Der Schriftsteller Zygmunt Krasiński wird zuweilen auch „polnischer Dante“ genannt, es wäre allerdings falsch, die Wirkung Dantes in Polen allein auf einen Vertreter der polnischen Literatur zu beschränken, denn nicht nur bei Krasiński geht es um mehr als nur um einen fruchtbaren „Kulturtransfer im europäischen Kontext“ (Meier) oder einen bloßen „Dialog mit Dante“ (Freise). Vielmehr können wir im Falle Dantes von einer aufschlussreichen Verflechtungsgeschichte (histoire croisée) und literarisch miteinander „verflochtenen Geschichten“ (Ulbricht) bzw. „gekreuzten Geschichten“ (Olcese) sprechen.
Ohne Zweifel können wir von einer besonders intensiven Wahrnehmung Dantes in Polen ausgehen, die sich in einer ausgeprägten Faszination vor allem für Inferno, den ersten Teil der Göttlichen Komödie, in Form unterschiedlicher „Reisen in die Hölle“ zeigt. Als ein aussagekräftiges Beispiel dafür mag das 1839 erschienene Poem des Piasten Dantyszek der Wappengemeinschaft Leliwa über die Hölle (Poema Piasta Dantyszka Herbu Leliwa o piekle)[1] des polnischen romantischen Schriftstellers Juliusz Słowackis dienen. Zentraler Protagonist ist hier Piast, ein Vertreter der ersten polnischen Herrscherdynastie, der schon mit seinem Namen Dantyszek (eine Verkleinerungsform von Dante, HCT) auf sein italienisches Vorbild verweist und dessen Weg, Dantes Vergil gleich, hinab in das Reich der Hölle führt. Die Orientierung an Dante Alighieri hat zu einem eigenständigen, sich dynamisch entwickelnden „Danteismus“ (Luigi Marinelli) in der Kultur und Literatur Polens geführt. So war es der Erzbischof von Gnesen (Gniezno), Primas von Polen und bedeutender Vertreter der polnischen Aufklärung, Ignacy Błażej Franciszek Krasicki, der in seinem Werk Über das Reimschöpfen und die Reimschöpfer (O rymotwórstwie i rymotwórcach, 1803) einen aufschlussreichen Passus über die italienische Literatur mit von ihm ausgewählten und übersetzten Beispielen vorstellte. Unter ihnen befand sich auch ein Fragment der ersten Übertragung von Dantes Göttlicher Komödie ins Polnische.[2]
Um den Begriff des „Danteismus“ näher zu erläutern, soll zunächst kurz auf die Wahrnehmung italienischer Kultur und Literatur in der Zeit der polnischen Romantik eingegangen werden, zählt doch Zygmunt Krasiński zu den drei großen Barden der polnischen Literatur. Für das Verständnis des polnischen Dante ist es des Weiteren wichtig, auch auf das zeitliche Umfeld und die besonderen Bedingungen der Auseinandersetzung mit Dante zur Lebenszeit von Krasiński zu verweisen.
Zur Wahrnehmung italienischer Kultur und Literatur in der polnischen Romantik
Eine Besonderheit der Literatur und Kultur der Romantik in Polen besteht darin, dass sie sich aufgrund der Dreiteilungen des Landes (durch die Teilungsmächte Russland, Preußen und Österreich-Ungarn) weitgehend im Ausland entwickelte. Die Vertreter des weltweiten polnischen Exil strebten zuvorderst die Wiederherstellung der untergegangenen Polnisch-Litauischen Adelsrepublik (Rzeczpospolita Oboja Narodów) in Freiheit und Unabhängigkeit mit Hilfe revolutionärer Erhebungen an, zu denen der Novemberaufstand von 1830/1831 und der Januaraufstand von 1863/1864 gehörten. Beide Aufstände wurden blutig niedergeschlagen, ihre Teilnehmer nach Sibirien verbannt, standrechtlich erschossen oder es gelang ihnen, ins westliche Ausland zu flüchten. Zu den wichtigsten Aufnahmeländern des polnischen Exils gehörte neben Frankreich und Italien auch Sachsen als eine wichtige Achse des polnisch-italienischen Kulturaustausches. So hielten sich in Dresden u.a. auch die drei Vertreter der polnischen Romantik, Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki und Zygmunt Krasiński auf. Ihnen folgte der vor allem in Sachsen durch seine historischen Romane über die gemeinsame polnisch-litauisch-sächsischen Geschichte bekannte Józef Ignacy Kraszewski (Gräfin Cosel, Brühl, Aus dem Siebenjährigen Krieg).
