahlender Ritter wie er im Buche steht, fällt einer Intrige am kaiserlichen Hofe zum Opfer. Bei seinem Stiefvater, Kaiser Otto, in Ungnade gefallen, muss Ernst sich schließlich mit Waffengewalt zur Wehr setzen. Allerdings ist die Übermacht der ehemaligen Verbündeten und nun Feinden zu groß. Gezwungen, seine Heimat zu verlassen, beschließt unser Held, zum Kreuzzug ins Heilige Land aufzubrechen. Dass dieses Vorhaben natürlich nicht glatt verläuft, ist klar. Der Herzog und seine Gefährten erleiden Schiffbruch und erleben wunderliche Abenteuer im fernen Orient.
Was mich am meisten am Herzog Ernst beeindruckt und der Grund ist, warum ich dieses Werk seit einiger Zeit wieder hervorgeholt habe, beruht weniger auf der Handlung an sich. Denn diese ist im Grunde schnell erzählt und – Germanistikstudenten aufgepasst – stilistisch weniger beeindruckend als die zeitgenössische Abenteuerliteratur. Nein, was mich den Herzog lieb gewinnen lässt, ist die Faszination, dass sich vor gut 900 Jahren ein uns unbekannter Autor (Mediaevisten gehen aktuell von einem Kleriker vom Niederrhein aus) hinsetzte und einen im Grunde historischen Roman verfasst hat. Als Vorlage dazu wird ihm wahrscheinlich der Konflikt zwischen Kaiser Otto I. und seinem Sohn Liudolf in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts gedient haben.
Neben den vielleicht trockenen historischen Hintergründen ist eine weitere Sache der Grund, warum es sich lohnt, diese alten Stoffe heutzutage zu lesen: Bei der Lektüre dieser Texte wird mir immer wieder aufs Neue vor Augen geführt, wie neugierig und wissensdurstig die Menschen schon zu jener Zeit gewesen sein müssen. Der Drang, die Welt zu verstehen und zu ordnen, wissen zu wollen, was sich hinter dem Horizont verbirgt, wird im Herzog Ernst ebenso behandelt wie die höfische Politik am Kaiserhof. Letztere ist nämlich nur der Aufhänger, um die Geschichte in Gang zu bringen. Der Hauptteil der Handlung spielt eben in jenem mythischen Orient, den man nicht umsonst schon im Mittelalter mirabilien Orient – wundersamer Orient – genannt hat. Dort, so stellte man sich vor, leben Wesen wie die kriegerischen Kranichmenschen, Riesen und Pygmäen. Oder die kuriosen Platthufler, die zwar nur einen Fuß besitzen, sich mit diesem aber auch zur Not vor Regen schützen können, indem sie sich den Fuß wie einen Regenschirm über den Kopf halten. Gegen all diese Kreaturen müssen sich Ernst und seine Gefolgsleute beweisen, sei es mit dem Verstand oder mit dem Schwert. In welcher Situation, und warum Ernst sich für das eine oder das andere entscheidet, dass muss der Leser allerdings selbst herausfinden.
Die Geschichte von Herzog Ernst ist also eine Reise in eine fremde, eine wundersame Welt, die den heutigen Leser nicht nur über die Tugenden und Untugenden des Ritterseins und den Tücken höfischer Politik aufklärt, sondern auch von kultureller Erfahrung und der Faszination des Fremden erzählt.
Ein Beitrag von Leonhard Lietz
Literaturhinweis:
Herzog Ernst. Mittelhochdeutsch-Neuhochdeutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Bernhard Sowinski. Stuttgart: Reclam 2019.
