Schon im vergangenen Jahr während bzw. kurz nach dem ersten Lockdown entstand das schwerwiegende Problem, wie Künstler verschiedenster Art und die Veranstaltungsbranche den schmerzhaften Einschnitt in ihre Arbeit bewältigen könnten, insofern er nicht bereits fatal war. Ausfälle von Lesungen, Aufführungen, Konzerten, Schließung von Theatern, Ausstellungen und Kinos bedrohen nach wie vor die Existenzen der Kunstschaffenden und frieren das in Gesellschaft stattfindende kulturelle Leben völlig ein. Ich möchte in den folgenden Absätzen nicht auf dieses schmerzlich bekannte Problem eingehen, sondern auf eines, das damit mehr oder weniger direkt zusammenhängt, aber tendenziell in eine andere Richtung weist: Der Ausfall des Festes.
Perspektivwechsel: Vom Künstler zum Rezipienten
Künstler und Veranstalter ringen um ihre Arbeit, damit um ihre Existenz, aber was bedeutet dieser Umstand für diejenigen, für die diese Arbeit überhaupt geleistet wird, also beispielsweise für die Zuschauer und Zuhörer? Grundsätzlich ist hier anzunehmen, dass der Ausfall solcher Veranstaltungen für den Besucher eine ärgerliche, bedauernswerte, aber letztlich doch kleine Entbehrung ist, angesichts dessen, was durch die Künstler selbst und allgemein entbehrt und erfahren werden muss. Im Falle der Musik kann man neue Alben erstehen oder Streaming nutzen und auf diesem Wege der Musik treu bleiben. Für das Live-Erlebnis oder das Festivalfeeling wird es – hoffentlich – wieder Gelegenheit geben. Das ist in der Hochphase einer Pandemie schwerlich anders zu denken.
Allerdings sollte man an dieser Stelle auch nicht zu weit gehen und das Fest als grundsätzlich verzichtbares Luxusgut begreifen, welches die mehr oder weniger erlesenen Konsumgüter eines süßen Lebens versammelt. Denn das Fest würde so zum Ort des bloß eindrücklicheren Konsums oder höheren Musikgenusses. Es würde reduziert auf das kulturindustriell schon verwertete intensive Erlebnis, auf das „mehr oder minder organisierten System von Reizen“, von denen sich der „müde Geschäftsmann […] massieren lässt“ (Adorno, Paralipomena, S. 394). Es wäre maximal der Platz einer gewissen oberflächlichen Bildung, um sich wie „Bildungsphillister“ durch Kunst „sozialen Status zu verschaffen“ (ebd. S. 395). Der eigenständige Wert würde dem Fest in einer solchen Denkweise natürlich abgesprochen – und ebenfalls der Wert des darin präsentierten künstlerischen Schaffens bagatellisiert. Dem entgegen kann man mit Nietzsche und Bataille aber sehr wohl eine weiterreichende individuelle und gesellschaftliche Funktion von Kunst und Fest herausarbeiten. Das scheint nicht nur aufgrund der gegenwärtigen Situation angebracht.
Eng verwandt: Nietzsches Kunstverständnis und Batailles Auffassung des Festes
Nietzsche unterscheidet bekanntlich das Apollinische und Dionysische als zwei gegensätzliche Pole, die „sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten“ (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 253) in der Kunst reizen. Dabei ordnet er dem Apollinischen das Begrenzende, das principium individuationis Stützende zu, dem Dionysischen dagegen das Entgrenzende, Rauschhafte, in welchem die „entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur […] wieder ihre Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen“ (ebd. S. 257) feiert. Nietzsche setzt in Anbetracht der Situation des modernen Menschen den Akzent auf das Dionysische, sowohl um dem absoluten Machtanspruch rationalistischer Vernunft entgegenzutreten als auch befreiende, ästhetische Erfahrung zu ermöglichen (ganz ähnlich schreibt im Übrigen Adorno von einem Entgegen des Kunstwerkes gegen den „Totalitätsanspruch subjektiver Vernunft“, Paralipomena, S. 394). Nietzsche beschreibt den dionysischen Zustand wie folgt: Der Mensch „hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen“, es tönt „aus ihm etwas Übernatürliches“ (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 257). Kunst, d. h. dionysisch geprägte bzw. dionysisch erfahrene Kunst, kann also den Menschen aus seinem individuellen und gesellschaftlichen Korsett befreien.
