Der Donnervogel

Der Donnervogel ist eines der wenigen mythologischen Elemente, das bei nahezu allen indianischen Völkern Nordamerikas zu finden ist. Das Fabelwesen wird mit einem gewaltigen Vogel assoziiert. Es heißt, dass die Spannweite seiner Flügel die Länge von zwei Kanus umfasst. Der Donnervogel ist so groß und stark, dass er mit Leichtigkeit einen Wal in seinen Fängen forttragen kann. Mit dem Schlag seiner Flügel löst er Stürme aus und ballt Wolken zusammen. Das Geräusch seines Flügelschlags verursacht Donner und aus seinen Augen schießen Blitze. Auf Totempfählen und anderen bildlichen Darstellungen indianischer Künstler wird er vielfarbig gezeigt, manchmal mit zwei gedrehten Hörnern auf dem Kopf und einem zahnbewehrten Schnabel.

Donnervogel, Totempfahl

Je nach Darstellung handelt es sich bei dem Donnervogel um ein Einzelwesen oder eine Gattung. Die Tatsache, dass die Donnervögel manchmal „Großväter“ genannt werden, deutet an, dass man ihnen mit großer Ehrfurcht und Scheu begegnet. Es wird berichtet, dass es sehr gefährlich ist, sich einem Donnervogelnest zu nähern und viele sollen bei dem Versuch von wilden Stürmen erfasst und getötet worden sein. Einige Stämme glauben, dass der Donnervogel und die anderen Donnerwesen zuerst erschaffen wurden und dass sie eine besonders enge Verbindung zum Großen Geheimnis besitzen.

In vielen Traditionen ist der Donnervogel ein edler Geist, der die Menschen vor bösen Ungeheuern beschützt. Er verkörpert die Elemente und bringt den lebensnotwendigen Regen, aber er kann die Erde auch durch Stürme, Fluten, Blitze und Feuer zerstören. Der Donnervogel ist extrem intelligent, mächtig und zornig. Viele Legenden beschreiben seinen Zorn als etwas Furchtbares, das um jeden Preis zu vermeiden ist. Er wacht über die Moral der Menschen und ist dafür bekannt, Übertretungen hart zu bestrafen. Es ist nicht klar, wo bei ihm die Ehrfurcht endet und der Schrecken beginnt.

Der Ursprung des Donnervogels

Es gibt Geschichten von Donnervögeln, die in menschliche Familien eingeheiratet haben und Familien, die sich auf solche Ehen zurückführen. Viele Mythen weisen darauf hin, dass Donnervögel die Fähigkeit besitzen, sich in menschliche Gestalt zu verwandeln. Sie tun dies angeblich, indem sie ihr Federkleid ablegen und ihre Schnäbel wie eine Maske abnehmen.

Die Passaquamoddy berichten von zwei Kriegern, die sich aufmachten, um den Ursprung des Donners zu entdecken. Sie reisten nach Norden und kamen zu einem großen Gebirge. Diese Berge waren magisch, sie konnten sich langsam auseinanderziehen und dann schnell wieder zusammenstoßen. Die Krieger überquerten einer nach dem anderen den Gebirgspass. Jeder gelobte, ihre Mission fortzusetzen, wenn einem von ihnen etwas zustoßen sollte. Der erste Krieger gelangte durch den Pass, aber der zweite wurde von den aufeinanderprallenden Felsen zerquetscht.

Vogelmann der „Mississippi“-Kultur (Herb Roe)

Auf der anderen Seite des Gebirges fand der Krieger eine große Ebene mit einer Ansammlung von Wigwams. Dort spielten die Dorfbewohner gerade Ball. Nach einer Weile gingen sie in ihre Wigwams, legten Flügel an und flogen über die Berge nach Süden. Ein paar von den älteren Männern waren jedoch im Lager geblieben. Als sie den Krieger sahen, befragten sie ihn, um herauszufinden, wer er war. Er erzählte ihnen von seinem Wunsch, den Ursprung des Donners zu entdecken. Die Ältesten berieten sich eine Weile, dann riefen sie den Krieger und steckten ihn in einen großen Mörser. Sie stampften alle seine Knochen, bis sie zerbrochen waren und schufen einen neuen Körper für ihn – mit Flügeln wie ein Donnervogel. Dann gaben sie dem jungen Krieger einen Bogen und Pfeile und sandten ihn seines Weges.

