Vor langer Zeit war der Mensch ein Karibu und das Karibu war ein Mensch.
Das Arctic National Wildlife Refuge (ANWR) im Nordosten Alaskas gilt als Kronjuwel unter den Naturschutzgebieten der USA. Die Coastal Plains, die Küstenebenen des ANWR, sind eine unberührte Wildnis von 1,5 Millionen Acre (etwa 6.070 Quadratkilometer). Dieses Gebiet ist Zufluchtsort für Polarbären, Überlebensraum bedrohter Moschusochsen und Überwinterungsplatz von mehr als 200 Zugvogelarten aus fünf Kontinenten. Außerdem sind die Coastal Plains die Kinderstube der etwa 218.000 Tiere umfassenden Porcupine-Karibuherde, der letzten großen, vom Menschen unbeeinflusst ziehenden Karibuherde der Welt. Das Gebiet, in dem die Karibus ihre Jungen zur Welt bringen, wird von den Gwich’in Izhik Gwats’an Goodlit genannt, was übersetzt so viel bedeutet wie „der heilige Ort, wo alles Leben beginnt“.
Die Gwich’in sind ein indianisches Volk im Grenzgebiet zwischen Kanada und Alaska. Sprachlich und kulturell zählen sie zu den nördlichen Athapasken. Rund 9.000 Gwich’in leben heute in 15 Siedlungen verstreut in Alaska, Yukon und den Nordwest-Territorien. Einige Dörfer befinden sich direkt im ANWR. Das Wort Gwich’in bedeutet so viel wie „Menschen des Landes“. Seit Jahrtausenden ist die Porcupine-Karibuherde Lebensgrundlage für die Gwich’in, mit der sie eine tiefe kulturelle und spirituelle Verbundenheit pflegen.
Caribou People
Die Gwich’in nennen sich selbst „Caribou People“. Die Porcupine-Karibuherde ist ihre Hauptnahrungsquelle. Allein von den Lebensmitteln aus dem Supermarkt können die Bewohner in den abgelegenen Dörfern nicht leben – ein Liter Milch kostet hier bis zu 13 Dollar, ein Pfund Kaffee 20 Dollar! Karibufleisch ist die nährstoffreichste Nahrung, die den Gwich’in zur Verfügung steht. Die erhöhten Krebs- und Diabetesraten im Gebiet von Prudhoe Bay, in dem in den 1970er Jahren eine intensive Ölförderung begann, werden auf die Dezimierung der Karibupopulation und den damit verbundenen Rückgang der traditionellen Subsistenzwirtschaft zurückgeführt.
Wenn die Herde sich auf ihrer jährlichen Wanderung zu den Coastal Plains einem Dorf nähert, bereitet sich die gesamte Gemeinschaft auf die Jagd vor. Die Gwich’in greifen dabei auf ihren riesigen Schatz an traditionellem Wissen zurück und nutzen die Gelegenheit, dieses Wissen an die jüngere Generation weiterzugeben. Die Väter und Großväter bringen den Jungen die Jagdmethoden und den traditionellen Umgang mit den Karibus bei, der von Respekt und Dankbarkeit geprägt ist. Die Mütter und Großmütter lehren die Mädchen die Verarbeitung des Karibufleisches und das Gerben der Häute. Wenn ein Tier erlegt wird, wird es vollständig verwertet. Das Fell und die Haut der Karibus werden zu Kleidung und Schuhen weiterverarbeitet, aus den Knochen werden Werkzeuge hergestellt. Auch Medizin wird aus dem Karibu gewonnen.
Die Gwich’in sind von den Karibus jedoch nicht nur als Quelle für Nahrung, Kleidung und Werkzeuge abhängig, sondern auch als Quelle ihrer Spiritualität. Ihren Erzählungen zufolge haben in mythischen Zeiten Menschen und Karibus harmonisch zusammengelebt. Als sie sich trennten, blieb vom Herzen der Karibus ein Stück in den Herzen der Menschen und von den Menschen ein Stück im Herzen der Karibus. Beide gaben sich das Versprechen, füreinander Verantwortung zu tragen. In zeremoniellen Liedern und Tänzen erzählen die Gwich’in ihre Schöpfungsgeschichte. Dadurch wird eine spirituelle Wiedervereinigung mit den Karibus vollzogen.