Zygmunt Krasińskis Meinung Sachsen betreffend, unterschied sich deutlich von seinen romantischen Schriftstellerkollegen, war ihm doch von seinem apodiktischen Vater im „verfluchten Dresden“ ein überaus „bitterer Kelch“ bereitet worden. Es handelte sich dabei um die am 26. Juli 1843 in der Königlichen Kapelle der Katholischen Hofkirche zu Dresden vollzogene Trauung des Schriftstellers mit der ungeliebten Adligen und Malerin Elżbieta (Eliza) Branicka.[3] Aus dieser Beziehung entstand die Krasiński zeitlebens begleitende “schwarze Legende” über “dieses Fräulein”, wie auch die mit ihr kontrastierende „goldene Legende” über die von ihm innig geliebte, stark idealisierte Gräfin Delfina Potocka, eine enge Freundin Frédérik (Fryderyk) Chopins.[4]
Ein weiterer Aspekt der polnischen Romantik, den es zu berücksichtigen gilt, betrifft den polnischen Messianismus[5], eine Auffassung, die sich infolge des gescheiterten Novemberaufstands von 1830/31 immer stärker verbreitete. Die patriotisch-tyrtäische Dichtung der polnischen Romantik war bestrebt, die unakzeptable Wirklichkeit im geteilten Polen zu verändern. Im messianischen Denken erkannte sie eine neue, hilfreiche Religion, ein effektives Mittel des Trostes. Die romantische Literatur wollte zudem zu brennenden Fragen des aktuellen Freiheitskampfes, der Konspiration und Revolution Stellung nehmen. In diesem spezifisch polnischen wie auch europäischen Kontext gilt es, auf Zygmunt Krasińskis Drama Un-Göttliche Kömödie (Nie-Boska komedia, 1833/1835) und die offenkundige Bezugnahme wie Auseinandersetzung mit Dantes Göttliche Komödie (Divina Commedia) Bezug zu nehmen.
Die Kulturbeziehungen zwischen Polen und Italien hatten sich bereits seit der Renaissance dynamisch und vielgestaltig entwickelten, so dass bereits seinerzeit von einer gewissen „Italianisierung“ der polnischen Kultur und Literatur gesprochen werden kann. Die besondere sprachliche, kulturelle, künstlerisch-literarische Auseinandersetzung mit Dante hatte spätestens in der Romantik eine „eigenständige Entwicklung in der Literatur und Kultur Polens“ genommen.[6] Sie zeigte sich im erwähnten Phänomen des „Danteismus“ (dantyzm), in einer „Dantomanie“ (dantomania) wie auch in einer „Dantophobie“ (dantofobia).[7] Diese Auseinandersetzung mit Dante, die später u.a. die ideologisch geprägte pseudomarxistischen Kritik und die posttotalitäre und ultra-katholische “Dantologie“[8] umfasst, hält bis heute in Polen an. So berufen sich zahlreiche Vertreter der polnischen Literatur und Kultur, von Juliusz Słowacki, Adam Mickiewicz, Czesław Miłosz bis zu Witold Gombrowicz und Tadeusz Kantor, auf Dantes Un-Göttliche Komödie. Eine besondere Rolle spielte dabei das polnische weltweite Exil, das u.a. im Schatten Dantes neu interpretiert wurde. So verwies z.B. Czesław Miłosz in seinen Vorlesungen über polnische und russische Literatur an der Universität Berkley auf vier sich teilweise überschneidende Linien in der Auseinandersetzung mit Dante: eine polnische (Mickiewicz, Brzozowski, Gombrowicz, Vincenz), eine russische (Puschkin, Dostojewski, Mandelstam, Brodski), eine anglo-amerikanische (Blake, Eliot, Pound, Auden, Frost, Pinsky) und eine anglo-irische (Yeats, Joyce, Beckett, Heaney). Der im argentinischen Exil lebende polnische Schriftsteller und Dramatiker Witold Gombrowicz ging in seinem Text O Dantem (Über Dante) vor allem auf die spezifisch polnische Wahrnehmung ein.[9]
