Böller, Papst und Neues Jahr

Liebe Leserinnen und Leser des MYTHO-Blogs,

es ist wieder soweit. The same procedure as every year. Silvester. Der letzte Tag des Jahres. Manch einen mag Wehmut über das Vergangene befallen. Manch einer ist froh, den „gesammelten Altkram“ hinter sich zu lassen. Silvester ist die Zeit des Abschlusses. Der Vorsätze. Der Pläne. Des greifbaren Neuanfangs.

Wie Sie an diesem Abend und in dieser Rauhnacht auch feiern mögen, ob im Familienkreis oder mit Freunden, ob mit lauter Partymusik oder eher klassisch, ob sie dem Feuerwerk frönen oder dem Lärm eher fernbleiben, das Team vom Mytho-Blog bedankt sich herzlich für Ihr Interesse an unserer Seite und unseren Artikeln. Natürlich werden wir uns auch weiterhin bemühen, Sie freitags regelmäßig mit mythischen, volkskundlichen, literarischen, philosophischen, historischen und wissenschaftlichen Besonderheiten zu versorgen.

Jedes Jahr widmet sich der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie einem besonderen Schwerpunkt, zu dem Veranstaltungen stattfinden und über den wir auch in unserem Blog berichten. 2019 steht dabei ganz im Zeichen der Liebe! „Die Schöne und das Biest – Liebe in Kultur und Mythos“ lautet das Thema, zu dem es ab Ende Januar ein erstes Special geben wird. Es lohnt sich also, dranzubleiben.

Und nach diesen Worten in eigener Sache wollen wir es natürlich nicht missen, noch ein wenig über den Jahresausgang zu mythologisieren. Silvester, in einigen Regionen auch als Altjahrstag bezeichnet, bildet den Abschluss des alljährlich wiederkehrenden gregorianischen Kalenders. Dieser wurde im Jahr 1582 von Papst Gregor XIII. (1502-1585) mit der Bulle Inter gravissimas curas schrittweise in den katholischen Gegenden eingeführt und löste den bis dato gültigen julianischen Kalender von Julius Cäsar aus dem Jahr 45 v. Chr. ab, der heute immer noch bei einigen orthodoxen und altorientalischen Kirchen in Gebrauch ist (u. a. in Russland, Armenien, Serbien, Georgien, Teilen Ägytpens, Äthopiens oder Syriens – das Weihnachtsfest findet dann am 7. Januar statt am 25. Dezember statt). Die protestantischen Gegenden brauchten übrigens ca. 120 Jahre, bis sie die Kalenderreform vollständig übernommen hatten, da diese ja von einem Papst ausgegangen war und sie sich seit der Lutherzeit nicht mehr an römische Doktrinen gebunden fühlten. Der gregorianische Kalender korrigierte die Abweichungen, die sich durch den julianischen Kalender über die Jahrhunderte hinweg ergeben hatten. So wurde die Dauer des mittleren Kalenderjahrs korrigiert, u.a., um die Tag- und Nachtgleichen im März und September wieder datumsgerecht anzupassen. Vor allem der Frühlingsanfang war wichtig für die Berechnung des Ostertermins, des höchsten kirchlichen Feiertags. Zudem wurden die Schalttage korrigiert, und parallel zur Kalenderreform wurde auch der Jahresanfang neu geregelt. Im Mittelalter und in der Frühnen Neuzeit galten dafür verschiedene Stile: Der Circumcisionsstil (1. Januar), der Osterstil oder Paschalstil (abhängig vom Osterstermin des jeweiligen Jahres), der Weihnachtsstil (25. Dezember) und der Annutiationsstil (25. März zu Maria Verkündigung, nahe des Frühlingsanfangs). Sogar der 6. Januar (Dreikönigsfest) war dafür vielerorts in Gebrauch. Die Jahresanfänge gestalteten sich von Region zu Region allerdings höchst unterschiedlich. Es konnte Reisenden also passieren, dass sie zwischen Jahresende und Jahresanfang bzw. Jahresanfang und Jahresende hin und her pendelten. Erst 1691, und damit fast 100 nach der gregorianischen Kalenderreform, vereinheitlichte Papst Innozenz XII. das Wirrwarr und legte den 1. Januar verbindlich als Neujahrstag und damit als ersten Tag des Jahres fest. Damit erhielt auch der 31. Dezember seine Bedeutung als Jahresabschluss, wie wir ihn heute kennen und feiern.

