Coraline, oder: Von Türen zu anderen Welten

Samhain, das Fest, an dem sich die Grenzen zwischen unserer Welt und der Anderswelt auflösen. Heute feiert es die Allgemeinheit als Halloween und setzt die Tradition des Verkleidens fort – ein Spaß, der ursprünglich die Lebenden vor den Geistern der anderen Seite verbergen sollte.

Constance Timm und ich haben uns schon einmal in unserem Essay-Band „Über die Grenzen“ dem Thema von parallel existierenden Welten, den Motiven von Übergang, Ober- und Unterwelt gewidmet. Das Coverbild, für welches wir uns damals entschieden haben, zeigt dabei passenderweise eine alte, umwucherte Holztür, die geheimnisvoll von Schatten umspielt wird. Hält man das Buch in Händen, so wirkt es, als ginge man selbst darauf zu, bereit, sie aufzustoßen und zu sehen, was sich dahinter verbirgt. Schlägt man die Seiten auf, so öffnet man im übertragenen Sinn auch die Tür. Wir mochten diese Metapher sehr, die Wahl fiel uns also leicht.

Vermutlich macht sich keiner im alltäglichen Leben Gedanken über Türen. Täglich öffnet man unzählige, schließt sie, lässt sie krachend ins Schloss fallen, ohne darüber nachzudenken. Und doch sind sie – buchstäblich und im übertragenen Sinne – omnipräsent in Kultur, Literatur und Religion. Sie symbolisieren eine Grenze, die zugleich Hindernis und Zugang sein kann.

Die Römer kannten Cardea, die Göttin der Schwellen, der Türscharniere und Türgriffe – man sollte stets nur mit dem rechten Fuß den Schritt über eine Schwelle wagen. Moses ließ die Israeliten Lämmer schlachten und mit ihrem “Blut beide Pfosten der Tür und die obere Schwelle damit bestreichen an den Häusern, darin sie es essen” (2.Mose 13.13) – dann würde der Heilige Geist vor den Türen zurückweichen und die zehnte Plage ihr Haus nicht heimsuchen. Laut eines weitverbreiteten Volksglaubens können Vampire nicht über die Schwelle eines Hauses treten ohne die explizite Aufforderung des Hausherrn. Im Märchen “Frau Holle” wird die fleißige Marie bei ihrem Weg durch ein Tor mit Gold überschüttet, während auf die faule Marie Pech herabtropft. Und beim Einzug in ein neues Haus oder Wohnung soll Brot und Salz auf der Türschwelle dargebracht werden, um die Hausgötter zu besänftigen.

Türen zu anderen Welten, dieses Motiv hat die Literatur- und Filmwelt erobert. Letztes Jahr befassten wir uns mit dem Mythos des Kopflosen Reiters. Im Film “Sleepy Hollow” entweicht dieser durch ein magisches Tor, welches sich im Baum des Todes öffnet – die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. In diesem Jahr soll es uns um eine kleine Heldin gehen, die mutig den Schritt in diese anderen Welten wagt.

Die unheimliche Geschichte um das phantasievolle und recht einsame Mädchen “Coraline” stammt aus der Feder des britischen Schriftstellers Neil Gaiman und erschien 2002. Die Entstehung der Fantasy/Horror-Novelle basierte, laut eigener Aussage des Autors, auf einer Geschichte, welche sich seine älteste Tochter ausdachte. Darin kommt ein Mädchen nach Hause und muss feststellen, dass eine böse Hexe anstatt ihrer Mutter dort auf sie wartet und sie letztere befreien muss. Ähnlich ergeht es Coraline, deren Abenteuer man auch als eine Hommage an „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll lesen kann, eines der wohl berühmteste Bücher, wenn es um die Reise in andere Welten geht. Coraline gerät allerdings durch eine Tür in ihre eigene Version des Wunderlandes, nicht in den berühmt-berüchtigten Kaninchenbau. Womit wir wieder beim Thema wären.

Alice auf der Teeparty

Zusammen mit ihren Eltern – beide arbeiten von zu Hause aus und kleben den lieben langen Tag an ihren Laptops – zieht Coraline in ein neues Haus irgendwo in einem grauen, nebeligen Fleckchen Englands. Dieses ist in mehrere Wohnungen aufgeteilt: Im Erdgeschoss wohnt die Familie Jones mit tristem Alltag, im Dachboden haust ein alter, einen Mäusezirkus trainierender Mann namens Mr. Bob und im Souterrain die alternden Schauspielerinnen Miss Spink und Miss Forcible mit ihren zahllosen Hunden. So lebt Coraline bereits in ihrer eigenen, leicht verkorksten Welt, die ihr aber nicht viel bietet.