Einmal Indien und zurück – die imaginäre Reise des Sir John Mandeville
Im Jahre 1322 brach der englische Ritter John Mandeville zu einer Reise auf, die ihn als Pilger nach Jerusalem und anderen legenden- und wundergesättigten Stätten der biblischen Geschichte führen sollte, aber auch nach Ägypten und weit darüber hinaus, durch Mittelasien bis nach China und Indien. Nach seiner Rückkehr, während er in Lüttich seine Gicht behandeln ließ, schrieb er ein Buch darüber, auf Französisch, eine Sprache, die damals viele gebildeten Laien beherrschten. Das Lesepublikum konnte sich hier anscheinend aus erster Hand etwa über das von den Mamelucken-Sultanen beherrschte Heilige Land und andere moslemische Gegenden unterrichten lassen. Sir John, der einerseits einen neuen, erfolgreichen Kreuzzug ersehnte, trat andererseits zeitweise in die Dienste des Sultans in Kairo und disputierte mit ihm über Religion – und über das von den Mongolen eroberte und von ihnen vorbildlich verwaltete, wohlhabende und Europa in vielem übertreffende Cathay (Nordchina), über den legendären (christlichen) Kaiser Indiens namens Priester Johannes (den es nie gab) und über diverse Inselwelten, die man heute kaum auf einer Karte finden würde (östlich von Syrien war die mittelalterliche Geographie höchst verschwommen).
Sir John wusste von Völkern mit wunderlichen Gebräuchen – z. B. Menschenfresser verschiedener Couleur oder auch nudistische Urkommunisten, die leider das Fleisch gemästeter Kinder besonders schmackhaft finden – und von seltsamer Gestalt, mit nur einem Bein, mit Hundekopf oder ganz kopflos, mit nach hinten gedrehten Füßen usw., von denen viele freilich schon seit der Antike die Vorstellung von der Welt bevölkerten.
Sir John hat den ersten Bestseller Europas geschrieben. Insgesamt haben sich gut 300 z. T. kostbar illuminierten Handschriften erhalten, die freilich teilweise textlich variieren, und nach Erfindung des Buchdrucks ließ seine Beliebtheit für einige Jahrhunderte nicht nach. Offenbar übten seine Berichte eine Faszination auf die Leser aus. Neben vergleichsweise soliden landeskundlichen Informationen las man da von einer schönen Jungfrau auf einer griechischen Insel, die in einen Drachen verwandelt worden war und noch immer des Kusses harrte, mit der ein Ritter sie erlösen würde; von einem Tal in Mittelasien, das eine Art Vorhölle mit furchteinflößender steinerner Teufelsfratze und dämonischen Bedrängnissen war und das Sir John selbst unter Lebensgefahr durchquert haben und vom Jungbrunnen, aus er selbst getrunken haben wollte. Und vom Paradies ganz im Osten am Ende der Welt, wo die Erde so hoch ist, dass sie fast an die Umlaufbahn des Mondes stößt. Dort aber war Sir John nicht, denn, wie er bescheiden bemerkte, er sei dessen nicht würdig, und man gelange dort überhaupt nur mit Gottes Gnade hinein.
Das Wunderbare neben nüchternen Beschreibungen war auch in anderen Reiseberichten der Zeit zu finden, bei Marco Polo ebenso wie bei heute weniger bekannten Autoren wie Wilhelm von Rubruck, Wilhelm von Bodensele oder Oderic da Pordenone. Sir John aber übertrumpfte sie alle an Bekanntheit. Auch spätere Reisende wie Columbus und Sir Walter Raleigh hielten große Stücke auf ihn. Columbus wurde durch seine Ausführungen zur Kugelgestalt der Erde (unter den mittelalterlichen Gelehrten zwar kaum umstritten, vielen Laien aber unbekannt) darin bestärkt, den westlichen Seeweg nach Indien zu finden, Sir Walter wollte Sir Johns kopflose Menschen sogar selbst gesehen haben (in Südamerika). Aber Sir John war höchstwahrscheinlich nie in China, Indien oder auf exotischen Inseln, sondern nur in einer vorzüglich ausgestatteten Bibliothek gewesen. Er hat sein Buch nachweislich unter ausgiebiger und freier Benutzung der oben genannten Reiseberichte – Marco Polo kannte er freilich wohl nicht – sowie einer stattlichen Anzahl antiker und mittelalterlicher Werke verfasst, von der Naturgeschichte des Plinius bis zu mittelalterlichen Enzyklopädien. Und vielleicht ist er sogar selbst die Erfindung eines bislang unbekannten Autors …
Lesenswert ist er trotzdem. Es ist spannend und unterhaltsam zu sehen, wie sich reale und legendäre Topographien biblischer oder auch antiker Provenienz und eigener Erfindung überlagern. Ist sein Buch doch paradigmatisch für die Mentalität des Mittelalters, die kaum einen Unterschied machte zwischen überprüfbaren Tatsachen und dem Imaginären, das Legenden und Mythen nährt und bildet und als das System der Träume einer Gesellschaft bezeichnet werden kann (Le Goff, S. 10). Manche dieser Träume können finster sein und mörderische Konsequenzen haben, wie der mittelalterliche Judenhass, den auch Mandeville propagierte. So schreibt er, wohl vor dem Hintergrund des Schwarzen Todes, die Juden hätten alle Christen vergiften wollen, und an anderer Stelle ist bei ihm die Rede von den jüdischen Stämmen Gog und Magog, die Alexander der Große zwischen Bergen und dem Kaspischen Meer eingeschlossen hat und die in Zeiten des Antichrist hervorbrechen und die Christen bekämpfen werden.
