Kaum jemand ahnt, dass die Sherlock Holmes Geschichten von Sir Arthur Conan Doyle voller Anspielungen sind – zu sehr ist man durch die Spannung und die Figur des Detektivs und seines Adlatus Dr. Watson abgelenkt. Doch auch Nietzsche hat in diesen Geschichten seine Visitenkarte hinterlassen. Seit 1886 wandte der erfolglose Augenarzt Doyle seine neue Rezeptur an, die er während leerer Praxisstunden zu Papier brachte. Er erfand, mit Hilfe von Vorbildern wie Poes Dupin, den distanzierten, desillusionierten und zugleich so genauen Beobachter als Detektiv, den Pfeifenraucher und Rationalisten mit Rauschgiftneigung und einer Vorliebe für Richard Wagner, den Inbegriff des englischen Gentleman, kurz: er erfand Sherlock Holmes.
Doyle war erfolgreich mit dieser Kunstfigur, die immer lebendiger zu werden schien, und konnte sein Konto endlich füllen. Doch eines Tages wuchs ihm sein Geschöpf über den Kopf, wie der Mensch dem Gott oder das Monster seinem Frankenstein. Gegen den Rat süchtig gewordener Leser (wie seiner Mutter) beschloss er, seinen Helden umzubringen. Detektivgeschichten waren ja nur sein Nebenwerk, denn eigentlich wollte er große Romane und historische Berichte schreiben (über den Hundertjährigen Krieg, den Burenkrieg, über die Napoleonzeit oder den Mahdi-Aufstand). Aber wie ließ sich so ein großer Geist umbringen? Ein Held des Empire? Es musste heroisch zugehen.
Conan Doyles Frau war an Tuberkulose erkrankt und vor der Erfindung des Penicillins versuchte man sich in der Schweiz zu kurieren. Thomas Manns Zauberberg in Davos thront über all diesen Versuchen mit ihren Hoffnungen und Tragödien. Die Doyles entschieden sich für Meiringen und Rosenlauibad im Berner Oberland (aus dem die Meringues, die Baisers stammen sollen). Auf ihren Wanderungen kamen sie zu den berühmten Reichenbachfällen, wo das Wasser 300m in die Tiefe hinabstürzt. Sie sind oft dichterisch besungen worden, von Goethe bis Jeremias Gotthelf, dessen Wandergeselle Jacob hier ein göttliches Erlebnis hat (Jacobs, des Handwerksgesellen, Wanderungen durch die Schweiz, 1846). Für Doyle tat sich die Möglichkeit auf, das Göttliche und das Teuflische in einen letzten Kampf zu führen. So brachten diese Fälle Doyle zu seinem letzten Fall – er beschloss, seinen Detektiv durch seinen größten Feind, Professor Moriarty, umbringen zu lassen. Der Professor, dessen Machenschaften Holmes zunehmend beschäftigt hatten, ist ihm der „Napoleon des Verbrechens“: Ein genialer Mathematiker mit einer exzellenten Ausbildung, der mit 21 ein Traktat schrieb, das ganz Europa aufhorchen ließ, der dann sehr jung an einer kleineren Universität einen Lehrstuhl bekam und eine brillante Karriere vor sich hatte, ein Philosoph zudem, ein abstrakter Denker und Stratege. Doch eine kriminelle Veranlagung, eine teuflische Erblinie führten zu dunklen Aktivitäten, sozusagen im viktorianischen Darknet, so dass er sich von der Universität zurückziehen musste und nach London ging. Von dort steuerte er mit seinem genialen Gehirn ein verbrecherisches Netz, in dessen Mitte er selbst saß. Für Holmes ist er der einzig ernstzunehmende Konkurrent dieser Welt von Gut und Böse. Am 4. Mai 1891 inszeniert Doyle den gewaltigen Showdown an eben diesen Reichenbachfällen. Holmes und Moriarty liefern sich einen Kampf auf dem höchsten Felsen über dem Abgrund und schließlich stürzen beide hinab. Die Trauer über das Ende von Holmes war nicht nur für Watson unermesslich, sondern auch für die britische Leserschaft. Angeblich trug man am Tag nach Erscheinen von „The Final Problem“ (1893) Trauerflor in London und Tausende von Abonnenten soll das Strand Magazine verloren haben, in der Doyles Erzählungen erschienen. Bis heute erinnern in Meiringen eine Statue, ein Museum und Straßennamen an dieses historische Ereignis, das nicht stattgefunden hat. An den Wasserfällen kann man eine Plakette in dreisprachiger Ausfertigung lesen: „An diesem furchterregenden Ort besiegte Sherlock Holmes am 4. Mai 1891 Professor Moriarty“. Zur Beruhigung aller, die auch heute noch über den Tod des größten Detektivs trauern: er sollte 1903 wieder auferstehen und noch viele Abenteuer erleben.