Der in Deutschland, Frankreich und in der Schweiz lebende Stanisław Vincenz beantwortete die Frage, was Dante den Polen bedeute, wie folgt: „die ethische Haltung der Freiheit“.[10] Die Verweise auf Dante wie auch die Zitate aus dessen Werk dienten dazu, eigene Ansichten und Auffassungen besonders hervorzuheben, Dante entweder zuzustimmen oder ihm zu widersprechen. Dabei werden die literarischen Figuren Dantes, die in der polnischen romantischen Literatur ohnehin zumeist Exilanten, Vertriebe, Pilger, Propheten, Ideologen, Autokraten waren, zielgerichtet in polnische Realien eingebaut. Das gilt insbesondere für Dantes Inferno, seine Visionen von der Hölle, seine Auffassungen von einer nahenden Apokalypse und des Jüngsten Gerichts, die auf reale Ereignisse und Extremsituationen übertragen werden, namentlich auf Kriege und Schlachten, auf Verbannungen und Deportationen (in erster Linie nach Sibirien), auf die GULAG-Lager, die deutschen KZs, aber auch auf weitere, nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene (Todes-)Lager.[11] Im polnischen kollektiven Gedächtnis und in der polnischen Sprache hat sich die Bezeichnung „Dantische Szenen“ (sceny dantejskie) im Sinne erschütternder, grausamer Szenen, eben wie bei Dante, eingebürgert.[12]
Zygmunt Krasińskis Un-Göttliche Komödie (Nie-Boska komedia)
Die Welt wird nicht mehr zu erretten sein –
Du siehst die Zeitenschlünde offenstehn –
‘s wird alles Schutt – die Wahrheit ganz allein
Bleibt ewig, wie ein Marmorbild, bestehn[13]
(Zygmunt Krasiński)
Graf Napoleon Stanisław Feliks Zygmunt Krasiński wurde 1812 in Paris geboren und verstarb dort 1859. Er wurde auf dem Familienbesitz der Krasińskis in Opinogóra in Polen in der Familienkrypta neben seinem Vater beigesetzt. Krasiński gehörte einer bedeutenden aristokratischen Familie an; sein Vater stand als General in den Diensten Napoleons, der selbst Taufpate seines Sohnes Zygmunt war. Der junge Krasiński erhielt zunächst eine gediegene Ausbildung durch sorgfältig auserkorene Hauslehrer. 1826/1827 besuchte er das Warschauer Lyzeum und studierte anschließend Jura an der Warschauer Universität. 1829 musste der junge Adlige auf Anraten seines zarentreuen Vaters, der ihn von der Teilnahme an antirussischer Manifestationen und dem sich anbahnenden Novemberaufstand (1830) abhalten wollte, die Universität Warschau verlassen und ging nach Genf. Dort lernte er u.a. Adam Mickiewicz kennen. Krasiński lehnte, auf seine Augenerkrankung verweisend, das Angebot seines Vaters ab, in den diplomatischen Dienst des russischen Zaren zu treten. Dafür musste er die bereits erwähnte, von seinem apodiktischen Vater arrangierte Ehe eingehen. Aus Angst vor dem russischen Zaren veröffentlichte er seine Werke selbst im Ausland anonym.
Ende der dreißiger Jahre war der streng konservative Meinungen vertretende polnische Aristokrat Krasiński, ähnlich wie übrigens auch Mickiewicz, unter den Einfluss messianischer Auffassungen geraten, die er u.a. in seiner Versdichtung Przedświt (Morgendämmerung; 1843) und Psalmy przyszłości (Zukunftspsalmen; 1845-1848) auf publizistisch-poetische Weise zum Ausdruck brachte.[14] 1833, im Alter von 21 Jahren, verfasste Krasiński sein Meisterwerk, die Un-Göttliche Komödie (Nie-Boska komedia)[15], mit dem er weit über die Grenzen Polens hinaus bekannt wurde. Es war zugleich auch ein Versuch, sich vom Alptraum des niedergeschlagenen Novemberaufstandes von 1830/1831 freizuschreiben, an dem er nicht teilgenommen hatte. In seiner Un-Göttliche Komödie (Nie-Boska komedia, 1833/1835) analysierte Krasiński, ähnlich wie auch in dem nachfolgenden Drama Iridyon (Iridion; 1836), die Rolle des Einzelnen und das Wirken Gottes in der Geschichte, in einer Zeit des Niedergangs des Feudalismus und dem Beginn revolutionärer Umwälzungen. Während Mickiewicz und Słowacki aus dem Exil heraus revolutionäre Veränderungen in ihrem unterdrückten Heimatland anstrebten, lehnte Krasiński dies kategorisch ab. In diesem Kontext kann seine Un-Göttliche Komödie auch als eine Auseinandersetzung mit den revolutionären Erhebungen in Polen gesehen werden.