Die Zeitgenossen, auch die scharfsinnigen, waren in das Imaginäre ihrer Zeit eingebettet, und auch Reiseberichte, die die Kenntnis von der Welt auf Dauer ja immens erweiterten, waren „fast ausnahmslos eine seltsame Mischung aus zuverlässiger Beobachtung und Sagenüberlieferung“ (Wittkower, S. 146). Was aber nicht zu Überheblichkeit verleiten sollte. Im Nachhinein das Imaginäre des Mittelalters zu sehen, ist relativ einfach. Aber jede Zeit und jede Gesellschaft hat ihre Mythen, ihre Träume, die für sie nicht weniger wirklich sind als es für Sir John und seine Zeitgenossen etwa die vier Ströme des Paradieses waren, die alle übrigen Flüsse und Süßwasserquellen speisten. Das Imaginäre der Gegenwart zu erkennen, das ja auch in der eigenen Vorstellungswelt lebt, ist nicht so leicht – aber ein Stück notwendiger Aufklärung.
Auf Deutsch gibt es Sir John Mandevilles Buch in mehreren Übertragungen, die derzeit wohl nicht im Buchhandel, aber antiquarisch zu haben und natürlich in Bibliotheken vorhanden sind. Sie gehen auf die um 1390 entstandene mittelhochdeutsche Übersetzung Michael Velsers zurück, der seine französische Vorlage leicht gekürzt hatte, und sind alle mit Holzschnitten bzw. Miniaturen illustriert. In den nachfolgenden Literaturhinweisen sind sie aufgeführt. Für eine eingehende Beschäftigung mit Sir John sei freilich Iain Macleod Higgins empfohlen, der die erste auf die französischen Quellen zurückgehende englische Übersetzung seit 600 Jahren vorgelegt und zusammen mit relevantem Material zu Varianten, Quellen und Hintergründen veröffentlicht hat.
Ein Beitrag von Christoph Sorger
Literaturhinweise:
Buggisch, Christian (Übs. und Hrsg.): Reisen des Ritters John Mandeville. Vom Heiligen Land ins ferne Asien. Lenningen: Edition Erdmann 2004.
Grümmer, Gerhard (Übs. und Hrsg.): Johann von Mandeville. Von seltsamen Ländern und wunderlichen Völkern. Leipzig: Brockhaus 1986.
Higgins, Iain Macleod (Übs. und Hrsg.): The Book of John Mandeville with Related Texts. Hackett: Indianapolis /Cambridge 2011.
Krása, Josef (Hrsg.): Die Reisen des Ritters John Mandeville. 28 kolorierte Silberstiftzeichnungen von einem Meister des internationalen Stils um 1400 im Besitz der British Library London. München: Prestel 1983.
Le Goff, Jacques: Heroes and Marvels of the Middle Ages. London: Reaktion Books 2020.
Sollbach, Gerhard E. (Übs. und Hrsg.): Das Reisebuch des Ritters John Mandeville. Frankfurt a. Main: Insel 1989.
Wittkower, Rudolf: „Wunder des Ostens“. In: Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln: DuMont 1984.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Danke, Leonhard, für den Herzog-Ernst-Tipp, muss ihn mir gleich besorgen…