Das magische Silbertäfelchen von Badenweiler

Bei den Ausgrabungen des römischen Heilbades von Badenweiler im Jahr 1784 hat man insgesamt recht wenige Funde geborgen. Einige der bedeutenden Entdeckungen hat der Geometer von Weißensee in seinen detaillierten Grabungsplan vom August 1784 aufgenommen. So weist vor dem westlichen Teil der Südfront eine mit Bleistift eingetragene Inschrift „viele Kohlenreste viele Glasscherben im Schutt“ aus. [1] In der Tat lassen sich Fensteröffnungen anhand von Glasfunden und Fenstersprossen nachweisen. [2] Ebenso erweist eine Beischrift im westlichen Vorhof den „Fundort aller Steininschriften“, zu denen auch jene Fragmente gehören, die wir im Laufe der Bearbeitung der Funde dem Weihestein der DIANA ABNOBA zuweisen konnten. [3] Schließlich erzählt eine weitere Notiz auf dem Grabungsplan unmittelbar außerhalb der Nordwand des Thermalbades von dem „Fundort d. Beschriftung auf Silberplatte u. a Gegenstände“. [4] Die Pläne, die im Zuge der Ausgrabung dieses exorbitant gut erhaltenen Badgebäudes erstellt wurden, sind alle gesüdet. Sie haben – nicht zuletzt dank der Fülle der Beischriften – hohen dokumentarischen Wert. Im Zuge der Grabungen und der Neuaufnahme des Bestandes [5] in den Jahren 1979 bis 1982, durchgeführt vom Verfasser als Vorbereitung zu einem generellen Schutz der Ruine, [6] entstanden die neuen, fotogrammetrisch erstellten Pläne, [7] die in etlichen Details von den früheren Gesamtaufnahmen abweichen, die aber vor allem eine recht andere Baugeschichte [8] sichtbar werden ließ, als in dem Werk von Hermann Mylius dargelegt. Doch das ist nicht das Thema dieses Beitrags.

Abb. 01: Fotogrammetrischer Plan des römischen Thermalbades von Badenweiler, genordet. Das Silberplättchen wurde gerade außerhalb der Nordwand gefunden
 

Die fantastische Welt des Aug. Gottl. Preuschen

Nun hat im Jahre 1787 – also drei Jahre nach der Ausgrabung der Badruine – der Hofdiakon August Gottlieb Preuschen eine umfängliche und sehr fantasievolle Geschichte der gesamten Arbeiten veröffentlicht, die sich nicht nur mit unserem Silbertäfelchen befasste, sondern u.a. auch ein recht geräumiges Becken vor der Nordwand beschrieb. Darauf nahm der frühere Ordinarius für provinzialrömische Archäologie in Freiburg, H. U. Nuber, in seiner Publikation dieser Silbertafel Bezug, allerdings mit den einschränkenden Worten: „sofern es denn wirklich existierte bzw. aus römischer Zeit stammte“. [9] Nuber wollte damit die Brücke zum Kult der Quelle mit ausdrücklichem Hinweis auf ‚Acheilon‘ (Zeile 8 des Amuletts), in dem er den griechischen Flussgott Acheloos [10] sieht, schlagen.

Zurückhaltung ist jedoch angesagt. Denn Preuschens Daten zu einem großen Becken, in dem nur wenig Material gefunden wurde, passen nicht zu den Grabungsplänen. In dem erwähnten Plandokument von 1784 ist von einem solchen Becken auch nicht die Spur zu finden. Der Hinweis auf den „Fundort d. Beschriftung“ erscheint mit einem Pfeil verbunden, der direkt auf den oberen (also jüngeren) Abflusskanal an der Westseite der Nordwand deutet. So sind also die „Silberplatte u.a. Gegenstände“ aus dem zugehörigen Wasserbecken (es ist der Raum Bw) herausgespült worden. Demnach handelt es sich bei diesem Silbertäfelchen offensichtlich nicht um eine Votivgabe, die in einem Tempelbereich niederzulegen wäre, sondern um ein verlorenes, einst in einer Kapsel aufgerolltes Amulett.

Abb. 02: Ausschnitt aus dem gesüdeten Grabungsplan des Geometers v. Weißensee von 1784 mit dem Hinweis auf den Fundort des Silbertäfelchens

Preuschen greift für die Angaben in seinem Buch von 1787 eine Vorstudie, datiert auf den 15. Mai 1786, zurück, die in den Akten des Denkmalamtes Freiburg [11] verwahrt wird. Sie soll hier erstmals vorgestellt werden. In seinem ein Jahr später erschienenen Buch über die „Denkmäler“ [12] gibt es nur geringfügige Änderungen. Preuschen hat seine Studie als „Argyrographum antiquum“ [13] bezeichnet. Er setzt drei rechteckige Felder nebeneinander, die unter A. seine Abschrift des Textes, unter B. seine latinisierte Übertragung und unter C. die deutsche Übersetzung fassen.

