Das Aufflackern in der Dunkelheit. Eine Seitenführung zu Novalis‘ Hymnen an die Nacht

Unendlich und geheimnisvoll
Durchströmt uns süßer Schauer –
Mir deucht, aus tiefen Fernen scholl
Ein Echo unsrer Trauer.
Die Lieben sehnen sich wohl auch
Und sandten uns der Sehnsucht Hauch.

Novalis, Hymnen an die Nacht VI, 9

Ich erinnere mich an einige Sternstunden der Germanistik, ich war damals noch nicht lange eingeschrieben an der halleschen Alma mater und verdanke sie meinem Dozenten Rüdiger Ziemann, bei dem ich neben Seminaren zu Goethe und Nietzsche auch eines zu Novalis belegte. Es waren spärlich besuchte Seminare, schon zu Beginn der neunziger Jahre galt die Lyrik auch im akademischen Bereich als verrufenes Zauberzeug.

André Schinkel © Tina Peißker

Ich hätte aber ohne diese Oasen im großen Nachwendedurcheinander wie im Zweifel, mich in der Flucht nach vorn doch irgendwann bei mir einzufinden, vielleicht nicht weiter und wohl nie zu Ende studiert. Ja, und ich hatte am kleinen Institut am Uniring noch einen weiteren Ermutiger: Roland Rittig, der mich letztlich ‚entdeckte‘ und förderte, bis ich den zweiten Band eigener Gedichte in einem kleinen Verlag sicher wußte.

Rüdiger Ziemann und Roland Rittig, das waren seinerzeit Gründe, mein schon in jungen Matrikeln lahmendes Budget an Semesterwochenstunden zu erfüllen und abzuleisten, ein bißchen wenigstens. Die Welten, die sich dort, noch jenseits der digitalen Allverfügbarkeit, öffneten, sie waren Trost und Erbauung, sie leiteten die Ahnung, daß es in der Bedrängung auch weiterhin Wege gäbe, auf eine dünne elliptische Bahn.

Ein wenig war das schon so etwas wie ein Licht, das in weiter Schwärze aufblinkt – mein Vater hatte sich pünktlich zum Studienbeginn aus dem Leben gehenkt, ich war in Dunkelheit versunken und fürchtete mich zugleich vor dem Licht, das mir vor der offenen und von Fragen zerfahrenen Brust lag. Ja, ich fragte mich, ob das auch mein Weg sei, und fühlte mich unschuldig schuldig an den Verwerfungen, aus denen ich mir gewagt hatte, etwas Neues zu beginnen, dessen Ausgang ungewiß war.

Zugleich fürchtete ich mich vor einer „Rückkehr“ in die Dunkelheit, wie sie Novalis sich wünscht, um die Botin, die ihm „der Sehnsucht Hauch“ sandte, wiederzusehen. Ich, der in vielen Nächten das Licht anließ, mußte erst lernen, das Ungefähre in der Schwärze auch mit dem Ursprung, der Ruhe in Verbindung zu bringen. Der wöchentliche Gang zu den karg besetzten Seminaren war bei mir auf die Lichtseite gesetzt.

Was geschah bei diesen Zusammenkünften?

Während ich bei Rittig vor allem die Lyrik der Gegenwart hörte: Rose Ausländer, Johannes Bobrowski, Sarah Kirsch und die Matadoren der Sächsischen Dichterschule, öffneten sich bei Ziemann die Räume für die Vorhut dieser Ära: Goethe und die „lyrische Nacht“ nach dessen Tod, die erst Friedrich Nietzsche in seinem Aggregatzustand als Dichter im Vorfeld der Symbolisten und Expressionisten beendete. In der Mitte dieser Erwägung stand das fragmentarische Werk dieses frühumwitterten und verklärten Dichterjünglings, als den man Friedrich von Hardenberg, der sich selbst Novalis nannte, gern verbrämte. Das Zentromer, das lyrische Zentralgestirn dieses Werks bildeten die Hymnen an die Nacht, Novalis’ letztlich einziges zur Vollendung gebrachtes größeres Opus. Die Texte bilden die sicher bedeutendste Verlautbarung der Frühromantik, und ein wenig scheint es, als wären sie der Forderung nach einem Miteinanderausgleich von kosmischem Wissen, Glauben, Liebe und Kunst am weitesten angenähert. Ihnen, dem triadischen Wechsel von Grelle und Schatten in ihnen, das als das Inklusen-Paar Leben ∙ Tod sichtbar wurde, war in dem kleinen Institut am halleschen Uniring ein Mittelseminar gewidmet.

Es wäre besser eine Reihe von Mittelseminaren gewesen, allein das Bedenken der geballten, in ihrer Euphorie kulminierenden fünften Hymne hätte, denke ich, ein ganzes Semester gefüllt. Sie, als erster Schenkel der dritten Triade, findet sich auf der höchstmöglichen Ebene der Steigerung, die der Zyklus anstrebt. Auch ihr folgt Ernüchterung, nun in der sprichwörtlichen „Sehnsucht nach dem Tode“, die die sechste und Abschlußhymne bildet, ausgehend. Es ist wohl dieser Wandel von Licht und Dunkelheit, noch einmal reziprok in dunkler Begeisterung (also auch: Erhellung) und angekaterter Gewißheit (also eben auch: Verdunklung durch Erkenntnis) verzwirlt und mit dem Wunsch belegt, in die Schwärze, den Fonds, der allem unterlegt ist und auf dem das Licht ∙ das Leben vorübergehend und beseelt aufflammt, zurückzukehren mit einem Wissen, das bleibt.

Ist es so? Man kann es sich nicht leicht vorstellen. Mein Dozent aber legte es in einer Weise dar, dass es deutlich im Raum stand. Wenn überhaupt, nähert sich Novalis am ehesten dem Ideal des Allumgreifenden, das die Frühromantik fordert und das Friedrich Schlegel mit dem Begriff der „Universalpoesie“ in seinem 116. Athenäums-Fragment umschreibt. Das Licht als Spielart, vergänglicher Zustand der Schwärze (das in der Tat seine Entsprechung im Kosmischen hat), und die Apotheose der frühverlorenen Liebe, die die Brücke bildet zwischen Gedicht und Gebet, die tiefe Erkenntnis Novalis’, die Welt müsse gleichermaßen ‚poetisiert‘ wie die Kunst ‚logarithmisiert‘ werden, sie finden in dieser sich in dreimal zwei Antagonisten gefaßten Dichtung geheimnisoffen wieder.  

Was meint dies, was geschieht im Vorblick dieser Visionen? Es ist nicht zuletzt das schwer zu Beschreibende, weil es einerseits laut Schlegel eine progressive, eine voranschreitende Transformation ist, andererseits schon da das Allumfassende dieses Anspruchs gegen die Vorstellbarkeit gesetzt ist und wohl eher die Progression denn die Ankunft vorstellbar ist. Novalis versucht in den Hymnen an die Nacht eine Entgrenzung zu beschreiben, die zugleich eine aus den Fugen geratene Ordnung wiederherstellt. Das Erkennen, daß die Nacht das Unendliche ist, in die das Licht nur eingelagert wird, setzt einen Mechanismus in Gang, der in jeder zweiten Hymne durch den Morgen unterbrochen entzaubert wird. Die Geliebte als „Botin der Nacht“ kündet vom möglichen Anderen, sie ist die „Sonne der Nacht“, mit der die „ewige Hochzeit“ gefeiert werden soll. Es ist auch das Licht des Glaubens, das erklärt wird, gegen das die Nacht gesetzt wird.

Die zweite Hymne bildet die Klage um das Tagwerk, die Geschäftigkeit, die die Euphorie der Nacht nicht halten kann; aber es scheint zugleich die Ahnung auf, dieser Zustand ist nicht von Dauer. Man kann ihn mit Tagräuschen bekämpfen, aber erst die Wiederkehr der wachsende Dunkelheit wird ihn wirklich unterbrechen. In jedem Triadenpaar steigert sich das. Und es führt letztlich zu der Stelle, die im Ofterdingen-Roman gleichsam aufscheint: „Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“

