Der MYTHO-Blog liest extra 2.0 – Zeitmaschinen und Expeditionen

H. G. Wells: Die Zeitmaschine

„Über seinen Verbleib gibt es nur Mutmaßungen. Wird er jemals wiederkehren? Vielleicht hat er sich in die Vergangenheit zurückgeschwungen und ist unter die blutrünstigen Wilden der frühen Steinzeit geraten, in die Tiefen des Kreidemeeres oder unter die grotesken Saurier, diese Reptilienungeheuer der Jurazeit. […] Oder er ist in die Zukunft gereist, in eines der nächsten Jahrhunderte, in dem die Menschen noch Menschen sind, die Antwort auf die Rätsel unseres Zeitalters aber bereits gefunden und ihre schwerwiegenden Probleme schon gelöst haben? Eventuell sogar in das Mannesalter des Menschengeschlechtes? Denn ich, für meinen Teil, kann mir nicht vorstellen, daß unsere Zeit, diese Zeit unsicheren Experimentierens, fragmentarischer Theorien und allgemeiner Zwietracht, tatsächlich der Höhepunkt menschlicher Entwicklung sein soll!“ (Die Zeitmaschine, dtv: 2015)

Ein Wundersames ist die Zeit. In der Natur ist ihr de facto alles unterworfen. Im Gegensatz zu Steinen, Bäumen oder zweckerfüllenden Apparaturen ist Zeit für den Menschen indes nicht nur wahrnehmbar, sondern er ist sich ihrer auch bewusst; Menschen respektive Gesellschaften besitzen nicht nur ein soziales oder kulturelles, sondern auch ein historisches Gedächtnis. Was wäre also, wenn sich der Mensch sowohl vorwärts als auch rückwärts in dieser „Geschichte“ bewegen könnte? Herbert George Wells (1866-1946) greift genau diese Frage in seinem Roman „Die Zeitmaschine“ auf. Dieser erschien 1895 und avancierte zu einem Klassiker moderner Science-Fiction. Die Zeit wird darin als „vierte Dimension“ beschrieben, die der namenlos bleibende Zeitreise mit Hilfe einer von ihm geschaffenen Konstruktion erkundet. Allerdings erstreckte sich diese Reise vornehmlich auf die Zukunft, eine Zukunft, in der sich die Menschheit in zwei Rassen aufgespalten hat. In die kindlich-unwissenden Eloi, die nicht zu altern scheinen und ihr Leben in einem dystopischen Paradies verbringen, das – zumindest auf den ersten Blick – weder Sorgen noch Nöte kennt. Wären da nicht die affenähnlichen, der Sprache nicht mehr mächtigen Morlocks, die in einer unterirdischen Welt voller Maschinen leben und sich, wie der Zeitreisende feststellen und erleben muss, die Eloi als Sklaven halten bzw. als Nahrung züchten. Nachdem es ihm gelungen ist, die von den Morlocks geraubte Zeitmaschine wiederzufinden, reist er weiter in die Zukunft, die nun mehr als dreißig Millionen Jahre zählt, in der die Sonne zu einem rotglühenden Ball geworden ist und die Erde von riesigen Krabben bewohnt wird. „Es war faszinierend mitanzusehen, wie die Sonne am westlichen Himmel immer größer und matter wurde und das Leben der alten Erde allmählich verebbte.“ (Die Zeitmaschine, dtv: 2015) Übermannt von Angst und Trostlosigkeit kehrt der Zeitreisende schließlich in die Gegenwart zurück – und man fühlt sich beim Lesen eben dieser Zeilen fast unweigerlich an den Ohrwurm „In the year 2525“ des Duos Zager and Evans erinnert.

Well’s Roman spielt nicht nur mit den Fragen von technischen Möglichkeiten oder den naturwissenschaftlichen Theorien seiner Zeit, sie trägt auch einen sehr sozialen Anstrich. Was ist der Mensch? Was zählt der Mensch? Was passiert, wenn er sich von Maschinen abhängig macht? Fragen, die auch heute, angesichts eines fast schon rasant – vielleicht oft zu rasant – voraneilenden Fortschritts aktueller denn je sind. Die Vision der möglichen Zukunft ist denn auch eher düster als einladend, doch gelingt es Wells trotz des am Ende ungewissenen Schicksals des Zeitreisenden, die Hoffnung zu wahren, die zum einzig wahren Beständigen wird, das alle Zeiten zu überdauern vermag. Ein Ende, das mich beim Lesen immer wieder sehr beeindruckt.