Abb. 03: Preuschens Vorstudie von 1786 zum Amulett. Die Erläuterungen finden sich in unserer Beschreibung

Die drei Kästchen sollen nach Preuschens Angabe das Format des Amuletts aufzeigen. [14] Tatsächlich überschreitet jedoch die gezeichnete Breite das gegebene Maß um 9,5 Prozent; bei der Höhe sind es gar 20 Prozent. Nachfolgend die Transscription der Hinweise des Verfassers: [15]

A.) Das Original ist jüdischlateinisch und abbreviert. B) Die Erklärung von A, wo die unterstrichene hebr. Worte lateinisch übersetzt sind. C.) Die Erklärung von A.) nach dem Sinn und Verstande des Schriftstellers. Die Zeichen unter der Schrift sind nichts anderes als Rabbinersigille. [16]

Karlsruhe den 15. Mai 1786

                       erklärt von

       Aug. Gottl. Preuschen

                       Hofdiakon

Anmerk.              ABC. Ist die eigentliche Größe des Brief oder Denkzettels. Die Zeichen in A – abc. sind wirklich auf dem Manuscript, hingegen ist d von welchem nur etwas erscheint in Ansehung des ganzen supplirt.

Preuschen kommt zu einigen skurrilen Ergebnissen. Er hat Kenntnis von einer Deutung des Inhalts als „philacterium gnosticum“, denn mit diesen Worten zitiert er „Prof. Oberlin zu Strasburg“. [17] Er notiert die Lesung Oberlins, die sehr zurückhaltend formuliert ist, aber doch in die richtige Richtung weist. So etwa bei der dritten Zeile, die Oberlin als „ana thanalba akra“ [18] liest; nach heutiger Lesung: [Ab]lanathanalba Acra[…]. [19] Hier werden Dämonen angerufen. Preuschen hingegen konstruiert daraus einen „gewissen Nathan von Alba Akra“ als Schreiber, der diese Zeilen „an einen Freund Fagel, der sich im R. Bade befand“, gerichtet habe. [20] Nathans Ort „Alba acra“ wird im ‚Argyrographum‘ von 1786 zu „Alba colona“, und das wiederum in der deutschen Übertragung zu „Elbswandern“ – ein Ortsname, der in der Publikation zu „Elbenschwand“ [21] mutiert.

Folgenschwer ist Preuschens Fehleinschätzung dieses Dokuments als „Brief“ oder „Denkzettel“, wie er in den „Anmerkungen“ von 1786 schreibt. Er kennt Oberlins Einordnung als „philacterium“ resp. als „Schuzwehren“, [22] nimmt sie aber ungeachtet des wertvollen Beschreibmaterials [23] nicht wirklich wahr. Preuschen sieht in diesem Täfelchen eine Serie von Mitteilungen („Den Lucilius behaltet dagegen zum Knecht. Grüsse von mir die Kurgäste“ [24]), nicht aber die Anrufung von Dämonen; folglich weist er die Einstufung als „Amulet“ [25] zurück. Die Buchstaben interpretiert er nach Belieben, wie am Beginn des vorhandenen Textes in Zeile eins zu sehen: Das erste Zeichen [26] sei ein „A“, das Theta ein „D“, das unziale Sigma ein „B“, und dann folgt tatsächlich ein „A“. [27] – Die Beispiele ließen sich noch bedeutsam vermehren. Doch die Fehlschlüsse werden eher noch massiver als zuvor bereits gesehen. Allgemein wird Preuschens Darlegung immer nur als ‚fantastisch‘ oder ‚fantasievoll‘ bezeichnet; eine etwas ausführlichere Gegendarstellung [28] ist nach meinem Wissen noch nicht veröffentlicht worden. [29]

Beschreibung der Silbertafel

Die Silberfolie ist ein querrechteckiges Schriftstück mit einer noch gegebenen maximalen Breite von 57 mm und einer Höhe von 44 mm. Die genaue Beobachtung [30] erweist linkerseits und unten fragmentierte Kanten, während die obere und die rechte Seite, abgesehen von leichten Ausbrüchen, einigermaßen intakt erscheinen. Das Blech ist in der Struktur gewellt, was darauf hindeutet, dass es gerollt in einer Kapsel verwahrt wurde. Besonders deutlich zeigt sich eine solche Eintiefung genau rechts vom achten Buchstaben der ersten Zeile, wobei diese Verformung sich deutlich in die zweite Zeile hineinzieht, was für viele Autoren dazu führte, hinter dem vierten „IA“ noch ein Iota zu notieren. [31] Die Schrift wurde von oben mit einem spitzen Gegenstand in das hauchdünne Silberblech eingeritzt; sie teilt sich auf der Rückseite mit. Das Schriftbild ist bis einschließlich der neunten Zeile relativ einheitlich. Nur mit der zehnten Zeile kam der Schreiber ein wenig in Bedrängnis; er sah sich genötigt, mit dem Text aufzuschließen, und er verkleinerte die sonst übliche Buchstabenhöhe von 2,5 bis 3 mm ein wenig. Die Buchstaben selber erscheinen in der Form der griechischen Unzialschrift, [32] die in der römischen Kaiserzeit und auch in der Spätantike üblich ist. [33] Der Text der Inschrift (sofern nicht magische Zeichen oder Buchstaben gemeint sind) erscheint in lateinischer Sprache.