Der Mann, der sich in ein Karibu verwandelte
Angesichts der zentralen Bedeutung der Karibus überrascht es nicht, dass die Tiere in vielen Legenden der Gwich’in eine wichtige Rolle spielen. Die folgende Geschichte erzählt von einem Mann, der sich in ein Karibu verwandelte:
Ein Mann, dessen Medizin das Karibu war, ging auf Karibujagd. Als er auf das letzte der vorbeikommenden Karibus schoss, sahen die Jäger seiner Gruppe plötzlich, dass der Mann verschwunden war. Sie liefen hin, um zu sehen, was geschehen war. Sie fanden seine Kleidung auf dem Boden und sahen ein Karibu wegrennen. Die Männer waren sehr verwirrt und aufgeregt, aber es gab nichts, was sie tun konnten.
Im nächsten Jahr gingen sie zu demselben Platz und wieder sahen sie Karibus. Aber eines der Tiere folgte den anderen nicht. Es kehrte zum See zurück, von dem es gekommen war, und schwamm zu einer Insel. Einer der Männer nahm ein Kanu und folgte ihm. Es war der Vater des Mannes, der im Jahr zuvor verschwunden war. Als der Mann zu der Insel kam, hörte er zu seinem Erstaunen das Karibu zu ihm sprechen: „Vater, schieß nicht auf mich! Ich werde zum Ufer schwimmen und wenn ich ankomme, wirf einen Stein nach mir.“ Der Mann, der sehr erschrocken und beunruhigt war, kehrte in seinem Kanu zum Ufer zurück. Das Karibu schwamm ihm nach und als es zum Ufer kam, warf der Mann einen Stein nach ihm. Und siehe da, das Karibu verwandelte sich wieder in seinen Sohn, der nackt und zitternd am Strand stand.
Ölbohrungen im Arctic National Wildlife Refuge
Im ANWR werden rund 16 Milliarden Barrel unterirdische Öl- und Gasvorkommen vermutet. Seit 1977 wird die Ausbeutung dieser Vorräte im „Gebiet 1002“, wie die Coastal Plains auch bezeichnet werden, kontrovers diskutiert.
Die Coastal Plains werden von der Porcupine-Karibuherde als „calving grounds“ bevorzugt, da sie eine optimale Kombination aus Verfügbarkeit von nahrhaftem Futter, wenig Moskitos, zeitiger Schneeschmelze und einer geringen Raubtierpopulation bieten. Biologen haben nachgewiesen, dass die Überlebensrate der Tiere erheblich sinkt, wenn die Herde nicht in den Coastal Plains kalben kann. Wissenschaftlichen Forschungen zufolge würde die Ölförderung in den Coastal Plains einen langfristigen Rückgang der Karibupopulation bewirken. Da die Porcupine-Karibus sehr empfindlich sind, führt schon eine Reduzierung der überlebenden Kälber um 4,6 Prozent zu verheerenden Auswirkungen auf die Wachstumsrate der Herde.
Ein Rückgang der Karibuherde, die ohnehin schon enorm vom Klimawandel bedroht ist, oder eine Änderung der Wanderwege hätte auch für die Gwich’in dramatische Folgen. Ihre gesamte Lebensweise stünde auf dem Spiel und die Gwich’in würden ihre Unabhängigkeit verlieren. Der Verlust ihrer Hauptnahrungsquelle könnte zu Unterernährung, Armut und Krankheiten führen. Die Gwich’in sähen sich auch mit einer Gefährdung ihrer religiösen Traditionen konfrontiert. Da die spirituelle Verbindung mit den Karibus von so zentraler Bedeutung für die Gwich’in-Kultur ist, käme eine Dezimierung der Herde einer Bedrohung ihrer Identität gleich.