So wurde der Krieger ein Donnervogel. Doch er vergaß seine alte Heimat nicht und wurde zum mächtigsten Beschützer der Passaquamoddy.

Donnervogel und Raubwal

Bei vielen Stämmen nimmt ein mythisches Thema einen prominenten Platz in der Vorstellungswelt ein: Der kosmische Konflikt zwischen den Wesen des Himmels, verkörpert durch die meist vogelgestaltigen Donnerwesen, und jenen der Unterwelt – dem Unterwasserpanther, der Gehörnten Schlange und anderen Wasserungeheuern. Bei den Kwakwaka’wakw, Haida und Tlingit der Nordwestküste wird der Donnervogel mit Walen assoziiert, die er mit Hilfe von mythischen Lichtschlangen tötet und frisst. Die folgende Geschichte von den Quillayute erzählt vom Kampf zwischen Donnervogel und Raubwal:

Vor langer Zeit gab es eine Flut, die einen großen Teil der Erde bedeckte. Während dieser Flut soll Donnervogel mit dem Raubwal gekämpft haben. Donnervogel ergriff Raubwal mit seinen mächtigen Krallen und trug ihn in sein Nest im Gebirge. Raubwal schaffte es jedoch, aus dem Nest zu fliehen und wieder Zuflucht im Wasser zu finden. Jedes Mal, wenn Donnervogel den Raubwal fing, gab es einen großen Kampf zwischen den beiden Bestien. Der Lärm, der dadurch verursacht wurde, war so groß, dass die Berge wackelten. Ihr Kampf war so brutal, dass überall, wo sie kämpften, die Bäume entwurzelt wurden.

Der Kampf zwischen Donnervogel und Raubwal dauerte eine lange Zeit an, bis Donnervogel schließlich müde war und Raubwal erlaubte, in die Tiefen des Ozeans zu entfliehen. Es heißt, dass dies der Grund ist, warum es heute noch Raubwale im Meer gibt. Obwohl der Kampf zwischen den beiden Kreaturen ohne klaren Sieger endete, ist die Erinnerung daran noch immer auf dem Gesicht der Erde zu sehen. Die Orte, an denen sie kämpften, sind bis heute baumlos geblieben. Man glaubt, dass dies die Prärien sind, die auf der Olympic-Halbinsel zu finden sind.

Donnervogel und heiliger Clown

Die Tatsache, dass der Donnervogel viele widersprüchliche Eigenschaften besitzt, rückt ihn in die Nähe der Trickster-Figuren. Steve Mizrach zeigt eine Verbindung der Donnervogel-Mythen mit dem Ritualkomplex der Clowns bei den Plains-Stämmen auf. Bei den Lakota erhalten die Heyokas, die heiligen Clowns, ihre Kraft vom Donnervogel. Um Heyoka zu werden, muss man vom Donnervogel träumen. Wie der Donnervogel werden die Heyokas gleichzeitig gefürchtet und verehrt.

Heyokas agieren in komischer und obszöner Weise, besonders im Rahmen von heiligen Zeremonien. Sie gehen und sprechen rückwärts, tragen das Innere ihrer Kleidung nach außen, ziehen sich im Sommer warm an und laufen im Winter fast nackt herum. Sie sind furcht- und schmerzlos und können ein Stück Fleisch mit bloßen Händen aus einem Topf kochenden Wassers herausholen. Wie bizarr oder blasphemisch die Handlungen der Heyokas auch erscheinen mögen, sie werden toleriert, da man annimmt, dass sie nach den Geboten der Donnerwesen handeln.