Der 1. Januar ist ursprünglich der christliche Festtag der Beschneidung des Herrn (Circumcisio Domini). Aber schon seit 153 v. Chr. zählten die Römer den Beginn ihres Amtsjahres von diesem Tage an. Und auch der Name „Januar“ besitzt römische Wurzeln (Ianuarius) und verdankt seine Bezeichnung dem Gott Janus, der auf Bildern und Münzen stets zweigesichtig dargestellt wird. Er gilt als der Gott des Anfangs und des Endes, der Zwienatur, aber auch der Gott der Ein- und Ausgänge, d.h. der Türen und Tore (lat. ianua > Tür). Für den „Eingang des Jahres“ also eine probate Lösung und faszinierend zugleich, mischen sich doch hier christliche Traditionen mit „heidnischen Wurzeln“.

Warum heißt der Tag vor Neujahr nun aber Silvester (lat. silva > Wald; silvester > grob übersetzt „der Waldmann“)? Passend zum Ende und zum Anfang handelt es sich um den Totentag von Papst Silvester I. (gest. 335, laut der Legenda aurea 320), der seit dem 9. Jahrhundert seinen festen Platz im römisch-katholischen Heiligenkalender beansprucht. Die Legenda aurea,  die der Dominikaner Jacobus de Voragine zwischen 1263-1267 zusammenstellte und die als die populärste Sammlung von Heiligenviten des Mittelalters gilt, überliefert von Silvester mehrere Episoden, die sein gottgefälliges und christliches Leben bezeugen. So ließ er auf dem für die Kirche richtungsweisenden Konzil von Nicäa 325 das christliche Glaubensbekenntnis festschreiben. Außerdem soll er Kaiser Konstantin I. vom Aussatz geheilt und diesen sogar getauft haben. Zum Dank habe ihm der Kaiser das sogenannte Patrimonium Petri, das Vermächtnis des Petrus, geschenkt, das zum zentralen Bestandteil des Kirchenstaates wurde und den Päpsten damit de facto bis zum Anbruch des Weltgerichts die geistliche Oberherrschaft über Rom, Italien, das Weströmische Reich sowie den gesamten Erdenrund übertrug. Eine Urkunde aus dem Jahr 315/317 sollte die „Konstantinische Schenkung“ beglaubigen. Doch gilt diese inzwischen nachweislich als Fälschung.

Eine weitere Erzählung von Silvesters Heiligenlegende handelt von der „Zähmung des Drachen“. Sie lautet wie folgt: „Einige Tage später kamen die Götzenpriester zum Kaiser und sprachen: ‚Allerheiligster Kaiser, der Drache, der in der Höhle lauert, seitdem du den Glauben an Christus angenommen hast, tötet mit seinem Gifthauch täglich merhr als dreihundert Menschen.‘ Konstantin fragte in dieser Sache Silvester um Rat, der folgendes empfahl: ‚Ich werde ihn mit der Kraft Christi dazu bringen, von allen seinen Untaten abzulassen.‘ Daraufhin versprachen die Priester, daß sie Christus glauben würden, wenn er dies tue. Silvester betete, und der Heilige Geist erschien ihm mit den Worten: ‚Steige ohne Sorgen zu dem Drachen in die Höhle und nimm dir zwei Priester mit. Wenn du bei ihm angekommen bist, dann rede ihn folgendermaßen an: ‚Jesus Christus, unser Herr, geboren von einer Jungfrau, gekreuzigt und begraben, auferstanden und sitzend zur Rechten des Vaters wird kommen, um die Lebenden und die Toten zu richten. Du, Satan, warte in dieser Grube auf ihn, bis er kommt.‘ Dann wirst du ihm das Maul mit einem Faden zubinden und mit einem Ring, der das Zeichen des Kreuzes trägt, ein Siegel aufdrücken. Dann werdet ihr gesund und wohlbehalten zu mir kommen und das Brot, das ich euch bereitet habe, essen.‘