Man ist an einem neuen Ort, das Wetter trist, die Eltern hören einem nicht zu und geben sich auch sonst wenig Mühe, das eigene, fantasievolle Kind zu verstehen. Sie ist eine „Entdeckerin“, so beschreibt sich Coraline regelmäßig selbst und eines Tages schlägt ihr Vater vor, sie solle doch ihr neues Heim erforschen – ein verzweifelter Versuch, Coraline aus seinem Arbeitszimmer zu scheuchen. Aus lauter Langeweile tut sie es dann auch, begutachtet undichte Fenster, den alten Wasserboiler und stößt dabei in der Stube auf eine Tür, die nirgendwohin zu führen scheint.

Es ist wie ein Geheimnis, dass Coraline magisch anzieht, ganz gleich, was ihre Mutter von aufgeteilten Häusern und neu hochgezogenen Mauern erzählt. Als man ihr die Tür aufschließt, passenderweise mit einem großen, schweren, schwarzen Schlüssel, und sie die zugemauerte Öffnung sieht, wird ihre Euphorie etwas gedämpft. Trotzdem bleibt die Frage: Was sich wohl in der anderen Wohnung verbirgt? Irgendetwas liegt in der Luft, ein Hauch des Bösen, welches viele um die kleine Heldin herum wahrzunehmen scheinen. Mr. Bob überbringt ihr eine Nachricht seiner Mäuse, sie solle nicht durch die Tür gehen. Dass damit der versperrte Durchgang im Wohnzimmer gemeint ist, kommt ihr dabei nicht in den Sinn.

Als irgendetwas Coraline eines Nachts aus dem Schlaf reißt, folgt sie dem Schemen bis in die Stube. Alles ist an seinem Platz, alles ist normal – nur steht die Tür eben einen Spalt breit offen. Und dahinter liegt auch keine Wand, sondern ein dunkler, seltsam lebendig wirkender Tunnel, der Coraline einen kalten Schauer den Rücken hinunter jagt. Am Ende des Tunnels herrscht erst einmal Verwirrung, denn kann man auf etwas zugehen und doch wieder am Ursprungsort ankommen? Coraline tritt in ihr eigenes Wohnzimmer und doch ist es das auch wieder nicht; gleich und doch auf unbeschreibliche Weise anders, dieses Gefühl wird sie noch lange begleiten.

Cover mit Katze und Ratte, die zwei Schlüsseltiere der Geschichte

Überschwänglich wird Coraline von ihren Eltern begrüßt, nur um festzustellen, dass sie tatsächlich nicht wieder in ihre eigene Wohnung zurückgekehrt ist. Statt Augen haben ihre „Andere Mutter“ und ihr „Anderer Vater“, wie sie sich selbst bezeichnen, nämlich schwarze Knöpfe. Ganz anders als ihre „Alten Eltern“ sind die beiden jedoch interessiert, hören ihr während des herrlichen Essens zu, zeigen ihr das perfekte, wunderschöne Kinderzimmer. Auch Mr. Bob ist nicht wunderlich, sondern gibt eine bahnbrechende Vorstellung seines Zirkus und die verjüngten Schauspielerinnen zeigen eine endlose Theatervorstellung. Es ist wie ein Traum – berauschend, wunderbar, verwirrend und unheimlich.

Obwohl vieles Coraline begeistert, kann sie doch nicht umhin zu bemerken, wie ihre „Anderen Eltern“ sie geradezu hungrig betrachten und keine Sekunde aus den Augen (aus den Knöpfen?!) lassen. Als sie ihr am Ende des Tages schließlich eröffnen, sie könne für immer bei ihnen bleiben, wenn sie sich nur selbst Knöpfe aufnähen ließe, beschließt Coraline jedoch, wieder nach Hause zurückzukehren. Sehr zum Missfallen ihrer “Anderen Mutter”.