Bataille nimmt diese Gedanken bei seiner Charakterisierung des Festes auf, entwickelt sie weiter und relativiert sie zum Teil. Auch bei Bataille findet man die Unterscheidung zwischen Apollinischem und Dionysischem – nicht expressis verbis –, wenn er schreibt, dass dem „Verlangen nach Zerstörung“ eine „bewahrende Besonnenheit“ (Bataille, Theorie der Religion, S. 47) entgegengesetzt ist. Und auch ihm geht es um die zumindest zeitweilige Entgrenzung, die Erlösung vom Fluch der Individuation und um den Ausbruch aus der profan-rationalen Gesellschaft, welche im Fest vollzogen werden. Im Fest scheint so die Abkehr von der Entfremdung bzw. Verdinglichung und die Rückkehr zur Immanenz des Seins auf. Das dabei stattfindende „verschwenderische Aufbrausen des Lebens“ (Bataille, ebd. S. 46), erhält aber zugleich durch den zeitlichen und räumlichen Rahmen „Fesseln angelegt“; es ist nur geduldet, insofern „es den Erfordernissen der profanen Welt Rechnung trägt“ (ebd. S. 48). Ansonsten drohte das beim Fest aufleuchtende Heilige „die Dämme zu brechen und der produzierenden Tätigkeit die unaufhaltsame und ansteckende“ verzehrende Bewegung entgegenzusetzen. So würde nicht nur die auf Arbeit gründende Gesellschaft zerfallen, sondern auch der Mensch überhaupt „seine Menschlichkeit verlieren“ (ebd. S. 47). Deswegen offenbart das Fest letztendlich ein grundlegendes Problem, „nämlich die Unmöglichkeit, ein menschliches Wesen zu sein, ohne ein Ding zu sein, und [zugleich] den Grenzen der Dingwelt zu entfliehen, ohne in den animalischen Schlaf zurückzufallen“ (ebd. S. 47). Das Fest kann also nach Bataille letztlich „keine echte Rückkehr zur Immanenz [sein], sondern eine freundliche und angsterfüllte Versöhnung unvereinbarer Erfordernisse“ (ebd. S. 49).
Das Fest in der modernen Gesellschaft
Davon abgesehen, dass das Fest derzeit ohnehin nicht stattfindet, ist dessen geschilderte Charakter nun in der modernen Welt grundsätzlich nicht unproblematisch. Z. T. wird er als archaisch-primitiv in Frage gestellt, z. T. kann er in einer kapital- und konsumorientierten, verwalteten Gesellschaft nur bedingt zu Tage treten. Denn die „verwaltende Vernunft“ bemächtigt sich des Festes, rationalisiert es und löst somit auch dessen Festlichkeit auf (vgl. Adorno, Kultur und Verwaltung, S. 133). Auch in den Zusammenkünften der Hochreligionen oder in einer sich mehr oder weniger selbst so verstehenden Leit- bzw. Hochkultur ist der genuine Charakter des Festes kaum vorzufinden. Denn in beiden Fällen dominiert, wenn man nicht von einem bloßen Gewerke ausgeht, das Apollinische. Das Dionysische und der bataillsche Kern des Festes zeigen sich darin fast überhaupt nicht. Bataille tendiert dazu, in Konsum und Luxus der modernen Gesellschaft einen Ausdruck des Aufbrausenden und Verschwenderischen zu sehen; allerdings ist dieser doch verschoben und entfremdet, und es sind dabei die Möglichkeiten einer Immanenzerfahrung und Entgrenzung, auf die Bataille ja eigentlich abzielt, kaum vorhanden.