Silvester stieg daraufhin mit zwei Priestern in die Grube, hundertfünfzig Stufen tief, und er hatte zwei Laternen bei sich. Dann sagte er dem Drachen die Worte, die ihm aufgetragen waren, und wie es ihm befohlen war, band er dem Drachen, obwohl er knurrte und zischte, das Maul zu. Dann stieg er wieder nach oben und fand dort zwei Zauberer, die ihm gefolgt waren, um zu sehen, ob er und die beiden Priester tatsächlich zu dem Drachen hinabgestiegen. Jetzt lagen sie vom Gestank des Drachen halbtot auf der Treppe. Auch sie nahm er unversehrt und gesund mit nach oben. Sie wurden zusammen mit unzählig vielen anderen sofort zum Glauben bekehrt, und so wurde das römische Volk vor einem zweifachen Tod bewahrt: vor der Verehrung des Teufels und dem Gift des Drachen.

Als Silvester schließlich seinem Tod nahe war, mahnte er den Klerus, drei Dinge zu beachten: Sie sollten sich gegenseitig lieben, ihre Kirchen mit großer Sorgfalt verwalten und die Herde vor den Bissen der Wölfe bewahren. Darauf entschlief er um das Jahr 320 selig im Herrn.“ (Legenda Aurea, De sanctro Silvestro, S. 93 f.)

Der heilige Silvester ist bei weitem nicht der populärste Heilige. Obwohl an seinem Totentag gefeiert wird, ist sein Leben und seine Bedeutung weitestgehend in Vergessenheit geraten. Dennoch wird es kein Zufall gewesen sein, dass gerade die ihm nachgesagten Taten, wie das erwähnte Drachenzähmen, gut auf den 31. Dezember passen, ließ sich doch damit aus christlicher Sicht dem Schrecken der Neujahrsnacht entgegenwirken. Wie den übrigen Rauhnächten oder Rauchnächten sagte man auch dieser nach, eine Zeit der Geister zu sein. Kinder, die in der Neujahrsnacht geboren wurden, sollten kein hohes Alter erreichen. Besonders von jenen, die zwischen Mitternacht und ein Uhr das Licht der Welt erblickten, behauptete man, sie könnten Gespenster und den Tod sehen.

Wie Neujahr, so das ganze Jahr, lautet ein Grundsatz. Die Nacht galt und gilt noch heute als Vorbote für das Kommende. Gibt man zu Neujahr viel Geld aus, geschieht dies auch im Rest des Jahres. Umgedreht verhält es sich natürlich ebenso. „Wenn man in der Neujahrsnacht nicht schläft, wird man das ganze Jahr hindurch nicht (gut) schlafen. […] Wenn man am Neujahr um Mitternacht den Kopf anschlägt und eine Beule bekommt, bringts Unglück.“ (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 6, S. 1031)

Viel besser ist es, in der Neujahrsnacht zu tanzen und zu springen und lustig zu sein, sich ordentlich zu benehmen, sich gut mit dem Nachbar zu verstehen, nicht zu streiten und die Hände vom Glücksspiel und der Handarbeit zu lassen. Einige Bräuche, die für gute Gesundheit sorgen sollen, muten indes doch recht eigentümlich an: „In der Neujahrsnacht soll man zwischen 11 und 12 Uhr nackend auf den Gottesacker gehen und Moss von den hölzernen Kreuzen holen, um Gicht und andere Krankheiten zu heilen. Eine Muskatnuß, in der Neujahrsnacht stillschweigend gekauft und das Jahr hindurch unausgesetzt in der Tasche getragen, verhindert selbst beim schwersten Sturz das Zerbrechen eines Gliedes. […] Wie es schon die Römer taten, schmückt man sein Haus mit grünen Zweigen.“ (Handwörterbuch des deutschen Aberglauens, Bd. 6, S. 1029) Letzteres wird heute immer noch in vielen Häusern und Wohnungen praktiziert, allerdings zumeist in Form von Luftschlangen und Konfetti.