Es ist letzthin, so verstand ich es damals, ein gangbares Verfahren für die geforderte Union von allem in der Kunst. Alles dient ihr wie sie auch umgekehrt dem Erkenntnisgewinn und der Welterklärung – in einem ständigen „work-in-progress“. Hinzu tritt die Liebe und sie als Gabe der, Geschenk für die „Botin der Nacht“ an die Seite (korrekter: die Stelle?) der Religion. Der Tod ist der Eingang für die Synthese, in der man, durch den Wechsel von Helle und Dunkel verändert, den Schritt ins Unendliche, den Ursprung zurückwagt. Ein gewagter Blick, zumal durch den Spiegel unserer zerbrochenen Zeit, dessen irdische Sorge sich schwer auf die Folgerung des Zyklus’ legt.

Noch einmal: Die Poetisierung einer klar umrissenen Welt, das Logarithmisieren der Kunst, diese scheinbaren Widersprüche lagen in besagtem Seminar erklärt und logisch in der Luft. Die schwierige Literaturtheorie der Romantik, sie bekam in den Ausführungen Ziemanns Hände und Füße. Den Roman als Universalform der romantischen Forderung, letztlich hat ihn nur Novalis triftig versucht. Lediglich der eigene frühe Tod kam ihm womöglich in die Quere. Vom niederen Schlichten durch die flackernden Wüsteneien der Suche zu einem höheren Schlichten: Es war wohl das einzige Mal in meinem Leben, daß ich eine Ahnung faßte, was ein Logarithmus sei und was er bedeutet. Letztlich berührten sich in der (sic!) kühnen Deutung vom Licht, das in die Finsternis eingelagert ist und schließlich unser Leben, Natur, Wissen und Kunst auf eine zuvor unbekannte Weise.

Wenn die Welt poetisierbar ist, ist es auch möglich, die Kunst zu verwissenschaftlichen und den Glauben zu objektivieren. Novalis versucht in seinem „reifen“ Werk eben diese Synthese in eine zunehmend universellere Form zu gießen. Die Mathematik ist dabei dem Schönen gleichgestellt, die Physik der Poesie, die Schönheit des Worts bedingt sich auch aus seinem vielleicht kühlen Gehalt, das Profane erfährt eine ziselierte Beifügung durch die Exegese von Glauben und Wissen. Die Nacht in den Hymnen, scheint es, ist der Fonds, das unendliche Element, das all dies aufnimmt, die Rückkehr ins Dunkel ist auch ein Nach-Hause-Kommen. Nach der Erleuchtung geht man als ein Veränderter in die Ewigkeit, der man qua Geburt entstammt, wieder ein. Es ist die Rückkehr in ein aufgeladenes Nichts, durch die Pforte des Todes. Es ist die Konsequenz aus der gesteigerten Erkenntnis aus dem dritten und fünften Text – die Einkehr beim Ich (das in der vierten Hymne sein Tagwerk mit Fleiß, aber steigender Sehnsucht nach der Nacht erfüllt) und seine Einbettung in die Geschichte der Religionen, an dessen Ende die Poesie des Ich zum Evangelium gerät. Und dieses inner sanctum sind schließlich die Hymnen selbst.

Die Botin, Geliebte – das Leben, das Licht, das aus der Welt verschwand und nun in der Dunkelheit der Ewigkeit wartet. Das uns die Rückkehr ins Nichts nicht erspart bleibt und in der Vision, die Liebe wiederzufinden, aber ein Trost ist, quasi dieselbe Bewegung, die Religion vollführt, das Unvermeidliche zu mänteln. Und letztlich, das Blühen der Visionen in der Schwärze und die Ernüchterung bei Lichte, der der Wunsch folgt, in der Euphorie des Selbstverheißenen, Gesichteten aufzugehen. Diese Suche, die auch in Schillers Die Götter Griechenlands angestimmt ist, nach Beseelung, Wiederbeseelung, und wie sie doch Novalis anders ausdeutet – während Schiller (dem sich Hardenberg in Verehrung näherte) im Christentum die gottferne Gegenwart erkennt, glaubt Novalis an eine neue mögliche Beseeltheit durch eben diese Ausformung von Gläubig-Sein.