Nach gründlicher Überarbeitung des Textes durch den Autor wurde das Stück 1835 anonym in Paris veröffentlicht. Ursprünglich sollte das Werk den Titel Mąż (der Ehmann, Gatte), in Bezugnahme auf die in den ersten beiden Teilen dominierende Liebes- und Ehegeschichte, heißen. Doch unter Berücksichtigung des bewusst hergestellten Bezugs auf Dante, der in erster Linie den Gang des zentralen Helden durch die von Menschen auf Erden geschaffene Hölle betrifft, ändert Krasiński den Titel, mit dem er seine Lebenszeit, sein Jahrhundert charakterisieren wollte. Und so entwickelte sich Krasińskis Un-Göttliche Komödie zu einem zunehmend von Pessimismus und Verzweiflung gezeichneten Stück über eine von gesellschaftlichen Konflikten zerrissene Gesellschaft, in dem eine die Menschheit allseitig bedrohende Katastrophe prophezeit wird. Zugleich haben wir es aber auch mit dem Drama eines romantischen Dichters zu tun, der verzweifelt nach seinem Platz in einer zerrissenen Welt sucht.
Die ersten beiden Teile der Un-Göttliche Komödie tragen noch typisch romantische Züge. So entspricht die vom Vater dem „Ehemann“ (Mąż) aufgezwungene Hochzeit keineswegs dem Ideal einer romantischen Liebe und glücklichen Vermählung. Das angestrebte romantische Ideal der Liebe bleibt durch Henryks Egoismus und Egozentrismus unerreichbar, die Ehe zerbricht und treibt die unglückliche Frau des „Ehemanns“ in den Wahnsinn, ist doch Henryk vollauf das empfindsame, „fühlende Herz“ abhanden gekommen; somit kann ihm auch kein irdisches Glück, keine Erlösung mehr gewähren werden. „Frieden den Menschen guten Willens – gesegnet sei unter den Geschöpfen, wer ein Herz hat, er kann noch erlöst werden.“[16] Die in den beiden ersten Teilen angestellten Überlegungen über die Stellung eines Dichters und den Wert der Dichtung, den ein „falscher Poet ohne Herz“ zu erreichen versucht, führen zu keinem Erfolg: „Dafür, dass Du nichts liebtest, nichts ehrtest außer dich selber, und deine Ideen, bist du verflucht – verflucht für Jahrhunderte“[17], schleudert ihm der Chor entgegen. Und so versucht der gescheiterte Poet nunmehr Trost im erbarmungslosen Kampf gegen die aufbegehrenden Massen des Volkes zu finden. Alle vier Teile des Werks werden durch die egozentrische Figur von Henryk zusammengehalten. Ähnlich wie bei Dante werden auch bei Krasiński autobiographische Bezüge im offensichtlichen Wechselspiel zwischen dem selbst Erlebten, dem suchenden, schreibenden, reflektierenden Ich deutlich. Jedem der vier Teile ist ein Vorwort des Autors vorangestellt, die dem Leser eine Art „Lektüreschlüssel“ in die Hand geben und die einzelnen persönlich-familiären, politischen und existentiellen Konflikte der Hauptfigur erläutern sollen.