Die triste Welt, in der sie zukünftig nur graue Schuluniformen in einer neuen Schule tragen kann, keine Menschenseele kennt und sich so gar nicht darauf freut, hat Coraline wieder und sie ist erleichtert. Zu perfekt war die andere Welt, so perfekt, dass sie schon unheimlich wurde. Sie ruft nach Ihren Eltern, freut sich darauf, zusammen mit ihnen ein ausgefallenes, aber nach Coralines Meinung, ungenießbares Abendessen zu sich zu nehmen. Aber das Haus ist leer – bis sie einen Blick in den Spiegel am Ende des Hausflurs wirft. Denn dort entdeckt sie sie, ihre Eltern, die dort gefangengesetzt sind und “HILF UNS” auf das angelaufene Glas schreiben. Und es gibt nur eine Person, die fähig wäre, so etwas zu tun: die “Andere Mutter”, davon ist Coraline überzeugt.

Als man Coraline bei der Polizei nicht ernst nimmt – die Beamten denken, sie hätte einen Albtraum gehabt und lachen über sie – sucht sie bei den Bewohnerinnen der Kellerwohnung nach Hilfe. Diese scheinen auch nur teilweise zu begreifen, was geschehen ist. Hier erhält Coraline jedoch ein Geschenk, das zwar auf dem ersten Blick nutzlos erscheint, ihr aber später das Leben retten wird. Ein einfacher, grauer Stein mit einem Loch darin. Solche Steine, die allgemein als “Hühnergott” bekannt sind, haben eine lange Tradition im Aberglauben. Im Namen ist bereits verwurzelt, dass man mit diesem Amulett das Geflügel vor bösen Geistern schützen könnte. Bei den Slawen glaubte man, diese seien weibliche Poltergeister, welche die Häuser bewohnen konnten und Unglück bringen. Die Steine erfreuten sich aber auch allgemein großer Beliebtheit als Schutz gegen Hexen, Geister und Kobolde.

In der Einleitung zu der Edition “Coraline & Other Stories” der Bloomsbury Phantastics, berichtet Neil Gaiman über seine eigene Freude am Gruseln, als er noch ein Kind war und dass Kinderliteratur seine Leser auch einmal erschrecken sollte. Die Art und Weise sei nur die Frage. Coraline ist eine unheimliche, düstere Geschichte, in der es aber vor allem um eines geht: den Mut, das zu überwinden, wovor man sich fürchtet.

Und so begibt sich Coraline, trotz schrecklicher Angst, erneut durch die Tür in das Wunderland, welches sich in einen Albtraum verwandelt hat. Sie ist bereit, gegen ihren eigenen bösen Geist anzutreten, denn nur so kann sie ihre echten Eltern retten.

Auch diesmal begrüßt die “Andere Mutter” sie überschwänglich, doch Coralines kühles Verhalten verdirbt ihr die Laune schnell. Das Mädchen lässt keinen Zweifel daran aufkommen, weshalb sie gekommen ist – nicht, um zu bleiben, sondern um zusammen mit ihren Eltern zu gehen. Die “Andere Mutter” behauptet zwar, nichts von deren Verschwinden zu wissen, beginnt dann jedoch mit dem Versuch, Zweifel in Coraline zu säen. Ihre Eltern wollten sie doch sowieso nicht, bei ihnen würde sie nie wirklich willkommen sein und sie solle bei ihr bleiben, bei ihrer “Anderen (besseren) Mutter”.

Dass ihre Wahltochter verstockt bleibt, gefällt ihr gar nicht. Kurzerhand nimmt sie ihr den Schlüssel ab, verschluckt ihn und dann sperrt die sich stetig verändernde Frau, die Coraline noch eine Sekunde zuvor ewige, mütterliche Liebe schwor, in die Finsternis hinter einem Wandspiegel. Man sagt, im Dunkeln fürchtet man sich nicht davor allein zu sein, sondern, dass man es nicht ist. Auch Coraline klopft das Herz erst bis zum Hals, als sich ihr dort die Geister von drei Kindern nähern, die selbst zum Opfer der “Anderen Mutter” geworden sind.

Ihre Geschichte erzählt von Trauer und dem unstillbaren Hunger des Wesens, welches Jagd auf die Liebe und das Leben unglücklicher Kinder macht. Auch ihnen habe die “Andere Mutter” ewige Liebe geschworen und alle drei hätten ihr erlaubt, ihnen die Knöpfe aufzunähen. Doch einem nach dem anderen habe die „Andere Mutter“ ihnen die Seele geraubt und halte diese nun versteckt, um ihre innere Leere zu füllen. Ohne ihre Seelen aber seien die Kinder für immer gefangen. Coraline soll nun die „Andere Mutter“ herausfordern. Das Monster habe eine Schwäche für Spiele und obwohl sie wohl nicht fair spielen würde, wäre es die einzige Chance, dass alle entkommen könnten.

