Der Name scheint Programm: Wer denkt nicht an holiday oder holy? Vielleicht auch an holly (Holunder) und Frau Holle. Seit einigen Jahren wird das indische Fest heftig gefeiert, auch außerhalb Indiens. Von Mai bis August zieht die Farbshow von Stuttgart bis Hamburg, von Mannheim bis Berlin. Die Eventkultur globalisiert auch lokale Feste und macht sie zu Ereignissen außerhalb der Ursprungskulturen. Dabei werden Kontexte ausgehebelt und Symbole neu besetzt und umkodiert.
Farben können fluten und brennen. Als in Leipzig einmal ein Platzregen das Holi-Fest behinderte, drangen die frustrierten Feiernden in einen Getränkemarkt und veranstalteten dort eine Orgie des Saufens und der Zerstörung. In Taiwan wurde Ende Juni 2015 in einer Diskothek Farbstaub über die Menge geblasen. Er verwandelte sich in eine einzige Flamme. Die Verbrennungen waren schrecklich.
Die Katastrophe in Taipeh hatte vielleicht nichts mit Holi zu tun, aber der Wunsch der Menschen, die Welt in eine Explosion der Farben zu verwandeln, scheint universale Wurzeln zu haben. Noch jedes Feuerwerk bestätigt das. Was, wenn der ganze Planet in einem Farbrausch explodierte? Ist das vielleicht unser geheimer Wunschtraum für das Ende? Sind es Erinnerungen an kosmische Ereignisse, Vorahnungen künftiger?
Wie auch immer: das indische Farbenfest verkörpert selbst schon Ambivalenzen. In Nordindien heißt es Holi, in Südindien hat es viele andere Namen und ist dort weniger wichtig. Allerdings breitet es sich in letzter Zeit zunehmend aus, etwa so, wie auch Halloween erst in den letzten 20 Jahren global wurde. Vielleicht stehen die beiden sogar konträr zueinander. Denn während Halloween mit Schwarz den Herbst/Winter einläutet, färbt Holi den Frühling/Sommer ein. Beide sind universal geworden, weil sie auch ohne komplizierte Erklärungen über Hintergründe verständlich sind: das eine ist dunkel und drohend, das andere hell und farbig – Grundzustände der Erde und des Menschen, von Nacht und Tag, von Wasser/Erde vs. Luft/Feuer.
Ich habe gerade das Bild Shivas an eine meiner Türen gehängt, ein Tuch, das man mir in Tamil Nadu geschenkt hat. Der Gott sitzt mit seinen Symbolen leuchtend blau und glitzernd und schaut uns tief ins Gewissen. Das Bild ist extrem farbig und kann bei uns nur in kleiner Dosis aufgenommen werden. Daher vielleicht die Überdrehungen, die bei westlichen Übernahmen des Holi geschehen.
Als ich dieses Frühjahr zu einem Vortrag in einer indischen Universität ankam, begegneten mir lachende Studenten. Und schon hatte ich blauen und roten Staub, irgendwelche Lackfarben auf Gesicht und Hemd, und begann diesem Gott zu ähneln, nur in einer etwas weniger ordentlichen Form. Später versuchte ich, über ein Hotel an einen Strand zu gelangen. Doch die Wächter wiesen mich ab mit den Worten: „Students have to use the other entrance!“ Farben verdecken Falten, war die eine Lehre; die andere, dass dieses Fest im Wesentlichen von jungen Leuten und Studenten getragen wird, zumindest in dieser Gegend Indiens (im Süden, um Pondicherry bei Chennai herum).
Es ist eine interessante Erfahrung, wenn man in einen Brauch hineinrutscht, ohne Genaueres darüber zu wissen. Man ist zunächst erfreut oder verärgert, weil diese Scherze über Alltag und Sitte hinausgehen. Man muss sich zurechtfinden und Fragen stellen: in was für ein Leben bin ich hier geraten? Das ist fast eine existenzielle Situation, denn es gibt immer wieder Momente im Laufe unseres Lebens, in denen wir uns genau diese Frage stellen. Man schaut sich um nach Menschen, die vielleicht mehr wissen. Ich fragte also Claudia, eine deutsche Freundin, die schon lange in Pondicherry als Übersetzerin und Kulturvermittlerin lebt. Da sie schon Teil der indischen Kultur geworden ist, nimmt sie das Fest nicht mehr wichtig: „Das ist wie Ostern bei uns. Nur dass man nicht die Ostereier, sondern sich selbst anmalt. Du machst dich selbst zum Ei, mein Lieber!“ Der nächste, den ich frage, ist mein münsterländischer Vetter, der seit vier Jahrzehnten in Tamil Nadu lebt, ein eher praktischer Mensch. Er zieht sich um die Holi-Zeit immer gern zurück, weil die Farben inzwischen grässlich seien. Er sagt, „Richtiger Kunstlack, den du nicht wieder loswirst, der für die Haut richtig schädlich ist!“, und dann verschwindet er wieder in seinem Erdloch, denn er ist Archäologe.