Immer wieder hat Krasińskis Werk zu heftigen Auseinandersetzungen in Polen geführt. So bezeichnete bereits Adam Mickiewicz in seinen Vorlesungen über „slawische Literatur“, gehalten am Collège de France (1843) in Paris, Krasińskis Un-göttliche Komödie als ein großes literarisches Meisterwerk, kritisierte allerdings dabei mehrfach die Darstellung der Israeliten. Besonders kritisch äußert sich allerdings die renommierte Kennerin der polnische Romantik, Maria Janion, über Krasińskis Un-Göttliche Kömödie, die sie ein „vergiftetes Meisterwerk“ nannte, in dem das ganze „Gift“ der kanonischen Texte der polnischen Romantik enthalten sei. Weiter führt Janion aus, dass ihr Verfasser damit ein großes „Verbrechen gegen die Nation [crime anti-national]“[18] begangen habe. Worin war dieses „Gift“, dieses „Verbrechen“ zu sehen? Zum einen in einem besonderen Katastrophismus mit geradezu apokalyptischen Visionen der revolutionären Umwälzungen, zum anderen in einer fatalen romantischen Historiosophie. In einer gesonderten Studie über den „Gründungsmythos des polnischen Antisemitismus“[19] verweist Janion auf das heikle Thema des Antisemitismus in Polen hin, der ihrer Meinung nach vor allem im 18. und 19. Jahrhundert wurzelt. So analysiert sie Krasińskis Drama zuvorderst als ein Werk, in dem sich „beinahe alle zeitgenössischen Elemente der paranoiden Narration über die jüdische Verschwörung, konkret im Bild der umstürzlerischen Sekte der Konvertiten („Neugetauften“)“[20] wiederfinden lassen.[21]
Die antisemitischen Phobien wie auch die konservativen katholischen, nationalistisch-polnischen Einstellungen Krasińskis standen in einem krassen Gegensatz zu Mickiewicz’s messianischen, vom Judentum inspirierten Vorstellungen von einer geradezu schicksalhaften Verbindung von Polen mit dem Volke Israel. Mickiewiczs Auffassung, dass der Mensch befähigt sei, sich selbst zu erlösen, widersprach den Vorstellungen Krasińskis, sah dieser doch die menschliche Existenz als einen Sündenfall, der unweigerlich zur Katastrophe führen müsse. Apokalyptischen Vorahnungen zeigen sich auch in Krasińskis Sicht der „Revolution“ und all des damit verbundenen Bösen. So interpretiert er die gewalttätigen, blutigen Aufstände und Unruhen zuvorderst aus einer religiösen Perspektive. Dementsprechend erscheint das Böse in der Un-Göttliche Kömödie auch als eine finstere und bedrohliche Macht, die das Eingreifen eines allerdings ebenso bedrohlich wirkenden Gottes erforderlich macht. Das Aufheben des Bösen durch das Gute in Gestalt einer göttlichen Macht scheint damit kaum mehr möglich zu sein. Die zentrale Figur des Stückes, der von religiösem, inquisitorischem Eifer ergriffene Graf Henryk ruft „im Glauben an Christus und seine Kirche“ zu einem Kreuzzug auf: „[…] und ich werde die Feinde morden und brennen“, um „auf dem Nacken der Rebellen »dem Sohn Gottes eine neue Kirche«“ [zu] bauen“.[22] Im dritten und vierten Teil erreicht Krasińskis Drama mit der Verteidigung der von den aufständischen Heerscharen belagerten letzten Bastion der aristokratischen Würdenträger eine politische Dimension. Die eingeschlossene Festung befindet sich in Podolien, sie soll damit höchstwahrscheinlich an die verhängnisvolle Konföderation von Bar erinnern.[23]
Den dritten Teil des Stückes, in dem sich die Armen und sozial Benachteiligten in einem Hain, in der letzten Kirche auf Erden zusammengefunden haben, hat Krasiński in deutlicher Anlehnung an Dantes Göttliche Komödie, wahrscheinlich aber auch an Goethes „Walpurgisnacht“ im Faust, als einen irdischen Gang der Lebenden durch die Hölle auf Erden konzipiert. Für Krasiński scheint diese, unsere Welt durch die tragische Geschichte selbst zur Hölle geworden zu sein. Die Bitten zahlreicher Adliger, einen Kompromiss mit dem revoltierenden „Plebs“ auszuhandeln, lehnt Henryk im Namen tradierter, ritterlicher Ehrbegriffe kategorisch ab, vielmehr befiehlt er seinen Untergebenen, weiter zu kämpfen und ehrenvoll zu sterben.