Der Medizinmann Lame Deer nennt den Heyoka „den Umgedrehten, den Vor-Rückwärts, den Eis-Heißen“:

Für uns ist der Clown ehrwürdig und lustig, mächtig und lächerlich, hellseherisch, heilig und profan. Er ist aber noch viel mehr. Ein Clown, der Spaß macht, vollzieht in Wirklichkeit eine spirituelle Zeremonie. Er besitzt eine gewisse Macht, die er direkt von den Donnerwesen bezieht, nicht von den Tieren oder der Erde. In unserem indianischen Glauben hat ein Clown viel mehr Macht als die Atombombe. Diese Macht könnte die Kuppel des Kapitols sprengen“ (Lame Deer 1982, S. 272).

Mythologische Interpretationen

Claude Lévi-Strauss und andere Ethnologen haben den Donnervogel als Symbol für den zeitlichen Zusammenhang zwischen Vogelzug und Gewittersaison interpretiert: Alljährlich kommen die ersten Gewitter zur gleichen Zeit wie die Zugvögel und enden, wenn diese wieder gen Norden fliegen. Die Schlussfolgerung, der Donner müsse vogelartig sein, ist daher ebenso wenig überraschend wie die Vermutung einer enormen Größe des Wesens, die sich aus der Mächtigkeit der ihm zugeschriebenen optischen und akustischen Erscheinungen ableitet.

Während viele Wissenschaftler eine symbolische Erklärung heranziehen, gibt es auch einige, die glauben, dass die Geschichten vom Donnervogel durch reale Lebewesen inspiriert wurden. So haben die Historiker Adrienne Mayor und Tom Holland vermutet, dass Geschichten vom Donnervogel auf indianische Entdeckungen von Flugsaurier-Fossilien zurückgehen.

Kryptozoologen wie Mark A. Hall, die die Donnervogel-Mythen von zahlreichen Stämmen studiert und mit (meist folkloristischen) Berichten über ungewöhnlich große Vögel in moderner Zeit verglichen haben, vermuten, dass es eine überlebende Spezies von Vögeln in Nordamerika gibt, die offenbar groß genug ist, um kleine Tiere oder Kinder fortzutragen, wie in einigen Berichten behauptet wird. Solche Forscher glauben, dass die Donnervogel-Mythen von der Sichtung realer Lebewesen herrühren könnten, die aus vergangenen Zeitaltern übrig geblieben sind – beispielsweise eines Pterodactylus oder Teratornis. Obwohl sich natürlich die Frage aufdrängt, wie es einem Geschöpf dieser Größe gelingen konnte, so lange unentdeckt zu bleiben, stellt diese Theorie besonders für diejenigen, die hoffen, ein Kryptid wie das Monster von Loch Ness zu finden, eine faszinierende Möglichkeit dar.

Ein Beitrag von Dr. Claudia Roch

Literaturhinweise:

Ella E. Clark. Indian Legends of the Pacific Northwest. Berkeley: University of California Press 1953.

Christian F. Feest. Beseelte Welten. Die Religionen der Indianer Nordamerikas. Freiburg / Basel / Wien: Herder 1998.

Mark A. Hall. Thunderbirds. Americas Living Legends of Giant Birds. Minneapolis: Fortean Publications 1988.

David M. Jones / Brian L. Molyneaux. Die Mythologie der Neuen Welt. Reichelsheim: Edition XXL 2002.

John (Fire) Lame Deer / Richard Erdoes. Tahca Ushte. Medizinmann der Sioux. Leipzig: Paul List Verlag.

Claude Lévi-Strauss. Das wilde Denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968.

Adrienne Mayor. Fossil Legends of the First Americans. Princeton: Princeton University Press 2005.

Steve Mizrach. Thunderbird and Trickster. <http://www.tbird.org/memorabilia/myth.htm> (03.05.2020).

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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