Vielleicht erläutert es ein wenig den Unterschied, der sich zwischen Klassik und Romantik geriert, zwischen denen letztlich Hölderlins Vision von der Wiederkunft der Goldenen Zeit, dem „Fürst des Fests“ und seiner Meisterboten vermittelt. Paradoxerweise ist die sechste, also die dritte Licht-Hymne diejenige, die die Rückkehr in die „Heimat“ der Nacht durch den Tod beschreibt. Das kristallin Gefaßte hebt sich durch die Erfordernis der Ewigkeit auf und wird von dieser umschlossen zugleich. Es wird so das Unabänderliche (Sophies, der eigene Tod) erträglich und durch einen Sinn geadelt – letztlich ist das der romantische Versuch, eins in alles zu fassen. Das Licht des Christentums beleuchtet dabei den Weg, ist aber letztlich Etappe auf der Rückkehr in das „ewige Dunkel“.

Novalis’ Werk ist eine Wellenbewegung, es bricht auf dem Kamm einer hohen Welle ab. Wir wissen nicht, wohin sich sein Blick bewegt hätte, wäre er älter geworden; ob sich die Dichtung zugunsten einer weltlichen Karriere, deren Iden erkennbar sind, „vertan“ hätte. Anders als der stramme Tenor, der Klassik Klarheit und der Romantik Verklärung zuweist, habe ich in den Hymnen an die Nacht, glaube ich, kühle Präzision des Denkens und in einem die beherzte Trostsuche des Dichters im wehenden Staub vom frühen Grab Sophie von Kühns her zu erkennen geglaubt. Wohl wäre mir das nicht gelungen, wenn ich nicht in dieses dünn besuchte Seminar in der halleschen Germanistik geraten wäre, selbst auf der Suche nach Trost und dem, der ich da noch nicht war. Es ist auch eine Freiheit, Größe und Weite des Denkens darin, paradoxerweise, gefangen.

Das alles hörte ich, da war mein toter Vater noch nicht so lange in seiner Urne verschwunden. Und auch wenn mich die Sehnsucht nach dem Tode ängstigte in diesen für mich schwierigen Monaten und Wochen, so war mir die Beschäftigung mit dieser ins All und auf das Kleinste zugleich ausgerichteten Folge Novalis’scher Befindung, Anrufung des ersehnten Friedens mit der Rückkehr ins Dunkel, dem Verlöschen des Lichts, das man ist, für den Preis, die verklärte Gefährtin wiederzutreffen, die wohl gemäßere Form, mich bei diesem Dichter einzufinden, als die Geistlichen Lieder, sein anderes lyrisches Großwerk, die ich ebenso liebe, denen ich aber im Augenblick der Geworfenheit zwischen dem Dunkel der Schuld, dem Licht des Fortgangs nicht ganz vertraute.

Ich habe die Klugheit, Klarheit und Behutsamkeit, mit der Rüdiger Ziemann über dieses so erstaunliche abendländische Dichtwerk sprach, das zugleich das Streben seines Verfassers, die Forderung nach der Aura jenes universalpoetischen Moments, in der Wissen, Geist und Kunst zueinanderfinden, umgreift, niemals vergessen.

Ein Beitrag von André Schinkel


André Schinkel ist Schriftsteller, Lektor und Archäologe. Seine Texte wurden in achtzehn Sprachen übersetzt. Darüber hinaus dichtet er aus dem Bosnischen, Serbischen, Kroatischen, Bulgarischen, Armenischen, Englischen und Altägyptischen nach. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien, u. a. 2006 den Förderpreis der Ringelnatz-Stiftung. Zudem war er Stadtschreiber von Halle, Ranis und Jena. Von ihm erschienen sind u. a. durch ödland nachts (1994); Herzmondlegenden (1999); Unwetterwarnung. Raniser Texte (2007); Das Licht auf der Mauer (2015); Bodenkunde (2017); Anna Hood und das Wunder vom Crostigall (2021).


Anm.: Der Text entstand für den Novalis-Schwerpunkt der Thüringer Zeitschrift Palmbaum, Heft 1/2022. Die Rechte an ihm liegen uneingeschränkt beim Autor.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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