Unerkannt, mit einer Jakobinermütze auf dem Kopf, schleicht sich Graf Henryk in das Lager seiner Gegner, angeführt wird er dabei von einem Juden (sic!). Er beobachtet die einem Hexensabbat gleichende Orgie der Aufständischen, die hasserfüllt um einen Freiheitsbaum und Galgen tanzen, revolutionäre Lieder singen und sich der Trunksucht hingeben. So gelangt er zu der Überzeugung, dass die marodierenden Massen keinerlei edle Ziele besaßen, sondern lediglich Reichtum und Macht im Sinn hatten. Der Anführer der aufständischen Massen, der das Volk verachtende Pankracy, verspricht den Armen und Hungernden „Brot und Verdienste“, um so sein Ziel zu erreichen. Henryk bewundert Pankracy wegen seines Mutes und Eifers. Zwischen den beiden Gegnern kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung, in dem Pancracy versucht, Henryk zu überzeugen, seinen Widerstand aufzugeben und sich zu ergeben. Henryk, der seinem Stand die Treue hält, lehnt dies kategorisch ab. Letztendlich kann keine der beiden Seiten einen Sieg davontragen. Pancracys Versuch, die Welt mit Hilfe einer „Revolution“ zu verändern, scheitert. Dem blutigen Aufstand der Massen folgt die Apokalypse, die „Ebene des Jüngsten Gerichts“, das Ende des „letzten Staats, des Gerichts, der letzten Kirche, der letzten Grafen, der letzten Augenblicke“.[24]
Vor Henryks Augen fällt Henryks Sohn Orcio wie auch sein treuester Diener; ihr Tod scheint völlig sinnlos zu sein. Krasińskis pessimistische Sicht zeigt sich des Weiteren im gegen Ende des Dramas erscheinenden „apokalyptischen Christus“, der nicht als Erlöser, sondern als Rächer auftritt. Krasiński hatte verzweifelt nach einem tröstenden Zusammenhang zwischen dem strafenden Gott des Zorns und dem gütigen Gott der Liebe gesucht. Weitgehend umstritten bleibt die Interpretation der Schlussszene, die Frage, ob angesichts von Tod und Untergang eine Erlösung möglich ist, ob eine Auferstehung folgen könnte und ob gewalttätige Umstürze und Katastrophen wie auch das menschliche Leid für die Höherentwicklung des menschlichen Geistes möglicherweise sogar notwendig sein könnten. Das hatte jedenfalls der polnische Romantiker Juliusz Słowacki in einer ersehnten „Genesis aus dem Geist“ gesehen. Es bleibt auch offen, ob sich die „Neophyten“, hypothetisch gesehen, „wirklich zu ihrem Herrn und Gott bekehren, während der Satan […] endgültig in den Abgrund gestoßen wird.“[25] Krasiński, der einst an die Vision einer harmonischen Gesellschaft geglaubt hatte, musste erkennen, dass ein erträumtes „goldenes Zeitalter“ utopisch war, da ein revolutionärer Umsturz keinen Fortschritt, keinen Frieden bringen kann. Vielmehr würden unterwürfige Diener, eine „Horde von Affen“ in einer „Lakaien-Revolution“ den Platz ihrer vormaligen Herren einnehmen.[26]
Im Zuge des blutigen Umsturzes, der gewalttätigen Machtergreifung, würden sie selbst andere erniedrigen, unterdrücken, versklaven und morden. Krasiński gab sich überzeugt, dass er die Zukunft mit all ihren Katastrophen und Konflikten voraussehen konnte, und er glaubte, dass er die über seine Zeit hinausreichende Wahrheit über die herrschenden Verhältnisse in der Welt zutreffend in seinem Werk niedergeschrieben hätte. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass Krasińskis Auffassungen im 20. Jahrhundert in vielerlei Gestalt und im Zusammenhang mit gewalttätigen Revolutionen, Katastrophen, Dystopien, Kriegen und dem Totalitarismus sowohl von polnischen als auch nichtpolnischen Schriftstellern – wie z.B. Stanisław Ignacy Witkiewicz (Witkacy), Stefan Żeromski, Stefan Konwicki, George Orwell oder C.K. Chesterton immer wieder aufgegriffen wurden.[27]
Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte
Hans-Christian Trepte studierte Russisch und Englisch (Erwachsenenbildung) in Greifswald und Leipzig, nachfolgend Polonistik (Literaturwissenschaft) in Leipzig, Warschau und Wroclaw. 1979 Promotion über Jarosław Iwaszkiewiczs Epochenroman “ Sława i chwała“ [Ruhm und Ehre]. 2002-2016 Mitarbeiter am Institut für Slavistik der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: polnische und tschechische Kultur und Literatur, Exilliteratur, deutsch-polnische kulturelle und literarische Beziehungen. Auch als Übersetzer tätig (u.a. Jarosław Iwaszkiewicz, Henryk Grynberg, Tomasz Małyszek, Czesław Miłosz u.a.