Auch das Kino hat den Stoff der „Die Zeitmaschine“ für sich entdeckt. Während die Verfilmung von 1960 mit Rod Taylor sich realitiv nah an die Buchvorlage hält, nähert sich die Kinofassung von 2002 mit Guy Pierce in der Hauptrolle der Geschichte aus einer anderen Perspektive. In dieser Variante reist der Zeitreisende nicht etwas aus Neugier in die Zukunft, um herauszufnden, was mit der Erde geschieht und was für einen Lauf die Entwicklung der Menschheit nimmt. Die Reise erfolgt, weil der Protagonist trotz seiner Maschine die Vergangenheit nicht ändern kann und glaubt, nur in der Zukunft die Antworten, die er sucht, finden zu können. Ein interessantes Erzählmoment, was einmal mehr zeigt, dass Zeit eben auch in Literatur und Kino relativ ist. Wohin würden wir reisen, wenn wir könnten? Oder genügt es uns am Ende doch, dass wir in gewisser Weise unsere eigenen Zeitmaschinen sind?

Ein Beitrag von Constance Timm

Literaturhinweise:

H. G. Wells: Die Zeitmaschine. Eine Erfindung. Neu übersetzt von Hans-Ulrich Möhring. Mit einem Nachwort zu Leben, Werk und Wirkung von Elmar Schenkel. S. Fischer Verlag: Frankfurt, 2017.

H. G. Wells: Die Zeitmaschine. Aus dem Englischen übersetzt von Anne Reney und Alexandra Auer. 18. Aufl. dtv: München, 2015.


Jules Verne: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Bereits als Kind war ich ein Fan vergangener Erdzeitalter. Zu verdanken habe ich dies vor allem einem Buch: Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde (Originaltitel: Voyage au centre de la terre). Von Reisen in imaginäre (Unter)Welten hatten zuvor schon andere Dichter und Autoren erzählt, man denke nur an Vergils Aeneis (Buch 6) oder Dante Alighieris Divina Commedia (Inferno). Doch ist der Roman Die Reise zum Mittelpunkt der Erde des Franzosen Jules-Gabriel Verne (1828 – 1905) das erste Werk, welches das Erleben einer anderen Welt mit Wissenschaft und Fiktion verknüpft.

Zum Inhalt: Ein altes Pergament mit einer verschlüsselten Inschrift sorgt für Unruhe im Hause des Hamburger Gelehrten Otto Lidenbrock, seines Zeichens Hochschulprofessor und ebenso geachtete wie gefürchtete Koryphäe im Fach Mineralogie. Nach der Androhung des Professors, niemand im Hause werde etwas essen, bis das Rätsel gelöst ist, gelingt es Axel, Lidenbrocks Neffen, den Text zu entschlüsseln. Doch wie erschrocken ist der junge Mann über das, was da zu lesen steht: „Steig hinab in des Sneffels Yocul, den der Schatten des Skartaris vor dem ersten Juli liebkost, kühner Wanderer, und du wirst zum Mittelpunkt der Erde gelangen. Was ich getan habe. Arne Saknussemm“ (Reise 1987, S. 46)

Axel befürchtet, sein Onkel werde dies umgehend in die Tat umsetzen. Er soll Recht behalten. Lidenbrock lässt umgehend die Koffer packen – nichts kann ihn davon abhalten, den Spuren des (von Verne erfundenen) Forschers und Alchemisten Saknussemm zu folgen, sprich, nach Island zu fahren und in den erloschenen Vulkan hinabzusteigen. Sein widerstrebender Neffe muss ihn begleiten.