Nachdem sie wieder aus dem Spiegel herausgelassen worden ist, unterbreitet Coraline der “Anderen Mutter” einen Vorschlag – sollte es ihr nicht gelingen, die Seelen der Kinder und das Versteck der gefangenen Eltern zu finden, würde sie für immer bei ihr bleiben und ihr erlauben, sie zu lieben. Wenn doch, würde die “Andere Mutter” alle frei lassen, die sie gefangen hält. Ihren Triumph ahnend, willigt das Monster ein.

Es beginnt eine Art Schnitzeljagd durch die kleine, fragmentartige Welt, welche die „Andere Mutter“ für Coraline erschaffen hat. Der Blick durch den Lochstein erlaubt es Coraline, die drei Geisterseelen in Form von Murmeln, die an allen möglichen Orten versteckt sind, zu entdecken. Dabei fällt ihr auf, wie fad und staubig, lieblos und eigenartig dieses Heim unter der Fassade ist. Als sie schließlich nur noch das Versteck ihrer Eltern finden muss, rät ihr die schwarze Katze, ein Freund, den Coraline sowohl in ihrer als auch in dieser Welt getroffen hat, schlau zu sein und für einen Ausweg zu sorgen – das Monster würde sie niemals freiwillig gehen lassen.

Also behauptet Coraline, ihre Eltern seien auf der anderen Seite der Tür versteckt, im Gang, der nach Hause führt. Während die „Andere Mutter“ siegessicher den zuvor verschluckten Schlüssel hervorwürgt und den Durchgang aufschließt, schnappt sich Coraline eine Schneekugel vom Kaminsims, deren einzige Deko zwei kleine Figuren sind. Alles hat das Monster in dieser Welt genau repliziert, aber diese Schneekugel auf dem Kaminsims, die gibt es nicht in Coralines echtem Zuhause. Dies muss das Gefängnis ihrer Eltern sein.

Die abgetrennte Hand der „Anderen Mutter“

Mutig wirft die Heldin dem Monster die Katze ins Gesicht, welche diesem die Knöpfe auskratzt und es blind macht. Als Coraline verzweifelt versucht, die Tür am Tunnelende der „Anderen Mutter“ zu zuziehen und diese es zu verhindern sucht, helfen die Geister und ihre Eltern Coraline. Die schwere Tür kracht zu, wobei die „Andere Mutter“ eine Hand verliert. Auf der anderen Seite des Tunnels schließt sie auch ihren geheimen Durchgang ab, trifft schließlich ihre Eltern wieder und ist überglücklich. Nun wird alles gut werden, davon ist Coraline überzeugt. Sie isst das Abendessen ohne Klage, lacht über die lahmen Witze des Vaters und geht zufrieden zu Bett.

Als sie im Traum jedoch Besuch von den drei Kindergeistern bekommt und diese sie warnen, weiß Coraline, sie muss den Schlüssel endgültig loswerden. Denn da ist ja auch noch die Hand der “Anderen Mutter”, die auf dieser Seite der Tür ihr Unwesen treibt, ewig auf der Suche nach dem einen Schlüssel, der den einzigen Zugang zu ihrer Welt für immer verschließen könnte.

Es gelingt Coraline jedoch erneut durch Witz und Cleverness, die Hand in einen Hinterhalt zu locken, sodass diese in einen alten Brunnenschacht stürzt. Die Heldin hat es geschafft, sie ist dem Wunderland entkommen und hat das Monster auf der anderen Seite besiegt. Im Gegensatz dazu erscheint Coraline die Herausforderung einer neuen Schule fast schon lachhaft.

Und so endet die Geschichte der kleinen, klugen Entdeckerin. Sie hat gelernt, dass allzu großer Entdeckergeist Gefahren bergen kann, denen man sich mutig stellen muss. Coralines Reise zeigt, wie viel Hässlichkeit unter einer Maske stecken kann und dass im Grunde unseres Herzens, keiner wirklich die Erfüllung aller seiner Träume ersehnt. Nur zu gern locken Geister und Dämonen mit der Perfektion, die dann doch fad und tonlos ist. Also lassen Sie sich nicht von den Geistern der Anderswelt verführen, was auch immer sie ihnen anbieten. Happy Halloween!

Ein Beitrag von Pia Stöger

Literaturhinweis:

Neil Gaiman. Coraline & Other Stories. London: Bloomsburry Publishing, 2007.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .