Dantes Hölle aus der Sicht einer Archäologin

Es ist nicht zu leugnen: Die Göttliche Komödie ist eine herausfordernde Lektüre. In Auszügen hatte ich sie bereits im Laufe meines Studiums gelesen, aber niemals einen Teil vollständig, geschweige denn alle zusammen. Zudem weisen mein Wissen und mein Verständnis, was die vielschichtige mittelalterliche Politik in Europa und die Feinheiten christlicher Symbolik betrifft, deutliche Lücken auf.  Mein Interesse reicht in fernere Zeiten zurück, zu den Monumenten und Hinterlassenschaften der verschiedenen Völker, die lange vor der Zeit der Römer oder der Geburt Christi die Britischen Inseln bewohnten.

Vielleicht liegt es ja daran, dass ich mich in Dantes Welt ein wenig verloren gefühlt habe. Ja, die Hölle fesselte mich und schien mir merkwürdig vertraut trotz des Gebirges ihrer Bilder und Gestalten, die mir hin und wieder nur vage bekannt waren. Warum? Dantes Hölle ist kein angenehmer Ort. Nach einigen Reflexionen fand ich einen unerwarteten Grund dafür. Es war die Tatsache, dass das Inferno ein riesiges vielschichtiges Loch ist, die mich am meisten faszinierte. Aus der Sicht der Archäologie kann man Dantes Hölle beinahe als archäologisches Forschungsfeld sehen, als eine gigantische Ausgrabungsstätte voller stratigrafischer Schichten und Artefakte.

Zugegebenermaßen ist das keine perfekte Analogie. Wie jeder anständige Archäologe bestätigen wird, beschäftigt sich die Archäologie nicht damit, Löcher zu graben. Löcher sind unordentlich und unstrukturiert, sind nicht richtig vermessen, haben keine geraden Seitenwände und sind auch nicht gut geplant. Löcher gestatten keine genaue Aufzeichnung und Beurteilung stratigrafischer Schichten. Löcher sind zum Plündern und Ausrauben von Gräbern da, sie weisen keinen Respekt für die Geschichte und historische Aufzeichnung auf; Löcher sind schrecklich.

Grabungsstätten jedoch sind ordentliche Stätten wissenschaftlicher Vermessung und Evaluierung, die nur für den untrainierten Betrachter wie Löcher aussehen.
Die Hölle jedoch ist fürwahr ein Loch, entstanden durch Luzifers Aufprall auf die Erde, als Gott ihn aus dem Himmel verstieß. Jedoch ist sie kein Loch in dem Sinne, wie es Archäologen verstehen. Sie  ist eher etwas von Menschen Gemachtes oder besser gesagt, von Gott Gemachtes, das die Landschaft markiert und für ein Wirken zeugt, das sich jenseits der Ordnung der Natur abspielt. Auch wenn die Analogie unvollkommen ist: Dantes Höllenreise hat eine starke Ähnlichkeit mit einer archäologischen Grabung. Archäologie zu betreiben bedeutet, die Erdoberfläche aufzugraben, um die im Boden verborgenen Geheimnisse zu entdecken, aus diesen über die Vergangenheit zu lernen und letztere zu erklären. Wie Mark Musa schreibt, muss der Pilger Dante in die Hölle fahren, um das Wesen der Sünde zu verstehen, ihr zu entsagen, und Buße tun, um ins Paradies aufzufahren (Musa, S. 75, 91). In diesem Sinne sind beide Unterfangen eine Suche nach Wissen und Verständnis.

In der Hölle angekommen, trifft Dante auf ein Reich immer tieferer Schichten voller Sünder, die ihrer ewigen Strafe leiden. Durch diese Schichten steigt er hinab bis zum Kern der Hölle, wo Luzifer, der Vater aller Sünde, gefangen ist. Auch wenn man bei einer Ausgrabung normalerweise keinen Verdammten begegnet, die ihre Leidensgeschichten erzählen, kann man nicht die Präsenz immer tiefer reichender Schichten in der Grube leugnen. Diese Schichten bergen materielle Zeugnisse derjenigen, die den Ort zu einer bestimmten Zeit in der Vergangenheit bewohnten. Archäologen verwenden das stratigrafische Prinzip, um die Schichten zu organisieren und zu interpretieren. Wie die Britannica definiert, beruht die Stratigrafie in der Archäologie auf dem „Gesetz der Superposition – dem Prinzip, dass sich in einer ungestörten Ablagerung die ältesten Schichten in der Regel am tiefsten befinden. Dementsprechend wird angenommen, dass sich die Überreste nachfolgender Generationen auf den Ablagerungen der letzten befinden.“ (https://www.britannica.com/science/stratigraphy-archaeology: Übersetzung der Autorin).