Ungeachtet dieser Folgen für Mensch und Umwelt haben republikanische Politiker immer wieder versucht, dieses Gebiet für die Rohstoffförderung zu öffnen – obwohl laut Umfrage zwei Drittel aller Amerikaner es als Naturschatz bewahren wollen. Bisher war die Aufhebung des Schutzstatus letzten Endes immer an der erforderlichen 60-Stimmen-Mehrheit im US-Senat gescheitert. Dieses Ergebnis ist nicht zuletzt auch dem jahrzehntelangen Einsatz und der Lobbyarbeit der Gwich’in zu verdanken.
Ein historischer Skandal
Doch Donald Trump hat ein Schlupfloch gefunden, um das zu erreichen, was keinem US-Präsidenten vor ihm gelang. Seine Steuerreform von 2017 sieht die Öffnung der Küstenebene des ANWR für den Öl- und Gasabbau als Finanzierungsausgleich vor. Geplant sind Einnahmen in der Höhe von einer Milliarde Dollar. Da eine Steuerreform nur eine 51-Stimmen-Mehrheit verlangt, ist die Rohstoffförderung in den Coastal Plains nun beschlossene Sache. Die Politikwissenschaftlerin Petra Krumme spricht in diesem Zusammenhang von einem historischen Skandal, der an Mafiamethoden erinnere. Im September 2019 wurde das finale Umweltverträglichkeitsgutachten fertiggestellt, das vielen rechtlichen Anforderungen nicht gerecht wurde. Es empfiehlt weitestmögliche Erschließung, die ganze Ebene soll ab Januar 2020 geöffnet werden.
Diese durch eine Täuschung herbeigeführte Niederlage war für die Gwich’in ein Schock. Die Steuerform und die darin vorgesehenen Ölbohrungen verstoßen klar gegen die UN-Deklaration für die Rechte indigener Völker, die von den USA unterzeichnet wurde. Auch das Porcupine Caribou Agreement von 1987, eine Vereinbarung zwischen den USA und Kanada, wird gebrochen. Darin verpflichten sich beide Staaten, die Porcupine-Karibuherde, ihre Routen und „calving grounds“ zu schützen. Die kanadische Regierung hat sich vergebens gegen die Ölförderung ausgesprochen. Außerdem wird den Gwich’in Beteiligung in allen Prozessen, die dieses Thema betreffen, zugesichert. Konsultationen haben bis heute aber so gut wie nicht stattgefunden.
Obwohl ihre Rechte mit Füßen getreten werden, setzen die Gwich’in ihren Kampf gegen die Ölförderung in den Coastal Plains unbeirrt fort. Mittlerweile sind sie auch sehr aktiv in sozialen Netzwerken, verbreiten Hashtags wie #protectthearctis, arbeiten mit Umweltschutzorganisationen wie der Wilderness League Alaska und dem Sierra Club zusammen und organisieren medienwirksame Kampagnen mit Unternehmen. Auch bei der UN sind die Gwich’in vorstellig geworden und haben eine Resolution zur Unterstützung ihres Anliegens eingereicht. Der 2006 verstorbene Gwich’in-Elder Jonathon Solomon sagte: „Es ist unsere Überzeugung, dass die Zukunft der Gwich’in und die Zukunft der Karibus dieselbe ist.“
Ein Beitrag von Dr. Claudia Roch
Literaturhinweise:
Kristi Benson. Gwich’in Knowledge of Porcupine caribou: State of current knowledge and gaps assessment. Fort McPherson: 2019.
Gwich’in Steering Committee u.a. A Moral Choice for the United States. The Human Rights Implications for the Gwich’in of Drilling in the Arctic National Wildlife Refuge. 2005.
Petra Krumme. Der heilige Ort, wo das Leben beginnt. Pogrom 307/4 (2018), S. 28-31.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.