[1] Juliusz Słowacki: Poema Piasta Dantyszka Herbu Leliwa o piekle. Paryż (Paris): Bourgogne et Matinet 1839.
[2] Die erste vollständige polnische Ausgabe in der Übersetzung von Ant.(oni) Stanisławski erschien 1870 in Verlag von J.P. Zupański in Posen (Poznań).
[3] Vgl. dazu: Zygmunt Krasiński: Listy do Delfiny Potockiej [Briefe an Delfina Potocka], hrsg. v. Zbigniew Sudolski, T. I-III, Warszawa 1975, S. 310.
[4] Vgl. dazu: Arkadiusz Bagłajewski: Krasiński und die „Frau der Zukunft“, in: Alfred Gall, Thomas Grob, Andreas Lawaty (Hrsg.): Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Wiesbaden: Harrasowitz, 2007, S. 348-368, hier S. 348.
[5] Der Begriff „Messianismus“ wurde 1831 vom idealistischen polnischen Philosoph Józef Hoene-Wroński geprägt.
[6] Preisner, Walerian: Dante i jego dzieła w Polsce. Bibliografia krytyczna z historycznym wstępem [Dante und seine Werke in Polen. Eine kritische Bibliographie mit einer Einleitung versehen], Toruń 1957.
[7] Luigi Marinelli: Polski Dantyzm Między Epiką a Etyką. Roczniki Humanistyczne, Band LX, Heft I 2012, S. 127-163.
[8] Ebenda, S. 131-132.
[9]Witold, Gombrowicz: O Dantem. Zweisprachige Ausgabe (polnisch-franzöisch) Lausanne: L‘Herne 1968.
[10] Stanisław Vincenz: Dante i Mickiewicz [Dante und Mickiwicz]. In: Ders. Atlantyda. Pisma rozproszone z lat II wojny swiatowej [Atlantis, Vereinzelte Schriften aus der Zeit des 2. Weltkriegs]. Warszawa 1994, S.64.
[11] Vgl. dazu: Marinelli, op. cit, S. 142-143.
[12] Vgl. dazu: Marinelli, op. cit, S. 143.
[13]Zygmunt Krasiński: Die Welt wird nicht mehr zu erretten sein… Baden Baden, 30. August 1851.
[14] Die von Krasińskis in seinen Zukunftspsalmen artikulierten Meinungen führten u.a. zu kontroversen Auseinandersetzungen mit Juliusz Słowacki, an denen ihre Freundschaft zerbrach.
[15] Das Werk wurde mehrfach ins Deutsche übersetzte, u.a. von Christa Vogel: „Un-göttliche Komödie“, Berlin: Kiepenheuer Bühnenvertrieb 1988 und 2007.
[16] Zitat nach Halina Turkiewicz, Jak Dant(e) przez piekło przeszedłem za życia, op. cit., S. 1. http://www.wilnoteka.lt/artykul/jak-dant-przez-pieklo-przeszedlem-za-zycia-0 [20.04.2021].
[17] Ebenda, S. 130.
[18] Maria Janion: Die Polen und ihre Vampire, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 312.
[19] Maria Janion: Der Gründungsmythos des polnischen Antisemitismus. In: Dies.: Die Polen und ihre Vampire , op. cit., S. 259- 314.
[20] Ebenda, S. 31f.
[21] Unter Verweis auf bildliche wie auch sprachliche Parallelen wird Krasińskis Drama in diesem Zusammenhang wiederholt als eine Vorläuferin der antisemtischen Fälschungen der Protokolle der Weisen von Zion gelesen (u.a. von G. K. Chesterton).
[22] Zitat nach Maria Janion: Die Polen und ihre Vampire , op. cit., S. 292.