Deutlicher finden sich diese Möglichkeiten – sieht man einmal von avantgardistischen oder eventuell auch kultisch-sektiererischen Kreisen ab – in der „subkulturellen Szene“ wieder, bei Partys und Musikfestivals, auch wenn hier freilich genauso Züge kulturindustriellen Massenkonsums auszumachen sind. Nichtsdestoweniger sind dabei dionysische Musik, ekstatischer Tanz, rauschhaftes Feiern, tranceartige Zustände und eine gewisse sexuelle Freizügigkeit wesentliche Charakteristika. Insbesondere die Genres des Rocks, des Metals und der elektronische Musik, teilweise auch des Hiphop weisen hierzu eine klare Affinität auf. Deswegen scheinen in derartigen Kontexten günstigere Bedingungen als andernorts zu bestehen, dass der bataillsche Sinn des Festes wieder hervortreten kann.
Der Ausfall des Festes ist kein Luxusproblem
Ist also die Möglichkeit, die „Immanenz“ und Kontinuität des Seins im Fest wenigstens zu erahnen, schon grundsätzlich problematisch, so geht sie mit der momentanen Notlage der Kunstschaffenden und dem Ausfall des Festes gänzlich verloren. Der Mensch wird dagegen durch die Maßnahmen noch stärker dem Druck ausübenden, rational-gesellschaftlichen Rahmen eingefügt. Er wird noch weiter auf sich selbst zurückgeworfen, noch radikaler vereinzelt und erfährt, mit Bataille gesprochen, eine gesteigerte Verdinglichung. Sozusagen verschärft der Ausfall des Festes – als ein hintergründiger Aspekt der momentanen Situation – die ohnehin schon stattfindende Atomisierung der Gesellschaft, weswegen man cum grano salis kann: Nicht das Metalfestival ist aggressiv und zersetzend, wie es für manche vielleicht den Anschein haben mag, vielmehr ist es gerade dessen Ausbleiben.
Nach all dem müsste klar sein, dass es nicht zynisch-hedonistisch gedacht ist, wenn ich zum Abschluss anmerke, dass nach der Gewinnung der Souveränität über das Virus nicht nur die Rückkehr zur normalen Wirtschafts- und Gesellschaftsfunktionalität anvisiert werden, sondern – den Umständen angemessen – auch die Möglichkeit zu gemeinschaftlicher kultureller Aktivität und Fest wieder gegeben werden muss. Wem dabei der Anspruch, den Bataille an das Fest stellt, zunächst zu abgehoben erscheinen mag, der sollte an den Aspekt der psychologisch-gesellschaftlichen Regulierung denken, welcher darin eingeschlossen ist. Wenn jedenfalls das Fest, egal welcher coleur, im Sinne eines verzichtbaren Luxusgutes auf unbestimmte Zeit vertagt wird, so wird das den Künstlern, dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft alles andere als nützlich sein. Unabhängig dieses Befundes in Hinblick auf die aktuelle Situation bleibt allgemein der schwierige Stand von Fest und Kunst in der modernen Gesellschaft zu konstatieren und die Frage offen, wie diesen zu ihrem eigentlichen Recht verholfen werden kann.
Notiz: Ähnlich wie mit dem Fest verhält es sich offenbar auch mit dem Sport (ich meine damit sowohl den „Breitensport“ als auch den Leistungssport). Auch dieser kanalisiert die physischen und psychischen Kräfte und ist in Form des Wettkampfes ein Ort des sich verausgabenden und „aufbrausenden Lebens“. Und auch hier besteht das Problem, dass er derzeit bis auf das Praktizieren von Individualsport und die teilweise Fortführung des Leistungssports weitgehend eingefroren ist – und das eigentliche „Sportfest“ ausfällt.
Ein Beitrag von Dr. Markus Walther
Eingangsbild:
Eigene Aufnahme, Full Force Festival 2019.
Literaturhinweise:
Adorno, T. W., Kultur und Verwaltung, in: Ausgewählte Werke, Bd. 5, Darmstadt 2015; S. 122-146.
—, Paralipomena, in: Ausgewählte Werke, Bd. 5, Darmstadt 2015; S. 389-490.
Batailles, G., Theorie der Religion, München 1997.
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Philosophische Werke in sechs Bänden, Bd. 1, Hamburg 2013; S. 251-388.
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