Und nun Nietzsche? Die Leser von Detektivromanen sind oft selbst detektivisch unterwegs, und so fand ein amerikanischer Literaturkritiker und Künstler heraus, dass Nietzsche sich eine Zeitlang zur Kur in Rosenlauibad bei den Reichenbachfällen aufhielt. Die Geschichten um Holmes hätten ihn sicher fasziniert, aber zur Zeit ihres Erscheinens in den 1890ern war Nietzsche schon geistig krank. Hätte er sie lesen können, wäre ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Professor Moriarty ins Auge gesprungen. Ein böser Ex-Professor, aus seiner Zunft verstoßen, der die bürgerliche Moral der Viktorianer unterwandert – Nietzsche tat es mit seiner Parole „Gott ist tot“, Moriarty mit hinterhältigen Verbrechen. Beide gehasst und gefürchtet von der anständigen, christlichen Welt. Beide genial, auch wenn Nietzsche in Mathematik so schlecht war, dass sie ihm fast das Abitur verbaut hätte. Aber es geht ja um Entsprechungen. Und Conan Doyle ist ein Meister der Verschiebungen, Parodien und verdrehten Anspielungen. Nietzsche war als Philologe in seinem Alter genial, wich aber bald von diesem klassischen Karriereweg ab, weil er sich von der Philosophie oder besser vom freigeistigen Denken angezogen fühlte. Als „Antichrist“ und Immoralist hat er die besten Karten, mit dem Napoleon des Verbrechens identifiziert zu werden.
1877 finden wir den Nietzsche in Rosenlauibad, weil er sich von der Universitätsarbeit in Basel erholen muss. Wenige Jahre später wird er seine Professur gänzlich aufgeben. Das passt zu Moriartys „kleiner Universität“ und dem jugendlichen Geniestreich, ein die Wissenschaft umwälzendes Traktat zu schreiben. Im Falle Nietzsches war dies Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, die er 1872 im Alter von 28 veröffentlichte, ein Buch, das ihm sowohl seine weitere akademische Karriere verbaute als ihm auch den Ruf des Philosophen einbrachte. Mit dem Gegensatzpaar „dionysisch“ (rauschhaft) und „apollinisch“ (rational, klar) brachte er künstlerische und psychologische Phänomene auf den Punkt und lieferte unter anderem damit eine Vorlage für die Psychoanalyse. Dass der Endkampf in den zarathustrischen Alpen der Schweiz stattfindet, hätte Nietzsche auch gefallen. So wie Holmes Moriarty für den Jahrhundertverbrecher hielt, so hielt sich Nietzsche für einen Jahrhundert-, oder besser, Jahrtausendmenschen. Im aufkommenden Wahn glaubte er schon an eine neue Zeitrechnung, die sich von seiner Person aus berechnen würde.