[23] Die 1768 in Bar gegründete Konföderation polnischer Kleinadliger sprach sich für den Katholizismus als Staatsreligion aus, richtete sich zugleich gegen das eigene, im Interesse Russlands handelnde Staatsoberhaupt und diente der Verteidigung nationaler Interessen wie auch der Goldenen Freiheiten des Adels in der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik.
[24] Zitat nach Maria Janion: Die Polen und ihre Vampire , op. cit., S. 293-294.
[25] Bogdan Burziej: Izrael i Krzyż [Israel und das Kreuz], zitiert nach: Maria Janion: Die Polen und ihre Vampire, op. cit., S. 293.
[26] Ebenda.
[27] Chesterton verfasste u.a. das Vorwort zu ersten aus dem Polnischen übersetzten englischsprachigen Ausgabe von The Undivine Comedy (1924). Vgl. dazu: Ewa Thompson: On Zygmunt Krasinski’s Undivined Comedy. In: The Chesterton Review, Vol. 27, Issue 4, November 2001.
Literaturhinweise:
Freise, Matthias: Zygmunt Krasinskis „Un-Göttliche Komödie“ im Dialog mit Dante. In: Franziska Meier, Dante Rezeption nach 1800. Würzburg: Königshaus & Neumann 2018.
Gall, Alfred; Grob, Thomas; Lawaty, Andreas (Hrsg.): Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Wiesbaden: Harrasowitz, 2007.
Kuciak, Agnieszka: Dante romantyków: recepcja Boskiej Komedii u Mickiewicza, Słowackiego, Krasińskiego i Norwida. [Dante der Romantiker: Die Rezeption der Göttlichen Komödie bei Mickiewicz, Słowacki, Krasiński und Norwid]. Poznań: Wydawnictwo Naukowe UAM 2003.
Kuciak, Agnieszka: Dante Alighieri. Boska komedia. [Dante Alighieri. Göttliche Komödie] Poznań 2006.
Janion, Maria: Die Polen und ihre Vampire, Berlin: Suhrkamp 2014.
Liwornia, Andrzej: „Dante, któż się odważy tłumaczyć“. Studia o recepcje Dantego w Polsce. [“Dante, wer traut sich denn zu übersetzen”. Eine Studie über die Rezeption Dantes in Polen]. Warszawa 2005.
Marinelli, Luigi: Polski Dantyzm Między Epiką a Etyką [Der polnische Dantismus zwischen Ethik und Epik] Roczniki Humanistyczne, Band LX, Heft I 2012, S. 127-163.
Meier, Franziska: Dante Rezeption nach 1800. Würzburg: Königshaus & Neumann 2018.
Meier, Franziska: Dantes Göttliche Komödie. Eine Einführung. München: C.H. Beck Wissen 2018.
Molden, Berthold: Gekreuzte Geschichten. Erfahrungen des Exils in Mexiko und Österreich. Wien: Bahoe Books, 2019.
Olcese, Gianluca: Italien – Polen als gekreuzte Geschichte(n). In: Christoph Oliver Mayer, Martin Henzelmann, Gianluca Olcese (Hrsg.): Italien-Polen. Kulturtransfer im europäischen Kontext. Berlin, Bern, Bruxelles et al.: Peter Lang, 2020.
Sauerland, Karol: Krasinskis Ungöttliche Komödie mit Blick auf Georg Büchner. http://sauerland.pl/files/2020/SAUERLAND__Krasinskis_Un-Gottliche_Komodie_mit_Blick_auf_Georg_Buchner.pdf [20.04.2021].
Turkiewicz, Halina: Jak Dant(e) – przez piekło przeszedłem za życia. [Dante gleich – durchschritt ich die Hölle zu Lebzeiten]. Vilnius: Wilnoteka, 23. Februar 2019 http://www.wilnoteka.lt/artykul/jak-dant-przez-pieklo-przeszedlem-za-zycia-0 [20.04.2021].
Ulbricht, Claudia: Verflochtene Geschichte(n), Wien: Böhlau 2014.
Waśko, Andrzej: Zygmunt Krasiński, oblicze poety [Zygmunt Krasiński, Gesichter des Dichters], Kraków: Klasyka mniej znana 2001 [Klassik weniger bekannt].
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.