Abb. 04: Die Silbertafel von Badenweiler in fotografischer Vergrößerung (Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Badischen Landesmuseums Karlsruhe)

Die Fragmentierungen linkerseits sowie unten sind gut sichtbar. Die ursprüngliche Breite hat Nuber aufgrund einiger als gesichert anzunehmender Vervollständigungen des Textes mit ca. 85 mm beziffert. [34] Das würde bedeuten, dass links etwa ein Drittel des ursprünglichen Täfelchens verloren ist. Bezüglich der einstigen Höhe konstatiert Nuber „eine mindestens 11-zeilige Inschrift“ [35] – eine Meinung, der ich mich nicht anschließen kann. Denn die von ihm bezeichneten „Buchstabenreste“ sind nicht mehr als zwei Eingrabungen rechts unten, die aber eher zu ‚magischen Zeichen‘, wie sie in der linken unteren Ecke eingetragen sind, gehören können; zu Buchstaben dieses Schreibers wollen sie nicht passen. Ungelöst wäre auch die Frage, welchen Inhalt eine solche elfte Zeile haben könnte.

Abb. 5. Umzeichnung der Buchstaben und der magischen Zeichen (W. Heinz, 1981)

Zur Lesung der Silbertafel

Die ernst zu nehmende Beschäftigung mit der Silbertafel von Badenweiler setzt 1885 mit der Publikation Wiedemanns [36] ein. Er lässt die erste Zeile aus; sie sei „nicht zu entziffern“. [37] So beginnt er mit Zeile zwei, in der er die Anrufung des Gottesnamens „IA“ nicht vier Mal, wie es dem Original entspricht, notiert, sondern nur drei Mal. [38] Das eröffnete späteren Bearbeitern die Möglichkeit, die Silbertafel von Badenweiler als christlich einzustufen. [39]

Es ist nicht sinnvoll, an dieser Stelle sämtliche Bearbeitungen früherer Zeit noch einmal auszuwerten, denn diese Daten sind zur Genüge in den beiden rezenten Aufsätzen zur Silbertafel festgehalten. [40] Hervorzuheben ist die Aufnahme in das mächtige Corpus der lateinischen Inschriften durch E. Zangemeister. [41] In die Bearbeitungen aus den verschiedenen Zeiten haben sich immer wieder Fehler eingeschlichen. Um dem vorzubeugen, haben wir mit den Methoden der Autopsie, der starken fotografischen Vergrößerung und einer Umzeichnung des Bestandes in eben dieser Vergrößerung gearbeitet. Das hat sich bewährt, denn diese Zeichnung – wie haben sie oben eingerückt – gibt den Bestand mit großer Treue zum Original wieder. Der Anschauung soll an dieser Stelle die Umsetzung in lateinische Buchstaben folgen. [42]

Z. 1O Th S A E A G Ǝ L F O Z L
Z. 2SI N I I A I A I A I A S A B A Ô Th
Z. 3(B) L A N A Th A N A L B A A K R A
Z. 4(S) E M E S I L A M S Ê S Ê N G E M
Z. 5(A) N G Ê S I O I O I O S E R O Y A T E
Z. 6(O) Y M K O Y E M P E P E R I T L E I B
Z. 7(R) A B O M N I P E R E K O Y L Ô
Z. 8A Ch E I L O N  O               S E R O Y A
Z. 9                               L O Y K I O L O Y M S Th (vel EI)
Z. 10                               O Y         M E R K O Y S S A M
Abb. 06: Die Textzeilen der Silbertafel von Badenweiler

Die erste Zeile setzt im erhaltenen Bestand mit einem eckig [43] geritzten „O“ ein. Es folgen ein Theta und ein unziales Sigma [44] – vielleicht ein Hinweis auf einen Gott: ho theós. [45] Eine solche Lesung wäre jedoch unbefriedigend, da sie, wie soeben gesehen, weder einer Anrufung noch einer Einleitungsformel entspricht. Die übrigen Zeichen dieser ersten Zeile haben noch keine befriedigende Deutung erfahren, auch wenn sie – wie der zweitletzte Buchstabe der ersten Zeile – auf anderen Tafeln zu finden sind. [46] – Zur Lesung der folgenden Zeilen werde ich hauptsächlich meiner Bearbeitung von 1982 folgen, da sie, wie es scheint, die wenigsten Fehler enthält. [47]

 Die zweite Zeile setzt im erhaltenen Bestand mit vier Buchstaben ein, die allgemein als nicht verständlich bezeichnet werden: SINI. Ein Strich über dem ‚N‘ [48] schafft zusätzliche Verwirrung, denn im Rahmen antiker Inschriften sind solche Querstriche wohl eher im Rahmen zufälliger Verletzungen entstanden. [49] Aus diesem Grunde ist er nicht in die Umzeichnung aufgenommen worden. Es folgt die viermalige Anrufung des verkürzten hebräischen Gottesnamens in der Form ‚IA‘; durch die Wiederholung (ähnlich auch in Zeile fünf) wollte man sich die Macht über den Angerufenen sichern. Hier scheint ein im Orient seit vielen Jahrhunderten bekanntes Muster durch: Wer den Namen kennt, hat Macht über den Gott oder den Dämon. Diese Vorstellung begegnet uns bereits in altägyptischen Totensprüchen, wenn es etwa heißt: „Seid gegrüßt, ihr Götter! Ich kenne euch, ich kenne eure Namen“, [50] oder auch im Alten Testament. [51] Es sind magische Praktiken, die in diesem Rahmen sichtbar werden. – Auf den Knick im Blech (kein Iota) haben wir hingewiesen. Die Zeile schließt mit einem hebräischen Beinamen des israelitischen Gottes Jahwe, nämlich Sabaoth [52] (zu übersetzen: Herr der Heerscharen).

Die Zeilen drei bis vier gehören insofern zusammen, als hier einige Dämonennamen, die aus etlichen parallelen Beispielen – Gemmen, Amulette, Papyri usw. – bekannt sind. Man kann mit nur geringer Ergänzung „Ablanathanalba“ erkennen: Es ist ein Palindrom, ein Wort also, das vor- und rückwärts gelesen werden kann. Die letzten vier Buchstaben „Akra“ gehören zu einem Dämon, dessen vollständiger Name im verlorenen Teil der vierten Zeile anzusiedeln ist. Vergleiche zeigen, dass es sich um „Akramachamari“ handelt. Die vierte Zeile birgt die Namen zweier weiterer Dämonen: Es sind „(S)emesilam“ [53] und „Sesengem“. Beide werden mit Sonnengottheiten verbunden.

Die fünfte Zeile eröffnet mit einem weiteren Namen eines Dämons: „(Barphara)nges“. Dem folgt die nochmalige dreifache Anrufung des verkürzten hebräischen Gottesnamens, diesmal als „IO“. Jetzt erst wird mit dem Aufruf „servate“ – also: rettet – deutlich, warum diese Gottheiten so ausführlich benannt – also bei ihrem Namen gerufen – wurden. Sie sollen eine Person schützen, von der wir in Zeile sechs nur noch den Rest des Namens lesen können: „um“. Man hat mit guten Gründen an einen „Luciolus“ gedacht, [54] der in Zeile neun erscheint (in der Akkusativ-Form). Diese Person wird in Zeile sechs noch näher bezeichnet: „quem peperit Leib“ – den also eine gewisse Leib (…) geboren hat.

Wir haben also ein Schutzamulett vor uns, ein „Phylakterion“. Wovor diese geballte Schar der Dämonen schützen sollte, steht in Zeile sieben: „ab omni pereculo“, [55] also von jeglicher Gefahr. Die letzten drei Zeilen enthalten wiederum die Aufforderung zum Schutz: „serva“ – also: rette. Es liegt nahe, den davor geschriebenen Namen „Acheilon“ zu verbinden. Nur ist unklar, wer oder was sich mit diesem Namen gemeint sei; wir wissen nicht einmal, ob er vollständig auf uns gekommen ist. Man hat „Acheilon“ mit dem griechischen Fluss- und Süsswassergott Acheloos gleichgesetzt [56] – allerdings gebe es in Gallien oder den Rheinprovinzen keine Parallelen, und ein Quellheiligtum, in dem ein solches Täfelchen aufgestellt (d.h.: nicht gerollt) hätte gewesen sein können, ist in Badenweiler nicht bekannt. So wird es wohl am besten sein, die in den ersten Zeilen angerufenen Dämonen mit dem Imperativ „servate“ (also: rettet! Z. 5) zu verbinden, während dieser zweite Imperativ im Singular (Zeile acht) – nur eine Gottheit betreffend – sich auf die beiden in den Zeilen neun und zehn genannten Personen bezieht: einen Luciolus (lateinischer Name) und eine Mercussa (keltischer Name). Die magischen Zeichen [57] scheinen zu zeigen, dass das untere Ende der Tafel ungefähr erreicht ist.

Zauber – Magie – Phylakterium

Es zeigt sich, dass mit dem Täfelchen aus Badenweiler höhere Mächte angerufen werden. Wir sahen, dass der Mensch Macht über sie gewinnt, wenn er ihre Namen kennt. Sie werden dazu bestellt, eine uns unbekannte Person (einen Luciolus?) vor jeder Gefahr zu beschützen. In den unteren drei Zeilen erscheint nochmals der Befehl zur Rettung, aber im Singular. Man möchte als Beauftragten jenen Acheilon vermuten, der in der achten Zeile verzeichnet ist. Allerdings ist dieser Name (ein Dämon?) nicht weiter bekannt; eine Gleichsetzung mit dem Flussgott Acheloos [58] fällt mir schwer. [59] Aber es ist gesagt, um wen es sich handelt: Luciolus und Mercussa. – Zum besseren Verständnis des Inhaltes der Zeilen lohnt ein Blick auf jene Erscheinungen, die wir mit Amulett, Magie oder Zauber zu verbinden gewöhnt sind.

Ein Amulett ist nach allgemeiner Vorstellung ein beschützendes Objekt, dem die Kraft zugemessen wird, den Träger vor Unheil zu bewahren oder auf eine andere Person einzuwirken, sei es als Liebeszauber oder als Verfluchung. In der Regel sind Amulette entweder steinern oder als Metallplättchen gestaltet. Da sie den Träger beschützen sollen, werden sie auch als Phylakteria [60] bezeichnet. Ihre Kraft gewinnen sie aus magischen Riten wie z.B. Beschwörungsformeln oder Zaubersprüchen und Zauberzeichen. Aus diesem Grund verbindet man das Amulett gern auch mit dem Aberglauben. [61] Die Position des ‚magos‘ [62] war insofern schwierig, als er in den Bereich der Götter eindrang, um sich deren Kraft zu bedienen. [63] Grundsätzlich gehörte das Amulett und alles, was damit im Zusammenhang stand, in den privaten Bereich; sie haben mit offiziellen Vorstellungen von Religion nichts gemein. [64] Wichtig war die Zitation festgelegter Worte einschließlich der Namen der Dämonen; wichtig waren aber auch die Zauberstoffe wie Blut, Milch, Honig usw. [65] Das Amulett, in einer Kapsel [66] am Körper getragen, soll alle diese Bedingungen erfüllen. Tafeln zur Verfluchung [67] wurden meistens auf Bleifolie [68] geschrieben, während Schutzamulette auf wertvollerem Material eingegraben wurden. Das möge folgendes Beispiel zeigen.

Amulett, das den Körper schützt gegen Dämonen, gegen Gespenster, gegen jede Krankheit und jedes Leiden. Geschrieben auf ein Plättchen aus Gold oder Silber oder Zinn oder auf ein Stück hiëratischen Papyrus, wirkt es getragen streitkräftig. Denn es ist der Name der Kraft des großen Gottes und sein Siegel. Er lautet wie folgt: ‚(ZW, wie Kmêphis, Chphyris, Iaô, Aiôn, Iaeô-Logos)‘. Das sind die Namen. Das Zauberbild aber (zeichne) so: die Schlange soll sich in den Schwanz beißen; [69] die Namen inmitten der Schlange und die Zauberzeichen (seien so), wie folgt: (ZZeichen), die ganze Figur aber, wie unten folgt, mit den Worten: ‚Bewahre meinen, des NN, Körper und Seele unversehrt‘. Und hast du es geweiht, trag es. [70]

Eine solche Anweisung für die Herstellung eines Amuletts zeigt noch einmal deutlich die oben genannten Punkte auf. Besonders hervorgehoben sei der Hinweis, dass das Amulett getragen werden solle. [71] Auf der Grundlage antiker Schriftquellen hat man festgestellt, dass Jungen eine Amulettkapsel (eine bulla) zum Schutz vor Bezauberung um den Hals trugen, [72] und zwar regelmäßig bis zur Annahme der toga virilis (im Alter von etwa 16 Jahren), also der Männertoga. Mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter wurde die Amulettkapsel im Larenheiligtum des Hauses aufgehängt; [73] später hat man sie noch gelegentlich getragen, etwa bei einem Triumph. [74]