Wissenschaftliche Gegenargumente – z.B. den Einwand, dass gängigen Theorien zufolge das Erdinnere viel zu heiß sei, um sich darin aufzuhalten – schmettert der eigenwillige Professor ab; er hält dagegen, der Erdkern könne nicht flüssig sein, da er sonst ebenso wie die Meere der Gravitationskraft des Mondes ausgesetzt wäre, was regelmäßige Erdbeben zur Folge hätte, analog zum Wechsel der Gezeiten. (Wie wir heute wissen, herrschen im Erdinneren bereits ab 14 Kilometern Tiefe Temperaturen ab 300 Grad Celsius, im flüssigen Erdkern ist es mindestens unvorstellbare 6000 Grad Celsius heiß.)

Die zwei Gelehrten reisen also auf schnellstem Wege gen Norden und heuern unterwegs den Isländer Hans Bjelke an. Der richtige Einstieg am erwähnten Vulkan wird gefunden und nun betreten die Expeditionsteilnehmer eine Unterwelt, die so bizarr, schrecklich und schön ist, dass sie vermutlich bereits damals nicht wenigen Lesern des Nachts aufregende Träume beschert haben mag.

Der Leser reist mit Lidenbrock und seinen Gefährten durch verschiedene Gesteinsschichten und Erdzeitalter, entdeckt Fossilien, begegnet diversen Urzeittieren und sogar frühen Hominiden. Man verirrt sich mit ihnen in labyrinthischen Gängen, wird von Felsstürzen bedroht, gerät auf einem unterirdischen Meer in schweren Sturm, kämpft gegen das Verdursten und gegen bedrohliche Kreaturen.

Jules Vernes utopischer Roman wurde erstmals 1864 herausgegeben; die Nachauflage erschien 1867, ergänzt um zwei Kapitel und zusätzliches wissenschaftliches Material sowie um 56 Zeichnungen des Illustrators Édouard Riou, der auch zahlreiche andere Werke Jules Vernes gestaltete. Der Verleger Pierre-Jules Hetzel hatte 1866 die sehr erfolgreiche Reihe Les Voyages Extraordinaires (dt. Die außergewöhnliche Reisen) ins Leben gerufen, die den Großteil der Werke Vernes enthält; Die Reise zum Mittelpunkt der Erde ist der dritte Band. 1873 schließlich gelangte der Titel auf den deutschen Markt. Dem Roman war von Anfang an großer Erfolg beschieden; er verhalf seinem Autor, dessen Erstlingswerk Fünf Wochen im Ballon (Cinq semaines en ballon) bereits großes Aufsehen erregt hatte, zum endgültigen literarischen Durchbruch.

In 45 Kapiteln entwirft Verne eine atemberaubende Welt, die parallel zu der unseren „hier oben“ noch existieren könnte. Packend und überaus plastisch gelingt es dem Autor, diverse Vorstellungen von Entwicklung und Beschaffenheit der (inneren) Erde vor dem geistigen Auge des Lesers lebendig werden zu lassen. Dass er Axel hier als Ich-Erzähler vom Erlebten berichten lässt, verleiht der Handlung des Romans zudem eine authentischere Note:

„Aber die Vegetation dieser unterirdischen Landschaft bestand nicht nur aus diesen [riesigen] Pilzen. Ein Stück weiter standen […] viele andere Bäume mit farblosem Laub. […] Es waren Sträucher, wie sie auf der Erdoberfläche wachsen, nur von gewaltigen Ausmaßen, hundert Fuß hohe Bärlappe, riesige Siegelbäume, Farnkräuter, hoch wie Tannen, Lepidodendren mit zylindrischen, geteilten Stengeln und langen rauhharigen Blättern. ‚Erstaunlich, wirklich prachtvoll‘, rief mein Onkel. ‚Hier haben wir die ganze Flora der zweiten Weltepoche, der Übergangsepoche. […]‘“ (Reise 1987, S. 254 ff.)

In den Jahren vor Erscheinen des Romans wurden verschiedene Theorien, wie es im Bauch unseres Planeten aussehen könnte, kontrovers diskutiert. Verne, mit diesen Theorien vertraut, verarbeitet diese in seinem Roman und vermischt dabei Erwiesenes mit Spekulation. Eben diese Mischung, eingebettet in eine Handlung voller Abenteuer, sollte wegweisend sein für seine nachfolgenden Veröffentlichungen.