Mein Kollege, der indische Psychologieprofessor Rangaiah, hält dies Fest für nicht besonders wichtig in Südindien. Die Kinder, sagt er, erwarten es nicht, wie bei euch Weihnachten oder ihren Geburtstag oder Halloween. Einige Verrückte werfen mit Eiern und Fett. Rangaiah gibt mir auch Hinweise auf die mythischen Ursprünge des Festes. Auch sie sind nicht eindeutig, wie alle Ursprünge. Jedenfalls handelt die Geschichte, die er als Kind gelernt hat, von Shiva, dem Gott der Zerstörung und des Neubeginns, mit anderen Worten: des Schöpferischen. Shivas Gattin Sati ging ins Feuer (weil ihr Vater Shiva beleidigt hatte…). Daraufhin zog sich Shiva in tiefster Trauer von der Welt zurück und widmete sich nur noch der Meditation. Seine künftige Gattin Parvati jedoch liebte ihn und meditierte in den Bergen, um seine Liebe zu erhalten. Die Götter sahen das und beschlossen, Shivas depressiven und liebesfeindlichen Zustand zu beenden und entsandten den Liebesgott Kaamadeva. Der schoss seinen Pfeil auf den meditierenden Shiva. Er wachte auf, sein drittes Auge öffnete sich und wutentbrannt verwandelte er Kaamadeva in Asche. Immerhin hatte der Pfeil der Liebe ihn in seinem Verlangen nach einer Gefährtin geweckt und so kam es zur Verbindung mit Parvati. Später wurde Kaamadeva übrigens wieder von Shiva zum Leben erweckt (und Shiva versöhnte sich mit Satis Vater).
Was hat das aber mit Holi zu tun? Ich nehme an, es ist die Wiedererweckung zu Liebe und Leben, die hier als Legende dargestellt wird. Das Verbrennen ist auch ein wichtiges Motiv. In jedem Fall geht es um Tod und Wiedergeburt: Sati verbrennt, sie reinkarniert sich in Parvati, Kaamadeva verbrennt und wird wieder lebendig. Shiva verliert alle Lebensfreude und auch diese wird erweckt. Ein wenig findet sich davon noch in der christlichen Fastenzeit und Osterliturgie. Die Fastenzeit beginnt mit der Asche, die auf Aschermittwoch auf die Stirn gemalt wird, und endet mit Ostern als Frühlingsfest.
Die Geschichte ist eine der vielen Erklärungen für Holi, das letztlich ein Willkommen für den Frühling und die Fruchtbarkeit darstellt, in welcher Gewandung auch immer. Das Festival und seine Mythen sind ein schönes Beispiel für die unendliche Verschlungenheit der indischen Mythologie. (Eine wunderbare Einführung in diesen Dschungel bietet übrigens Roberto Calasso mit seinem mythischen Erzählband Ka.) Man kann nämlich pausenlos weitererzählen. Vor allem die Geschichte über Holika, nach der das Fest überhaupt benannt wurde. Im indischen Mythos ist sie zunächst die böse Schwester eines bösen Königs, eine Hexe. Der Königssohn hatte sich dem Herrn Shiva als Gott zugewandt, was dem Vater nicht gefiel, denn er wollte selbst Gott sein. Daraufhin wies er seine Schwester Holika an, mit dem Sohn durch ein Feuer zu springen, wohl wissend, dass der Sohn verbrennen würde. Holika allerdings hatte einen Schutzmantel, der sie vor den Flammen schützte. So dachte man, doch der Mantel half nur, wenn sie allein durchs Feuer sprang. Würde sie eine andere Person mit sich tragen, verlöre er seine Wirkung. Tatsächlich verbrennt sie selbst bei dem Sprung, während der Sohn gerettet wird. Nun kann man hier auch interpretieren, denn die Mythen liegen nicht als fertige Texte vor, sondern unterscheiden sich in Nuancen, die aber ausschlaggebend sein können. Eine Erklärung wäre nämlich, dass Holika sich bewusst opferte, um den Sohn zu retten. Dann wäre sie keine Hexe, sondern eine Heilige. Auf die Jahreszeiten übertragen: sie opfert sich, um den Frühling und den Fortgang des Lebens zu ermöglichen. Da stünde sie plötzlich unserer Frau Holle nahe! Im Märchen steht die Frau Holle mit ihren Schneeflocken für den Winter und dieser muss aufgeben, damit der Frühling kommt. In manchen Sagen geht sie auch als Fruchtbringende über die Wiesen und Felder.
Das Farbenspiel von Holi wiederum stammt aus einer anderen Quelle. Der kleine Gott Krishna wurde einmal von einem Dämon mit vergifteter Milch genährt. Er starb aber nicht daran, nur wurde sein Gesicht blau – so wie wir ihn heute noch oft auf Bildern sehen. Er hatte ja viele Gefährtinnen. Eine von ihnen, Radha, war besonders hellhäutig. Das wurmte ihn und eines Tages beklatschte er sie mit Farbe, auf dass sie so aussehe wie er. Seither bewerfen und bemalen sich die Liebenden in Indien mit Farben. Ich würde aber noch weitergehen. Das Fest ist eines, das Unterschiede einebnet durch Freude. Ausdruck von Freude ist Buntheit. Der dunkelhäutige Krishna war möglicherweise ein Vertreter einer anderen, dunkleren Rasse auf dem indischen Subkontinent. Helligkeit der Haut war und ist immer noch ein Statussymbol, nicht nur in Indien. Durch Krishnas Farbbeutelaktion wurden die Unterschiede zwischen Klassen und Rassen zumindest zeitweise, während des Festes, unterlaufen.
Der kritische Verstand wird temporär ausgesetzt, alles wird zu einem bunten Spektakel, als seien wir selbst betrunken. Was meinen eigenen Weg zu dem Vortrag anging, nachdem man mich besprüht und bespritzt hatte: Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Termin wahrzunehmen, und so grüßte ich diverse Dekane und Professoren wie ein bemalter Dämon. Auch den Vortrag durfte ich in dieser Aufmachung halten, was gut ankam und erfreulicherweise vom Inhalt ablenkte; ich konnte sagen, was ich wirklich dachte. Die Farben machten es möglich.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.