Es bleibt noch die Frage nach der Einordnung der Silbertafel. Früher sprach man pauschal von gnostischen Amuletten. [75] Dem überaus schwierigen Begriff der Gnosis können wir an dieser Stelle nicht nachgehen, zumal er bis in unsere Zeit erheblichen Missverständnissen unterliegt. [76] Dank zahlreicher Forschungsansätze [77] kristallisiert sich folgendes Bild heraus: Die Gnosis sei „eine religiöse Erlösungsbewegung der Spätantike“, die „Rettung durch die Vermittlung von Geheimwissen“ [78] verheiße. Sie sei „keine dem Christentum eigentümliche Erscheinung, sondern eine Blüte des Synkretismus“. [79] Im ausgehenden 19. Jahrhundert war es keineswegs so selbstverständlich wie heute, die Gnosis als eine eigene religiöse Richtung einzuschätzen. So konnte Wiedemann noch 1885 behaupten, dass „diese magische Richtung“ geholfen habe, „dem Christenthume die Wege zu bahnen“. [80] Er folgte damit Preuschen: „In Ansehung dieser Umstände war also Lucilius ein Christ“. [81] Wenige Jahre später hat M. Siebourg diese Einordnung rigoros zurückgewiesen: „Von Christlichem nicht die Spur“. [82] Es ist in der Tat der Synkretismus [83] – also die Vermischung diverser Ideensplitter – das entscheidende gedankliche Umfeld für solche Textzeugnisse wie dem Amulett aus Badenweiler. Es ist magisch, es ist synkretistisch, [84] und es lebt mit der Zauberei.

Ein Beitrag von Dr. Werner Heinz


Dr. phil. Werner Heinz und arbeitet als freiberuflicher Archäologe und Historiker in Riedlingen (Süddeutschland). Seine Studien der Archäologie und der Kunstgeschichte, erweitert um Theologie und Philosophie, führten ihn zu einer langjährigen Untersuchung des römischen Heilbades von Badenweiler. Werner Heinz ist Autor von mehr als 180 Publikationen, darunter zehn monografische Titel. Er ist der zweite Vorsitzende der Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung e.V. und arbeitet im Beirat der internationalen Mittelalter-Zeitschrift Mediaevistik mit.


Anmerkungen:

[1] Mylius (1936) Texttafel J zum Raum H1 (heute als Hw bezeichnet). Die diesbezüglichen Notizen im Plan hat E. Fabricius in seinem Beitrag zum Ausgrabungsbericht im Band von H. Mylius (1936) auf S. 139 transscribiert.

[2] Mylius (1936) S. 55f.

[3] Heinz, Altar, in: Arch. Nachr. 27, 1981, S. 13-20. Umzeichnung der noch nicht zugewiesenen Fragmente bei Mylius (1936) Texttafel H, 1-7.

[4] Fabricius a.O. liest „Fundort d. Inschrift” usw.; allerdings ist das Wort „Beschriftung“ klar erkennbar.

[5] Heinz, Markgräflerland 1981 passim (mit ersten Schritten zur Neubewertung des Bestandes). Derzeit verfasst der Autor die Niederschrift der eigentlichen Grabungspublikation. Dieser Beitrag soll darin eingestellt werden.

[6] Zu dem neuen Schutzbau (verbunden mit Restaurierungsarbeiten) s. Kirch, Schutzbau (2002) S. 102-110.

[7] Heinz, Photogrammetrische Vermessung (1983) passim.

[8] Heinz, Arch. Nachr. 45, 1991 passim, bes. S. 14 Abb. 1; Heinz, Front.-Ges. H. 20, 1996, passim, bes. die Abb. 1 und 2; Heinz, Harmonie (2002) passim, bes. S. 80 Abb. 58.

[9] Nuber (2002) S. 33 mit Anm. 74.

[10] Außer einem Fluss dieses Namens im westlichen Griechenland bezeichnete dieser Terminus allgemein die Vergöttlichung der Süßwasserflüsse; vgl. z.B. Homer, Ilias 21, 194.

[11] Landesdenkmalamt Freiburg, Abt. Bodendenkmalpflege. Es handelt sich um ein in der Mitte gefaltetes Blatt von 39 cm Höhe bei einer Breite von 23,5 cm. Angeheftet war ein achtseitiges Schriftstück, geschrieben auf zwei ungefähr formatgleichen Bögen, von Pfarrer Gmelin: Es sind „Bemerkungen“, also Korrekturen, zu der Darlegung Preuschens.

[12] Preuschen, Denkmäler (1787) S. 210-230.

[13] Griechisch ἄrguros: Silber.

[14] Zu den tatsächlichen Maßen s. die Beschreibung unten.

[15] Für Unterstützung bei der Lesung danke ich der Archivarin Stefanie Hafner, Riedlingen, vielmals!

[16] Die Lesung von …sigille ist etwas unsicher.

[17] Preuschen, Denkmäler (1787) S. 212-214 Anm. e).

[18] Preuschen a.O. S. 213 Anm. e).