Mit Die Reise zum Mittelpunkt der Erde befand sich Verne wissenschaftlich durchaus auf dem damals neuesten Stand der Forschung. Für die Beschreibung der paläontologischen Welten, welche die drei Reisenden durchwandern, ließ sich der Autor vor allem von Louis Figuiers Werk La terre avant de déluge (dt. Titel: Die Erde vor der Sintflut) inspirieren. Zu den Wissenschaftlern, die ihn nachhaltigsten beeinflussten, zählen der englische Chemiker Hymphry Davy, der davon ausging, das Erdinnere sei kühl und fest, der französische Geograph und Vulkanforscher Charles Saint-Claire Deville sowie der Amerikaner John Cleeves Symmes jun., ein Verfechter der Theorie der hohlen Erde. Anhänger jener Theorie waren der Überzeugung, dass die Erde keine massive Kugel sei, sondern eine Hohlkugel ohne Erdkern und weitestgehend ohne Erdmantel. Das Erdinnere, so nahm man an, sei durch verschiedene Öffnungen, z.B. an den Polen, zugänglich. Durch Vernes Roman wurde diese Theorie allgemein bekannt. Auch wurde durch den Autor das öffentliche Interesse an Geologie, Paläontologie und Evolutionsgeschichte bedient.

Die Reise zum Mittelpunkt der Erde gehört zu den Klassikern der frühen Science-Fiction-Literatur und inspirierte nicht wenige Autoren, darunter Arthur Conan Doyle (Die Vergessene Welt), J. R.  R. Tolkien (Der Hobbit) oder Edgar Rice Burroughs (Pellucidar-Serie). Wissenschaftliche Themen in eine als Romanhandlung einzubetten galt in den 1860er Jahren in der literarischen Welt als etwas völlig Neues. Verne war einer der ersten Schriftsteller, der dies umsetzte. Die fortschreitende Industrialisierung dieser Zeit erzeugte einen allgemeinen Fortschrittsglauben, der in zahlreichen Werken seiner Werke Ausdruck findet.

Vernes Roman wurde mehrfach auf Zelluloid gebannt. Unter allen filmischen Adaptionen sticht vor allem Henry Levins kongeniale Verfilmung von 1959 mit James Mason als Professor Lidenbrock (im Film Lindenbrook) und Pat Boone als Alec (Axel) hervor.

Denen, die das Buch noch nicht kennen, aber auch denen, die bereits mit Vernes Helden in der Unterwelt waren, möchte ich es ans Herz legen. Die Mischung aus Wissensvermittlung und Abenteuer vermag auch den modernen Leser noch immer in ihren Bann zu ziehen. Auch wenn viele Spekulationen Vernes mittlerweile durch die moderne Wissenschaft widerlegt worden sind, bleibt doch das Vergnügen, durch die Lektüre an einer fantastischen Expedition teilzuhaben.

Warum die Gedanken immer in die Ferne schweifen lassen? Das Faszinierende kann, zumindest in der Fiktion, räumlich näher sein, als man denkt, z.B. unter unseren Füßen. Angenehme Reise!  

Ein Beitrag von Isabel Bendt


Literaturhinweise:

Jules Verne: Die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille und Barbara Klau. Mit dreiundfünfzig Illustrationen von É. Riou, Zürich: Diogenes, 23. Auflage 1987 (Diogenes Taschenbuch 20246)

Jules Verne: Die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Aus dem Französischen von Volker Dehs. [Mit sämtlichen Illustrationen der französischen Originalausgabe, Anmerkungen, Nachwort, Zeittafel und Briefen], München: dtv, 2010

Allan A. Debus: Re-Framing the Science in Jules Verne’s „Journey to the Center of the Earth“, Science Fiction Studies, vol. 33, no. 3, 2006, pp. 405-420

Volker Dehs: Bibliographischer Führer durch die Jules-Verne-Forschung. 1872 -2001. Wetzlar: Förderkreis Phantastik in Wetzlar e.V., 2002

Erhard Oeser: Historische Erdbebentheorien von der Antike bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Abhandlungen der Geologischen Bundesanstalt, Bd. 58), Wien 2003, S. 36 f.

Maja Roseck: Die Rezeptionsgeschichte Jules Vernes, München, GRIN Verlag 2006 https://www.grin.com/document/64923

Henry Levins: Die Reise zum Mittelpunkt der Erde, USA 1959, Twentieth Century Fox


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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