Anders ausgedrückt, Siedlungsspuren, die an tieferen Stellen der Grube gefunden wurden, sind älter, da neue Siedlungen auf den alten errichtet werden. Dabei wird natürlich vorausgesetzt, dass innerhalb und zwischen den Schichten weder von Tieren noch von Menschen gegraben wurde. Wendet man diese Definition auf Dantes Hölle an, sieht man, dass die Hölle ebenfalls dem Gesetz der Superposition folgt. Jedoch ist es hierbei die Sünde, die mit der Tiefe korreliert. Einfach ausgedrückt: Je tiefer man kommt, desto schwerwiegender werden die Sünden, mit Luzifer als dem schlimmsten Sünder von allen am Ende der Hölle. Archäologen nennen diesen Punkt „Grundgestein“, da man hier keine Siedlungsspuren mehr findet.

Giovanni Scaratazzini zufolge ist interessanterweise Dante der Architekt des mehrschichtigen Konzepts der Hölle (Scaratazzini, S. 290). Die Vorstellungen der Gelehrten jener Zeit folgten laut Scaratazzini einer anderen topografischen Auffassung von Hölle, Purgatorium und Himmel, aber Dante wich von diesem Verständnis ab, um seine eigene Version der Hölle mit neun verschiedenen Stufen bzw. Kreisen zu konzipieren (Scaratazzini, S. 290). Des Weiteren ordnete und strukturierte Dante seine Hölle nach seiner eigenen Klassifikation der Sünde (Scaratazzini, S. 292). Mit der Konstruktion der verschiedenen Schichten der Hölle umging Dante elegant die Komplikationen, mit denen es Archäologen zu tun haben, wenn sie stratigrafische Prinzipien im Feld anwenden: Man muss wissen, wie man die verschiedenen Siedlungshorizonte unterscheidet, und Archäologen haben selten den Luxus einer ungestörten Stätte.

Auf der Reise durch die Hölle mit Dante begegnet uns ein befremdliches Aufgebot historischer und mythologischer Figuren. Jede Stufe, jeder Kreis der Hölle ist gespickt mit einer Ansammlung von Gestalten unterschiedlicher Zeiten und Orte. Dantes Zeitgenossen werden bedrängt von Figuren der griechischen und römischen Mythologie. Dante selbst wird von dem römischen Dichter Vergil durch die Hölle geleitet, der noch vor Christi Geburt verstarb. Zeitgenossen von Dante finden sich im gleichen Kontext wie solche, die weit in der Vergangenheit gestorben waren, und alle Sünder werden von Monstern und mythologischen Kreaturen gepeinigt, deren Aufgabe es ist, die Strafen auszuteilen.

Das Gleiche kann von der Archäologie behauptet werden, da, wie bereits erwähnt, die Ausgräber es selten mit einer Stätte zu tun haben, die nicht in irgendeiner Weise gestört wurde. Somit passiert es häufig, dass Artefakte verschiedener Zeitalter zusammen in ein und derselben Schicht gefunden werden. Eine neolithische Axt kann in derselben Schicht gefunden werden wie eine römische Münze, oder die linke Hand eines vollständig erhaltenen Skeletts wird an einer tieferen Stelle als die Gebeine gefunden, weil der Bau eines Tieres eingestürzt ist. Welche Situation auch immer auftritt, es ist Aufgabe der Archäologen, den Grund zu enträtseln und zu erklären, warum diese Artefakte zusammen gefunden wurden. Und wie in einem Bilderrätsel erhalten wir ein klareres Bild als zuvor, sobald sich die Puzzlestücke zusammenfinden. Um die Analogie von der Grube noch einmal aufzugreifen: Die Gestalten, die Dante in die Hölle gesperrt hat, können als Artefakte betrachtet werden, und wie Archäologen müssen die Leser herausfinden, warum sie zusammen in der gleichen Schicht zu finden sind und wie sie zusammenhängen. Schlussendlich geht es darum herauszufinden, welche Geschichte sie erzählen möchten, sodass wir besser verstehen, was Dante uns mitteilen wollte.

Ein Beitrag von Colleen Nichols


Literaturhinweise:

Dale, Peter: Dante – The Divine Comedy: Hell, Purgatory, Heaven: A Terza Rima Version. London: Anvil Press Poetry Limited 1996.

Musa, Mark: Dante – The Divine Comedy Vol. 1: Inferno. New York: Penguin Books USA Inc. 1984.

Scartazinni, Giovanni: A Handbook to Dante. (Übers. u. hrsg. von T. Davidson). Boston: Ginn and Company Publishers 1893.

Toynbee, Paget:  Dante Alighieri: His Life and Works. New York: The Macmillan Company 1910.


©  Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Titelbild: Sandro Botticelli, Die Karte der Hölle, 1480 and 1490. (Dieses Werk ist auch in den Vereinigten Staaten gemeinfrei. / This work is also in the Public Domain in the United States.)

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