[19] So Heinz, Amulett (1982) S. 62; Nuber (2002) S. 24.

[20] Preuschen a.O. S. 209.

[21] Preuschen a.O. S. 211; 218.

[22] Preuschen a.O. S. 213 Anm. e).

[23] Man fragt sich, wer „normale“ Briefe auf Silberfolie schreibt.

[24] Preuschen a.O. S. 212; die Erstfassung von 1786 liest: „Grüse die Schwachen“.

[25] Preuschen a.O. S. 212.

[26] Man ist versucht, hierin ein eckig geschriebenes „O“ zu erkennen; das deckt sich aber nicht gut mit der sonstigen Handschrift auf diesem Plättchen.

[27] Ein Vergleich mit unserem Foto des Amuletts oder unserer Umzeichnung zeigt die Differenzen auf.

[28] Es wäre ermüdend, sämtliche Fehler in Preuschens Text herausstellen zu wollen.

[29] Einige grundsätzliche Fehleinschätzungen Preuschens bei: Heinz, Amulett (1982) S. 63.

[30] Sie erfolgte am 27.10.1981 im Landesmuseum Karlsruhe. Dem damaligen Oberkonservator Bernhard Cämmerer bin ich zu großem Dank verpflichtet für die Erlaubnis zu einer gründlichen Untersuchung am Original, verbunden mit einer Lesung der Zeilen auf der Vorder- und der Rückseite. Auch für das hervorragende Foto und die Erlaubnis zur Wiedergabe danke ich B. Cämmerer.

[31] So z.B. bei Wiedemann (1885) S. 216, wobei Wiedemann die viermalige Anrufung „IA“ nur dreimal schreibt und daraus die heilige Dreizahl (S. 218) konstruiert; Kraus (1890) S. 7 Nr. 13; Zangemeister (1905) S. 65 Nr. 5338, wobei Zangemeister die erste Zeile komplett weglässt; auch noch Nuber (2002) S. 23; bei Heinz, Amulett (1982) S. 65 taucht dieses vermeintliche Iota nicht auf.

[32] Feine/Behm/Kümmel, Einleitung (1970) S. 378.

[33] Vgl. Heinz, Amulett (1982) S. 62.

[34] Nuber (2002) S. 22.

[35] Nuber (2002) S. 23.

[36] Wiedemann (1885) passim; S. 216 die Lesung in griechischer unzialer Schrift; S. 217 Umschrift in lateinischen Buchstaben.

[37] Wiedemann (1885) S. 217.

[38] Wiedemann (1885) S. 218. Wir haben bereits darauf hingewiesen.

[39] Nuber (2002) S. 23 Anm. 8 mit Auflistung der Literatur. Ich habe in meinem Beitrag zur Tafel die Einstufung als „christlich“ ausdrücklich zurückgewiesen (S. 68).

[40] Heinz, Amulett (1982) S. 63; Nuber (2002) S. 24f. H. U. Nuber kannte meine Arbeit zur Zeit der Niederschrift seines Beitrags nicht. Sein kurzer Hinweis auf meine Arbeit in seinem Nachtrag ist leider fehlerhaft, denn ich habe auf drei Namen (einer griechisch, einer lateinisch und einer keltisch) hingewiesen, aber ausdrücklich notiert, dass nur zwei Namen sicher seien.

[41] Zangemeister (1905): CIL XIII, 2 Nr. 5338. Nuber (2002 S. 25) bezeichnet diese Wiedergabe als „eine sehr gute, fehlerfreie Umzeichnung“ – eine Aussage, die in dieser Form nicht in Ordnung ist, da Zangemeister die erste Zeile insgesamt weglässt.

[42] Ich folge hier der eigenen Wiedergabe im Beitrag zum Amulett (1982 S. 62) mit geringen Änderungen.

[43] Es ist nicht einfach, das Material Silber zu beschreiben; bei Bleitäfelchen tut man sich leichter. Schriftträger aus Blei hat man gern für Fluchtafeln eingesetzt (Schwinden, 1984, S. 185 zu Kat. Nr. 74: Fluchtäfelchen aus dem Amphitheater Trier), während mit Silberblech eher der „glückbringende Charakter“ in Verbindung stehe (Schwinden, 1984, S. 189 zu Kat. Nr. 75). Allerdings hat man auch auf Bleiplättchen für die Beschriftung mit Liebeszauber hingewiesen (Nesselhauf, 1960, S. 77).

[44] Dieser Buchstabe ist im unteren Bereich unsauber geschrieben: der untere Bogen ist nur schwach angesetzt, wie auch die Umzeichnung zeigt. Nuber hat bei der Wiedergabe des Amuletts (2002 S. 23) das unziale Sigma notiert, jedoch in der Auflösung (eine Seite weiter) statt dieses Sigmas ein „R“ geschrieben. Eine Begründung fehlt.