Im Juni 1877 jedenfalls ist er in Rosenlauibad, in jenem Hotel, in dem auch Doyle knapp 15 Jahre später mit seiner kranken Frau wohnen würde. Nietzsche schreibt, dass er alleine ist, aber dass doch viele Engländer vorbeikommen. Man kann mit leichter Übertreibung sagen, dass die Engländer als erste Alpinisten die touristische Schweiz erfunden haben. Doyle soll sogar den Abfahrtslauf 1894 hier praktiziert und in England populär gemacht haben. Im Juli hat Nietzsche weitere englische Gesellschaft: den Generalstaatsanwalt von Großbritannien und den „berühmtesten englischen Landschaftsmaler“, wer immer das damals war. William Turner war schon tot zu dieser Zeit, doch er hätte es sein können, denn er hat auch wunderbare Gemälde von seinen Schweizer Aufenthalten gemalt – auch einer der Erfinder der romantischen Schweiz. Im August gesellt sich noch der schottische Philosoph George Croom Robertson zu ihm, den er sehr schätzt, zumal er Herausgeber der philosophisch hoch anerkannten Zeitschrift Mind ist. Das Milieu der Holmes-Geschichten drängt sich auf, als Nietzsche in Briefen die Anwesenheit des Kaisers von Brasilien, Dom Pedro II, mit seiner Frau vermeldet, ein hochgebildeter Mann übrigens, der die Sklavenbefreiung in seinem Land beförderte und sich oft in Europa aufhielt. Elisabeth Förster-Nietzsche machte daraus eine kleine dramatische Episode, wenn sie in ihrer Nietzsche-Biographie behauptet, der Kaiser habe Nietzsche heimlich beim Klavierspielen zugehört. Wahrscheinlich aber hat sie die Szene plagiiert – als nämlich der Kaiser einmal dem Erfinder des Telefons, Alexander Graham Bell, unerkannt beim Klavierspiel lauschte. Das sind Situationen, wie sie dem Geschmack der Zeit entsprachen. Auch Sherlock Holmes hat es in seinen Geschichten öfter mit geheimnisvollen Majestäten zu tun.
Bleibt die Frage, ob Conan Doyle Moriarty bewusst als Nachbild von Nietzsche geschaffen hat. Sicher ist, Nietzsche war in der angelsächsischen Welt Anfang der 1890er Jahre schon sehr bekannt; bald sollten die ersten Übersetzungen seiner Werke einsetzen. Doyle war sicherlich gut vertraut mit Nietzsches Leben und seiner Wirkung auf die Kultur. In „ The Adventure of the Empty House“ (1904), in der Holmes‘ Rückkehr gefeiert wird, tritt ein weiterer potentieller Mörder auf, Colonel Sebastian Moran. In der Beschreibung ähnelt er wiederum Nietzsche (Bart, Augen, philosophische Haltung). 1914 schrieb Doyle ein Pamphlet gegen das deutsche Kaiserreich und bezichtigte Nietzsche als Kriegstreiber – aber er hält ihn gar nicht für einen Deutschen, sondern für einen träumerischen Slawen mit Visionen. Er passt auch in das Bild, das Max Nordau von den degenerierten Künstlern und Denkern in seiner Schrift Entartung (1892) festhielt, die europaweit große Beachtung fand. Halten wir also fest: Sherlock Holmes im Kampf mit Nietzsche ist auch ein Kampf zwischen dem guten angloamerikanischen Superman und dem bösen deutschen Übermenschen. Allerdings: Conan Doyle selbst dürfte sich auf beiden Seiten wiederfinden; er ist Holmes, doch sein Schatten heißt Moriarty. Der Fall der Fälle von Reichenbach ist in erster Linie ein psychologischer Fall.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweise:
Janz, Curt Paul. Friedrich Nietzsche. Biographie (3 Bde). München: Hanser 1993.
Rosenberg, Samuel. Naked Is the Best Disguise. The Death and Ressurection of Sherlock Holmes. New York: Penguin 1974.
Vorabdruck aus: Elmar Schenkel, Wahre Geschichten um Friedrich Nietzsche, Tauchaer Verlag, Leipzig 2023. ISBN: 978-3-89772-323-8. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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