[45] Man könnte an eine Benennung, die im Nominativ steht, denken; aber welcher Gott wäre gemeint? Es kann sich nicht um eine Anrufung handeln, denn die dürfte nicht im Nominativ, sondern müsste im Vocativ hinter einem nicht aspirierten Omega stehen.

[46] Dieser Buchstabe sieht aus wie ein „Z“, also ein Zeta. Vgl. z.B. Preisendanz, Papyri Bd. 2 S. 26.

[47] Bei Nuber fehlt in der sechsten Zeile bei ‚quem‘ in der Wiedergabe das Epsilon; am Ende dieser Zeile wie auch am Ende der Zeile neun zieht Nuber in der Auflösung das ‚ei‘ zu ‚i‘ zusammen. Auf Nubers falsche Auflösung des Sigmas in Zeile eins haben wir hingewiesen.

[48] Dieser Querstrich liegt nicht nur über der rechten Haste des ‚N‘ (so Nuber, 2002, S. 25), sondern über dem ganzen Buchstaben. In der Tat könnte er sogar als Unterstrich für das ‚O‘ darüber gelten.

[49] Vgl. z.B. Instrumenta Inscripta (1991) S. 150f. zu Kat. 241. In der Umschrift erscheint der vermeintliche Querstrich nicht.

[50] Hornung, Totenbuch (1990) S. 239 zu Spruch 125 V. 102f.

[51] Heinz, Haus Gottes (2014) S. 275f.

[52] Vgl. dazu den hebräischen Text von Jesaja 6, 1-3.

[53] Wohl aus dem Hebräischen übernommen: schemesch olam, d.h. ewige Sonne.

[54] Eine mögliche Ergänzung als „(fili)um“, wie seinerzeit (in der Nachfolge Gmelins) ins Spiel gebracht (Heinz, Amulett [1982] S. 66), ist nicht sehr wahrscheinlich, da zu wenige Buchstaben für den zu ergänzenden Raum zur Verfügung stünden.

[55] So geschrieben statt ‚periculo‘.

[56] Nuber (2002) S. 35.

[57] Vgl. Bonner (1950) S. 59. Insgesamt ist nicht viel bekannt über diese magischen Zeichen.

[58] So Nuber (2002) S. 35.

[59] Es geht nicht um die Namen Acheilon – Acheloos, sondern um inhaltliche Fragen. Wir werden darauf zurückkommen.

[60] Sing.: Phylaktérion, von griech.: phylátto bewachen, beschützen.

[61] Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch (2010) S. 37.

[62] Zu diesem Begriff s. Deppmeyer (2022) S. 10.

[63] Deppmeyer (2022) S. 11.

[64] Vgl. Zintzen (1979) Sp. 1461: Mit Religion verbinde sich gemeinsamer Besitz einer Gruppe, während der Zauber, die Magie eine wesentlich geringere soziale Komponente habe.

[65] Zintzen (1979) Sp. 1468.

[66] Grimm (1969) S. 216 Abb. 37.

[67] Sog. Defixionen (lat.: defigo: festbannen), um den Willen einer Person zu bannen oder gar ihren Tod zu verursachen: Dodds (1970) S. 105.

[68] Deppmeyer (2022) S. 25-30. Auf die Trierer Verfluchungstäfelchen (Blei) haben wir oben hingewiesen.

[69] Der Ouroboros. Von Bauer/Dümotz/Golowin (2006) S. 46f. zu den Ursymbolen gezählt.

[70] Preisendanz, PGM II S. 26

[71] Das spricht gegen Nubers Überlegungen, beim Amulett von Badenweiler an eine Stiftung für die Götter zu denken: Nuber (2002) S. 33f.

[72] Bereits in den ersten Tagen nach der Geburt umgelegt: Blanck (1976) S. 103.

[73] Blanck (1976) S. 106.

[74] Marquardt (1886) S. 84-86.

[75] Vgl. z.B. Siebourg (1898) passim.

[76] Vgl. dazu meine Rezension zu: Joseph P. Strelka, Dante und die Tempergnosis (2012), in: Mediaevistik 27, 2014, S. 464-468.

[77] Vgl. z.B. Rudolph, Gnosis (1975) mit einer Fülle von Beiträgen auf mehr als 800 Seiten.

[78] Kollmann (2016) S. 86.

[79] Wulfert (2014) S. 90.

[80] Wiedemann (1885) S. 234.

[81] Preuschen, Denkmäler (1787) S. 227.

[82] Siebourg (1898) S. 152.

[83] Zu diesem Begriff: Bauer/Hutter, Lexikon (1999) S. 351.

[84] Heinz, Amulett (1982) S. 68; Nuber (2002) S. 31.


Literaturhinweise:

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