Ein traditioneller Silvesterbrauch ist auch das Bleigießen, welches ebenfalls schon bei den Römern in Gebrauch war. Die Neujahrsnacht sei für das Wahrsagen besonders günstig. Ob man nun den eingeschmolzenen Glücksschweinen, Kleeblättern, Schornsteinfegern oder Glocken einen zukunftsträchtigen Schattenwurf entlocken kann, sei dahingestellt. Ein Spaß für Groß und Klein ist es allemal, zumindest bis letztes Jahr. Ab 2018 untersagt die EU-Chemikalienverordnung den Vertrieb von Bleigieß-Sets mit bleihaltigen Rohlingen vollständig. Daher müssen sich alle Silvesterwilligen nun also mit Tischfeuerwerk, Knallbonbons, Hütchen, Tröten, Partymusik und dem üblichen Geböllere begnügen. Letzteres steht mittlerweile ebenfalls auf dem Index, nicht nur weil es Haustiere in Angst und Schrecken versetzt und den Notaufnahmen nächtlichen Zuwachs beschert, sondern weil auch die Feinstaubbelastung dank Knallen, Krachen, Zischen, Pfeilen und Heulen in der Neujahrsnacht so groß ist, wie in keiner anderen Nacht. Dabei hat das Feuerwerk (wie auch das Schwarzpulver und manches andere ein chinesischer Export) seit dem Spätmittelalter Tradition. Diente es früher vor allem der höfischen Repräsentation, gibt es an Silvester quasi das Feuerwerk zum Selbermachen für alle. Ganz in der Tradition der Rauhnächte soll der Lärm die Geister vertreiben. Sollte auch hier irgendwann ein EU-Verbot zuschlagen, könnte ein Blick in die Schweiz helfen. Im Kanton Appenzell wird zu jedem Jahresschluss (und weil’s so schön ist, gleich nochmal zum „Alten Silvester“ am 13. Januar) das Silvesterklausen praktiziert. Jeder Silvesterklaus kleidet sich dafür in ein spezielles Kostüm (zum Beispiel in Form von Tannenreißig oder Bauerntracht), trägt eine Maske und zieht mit einer Gruppe Gleichkostümierter unter Schellengeleut singend und jodelnd von Haus zu Haus. Drehen, Hüpfen und Tanzen sind natürlich auch erlaubt.

Den ganz Mutigen sei das sogenannte „Speckjagen“ empfohlen. Darunter versteht man, wie der Name schon andeutet, das heimliche Entwenden von Speck, Rauchfleisch und Würsten aus den Häusern (oder Wohnungen). Wenn Sie also ihren Nachbarn zu Silvester in der Speisekammer vorfinden, wundern Sie sich nicht. Vielleicht bringt er aber auch nur ein Brot vorbei. Tierfiguren und Jahresringe sind als Silvestergebäck beliebt. Sogar das Stallvieh bekommt an diesem Tag Brötchen zu fressen (besagt zumindest ein Brauch aus Ostpreußen). Und was die ganze Trinkerei angeht, hier ein Tip, „wer in der Silvesternacht, während es zwölf Uhr schlägt zwölf große Bier trinkt, ist das ganze Jahr glücklich“.

Also feiern Sie, was das Zeug hält und vertreiben Sie ordentlich die Geister. The same procedure as every year. Und einen guten Rutsch ins Neue Jahr!

Beitrag von Dr. Constance Timm

Literaturhinweise:

Handbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 6, Hanns Bächthold-Stäubli/Eduard Hoffmann-Krayer (Hrsg.), Berlin 1987.

Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Lateinisch/Deutsch. Reclam-Ausgabe. Stuttgart 1988.

Lexikon des Mittelalters, Bd. 7. Sp. 1905ff. Stuttgart 2000.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Böller, Papst und Neues Jahr“

  1. Ich denke der rationale Gedanke hinter Silvester ist das wir nicht vergessen sollen das ein planetarischer Zyklus mit „Erleuchtung im Himmel“ enden wird.

    Was auch auf die Drachen Mythologie passt. Eine geflügelte Schlange im Himmel die Feuer speit.
    Wenn ein Objekt aus dem Kosmos in unsere Atmosphäre eindringt zieht er einen langen Rauchschweif hinterher, durch die verschiedenen Luftströmungen wird dieser lineare Schweif „geschlängelt“ dargestellt. Am ende seiner Flugbahn kommt es zu einem großen Feuerball. Optisch sieht es aus wie eine Schlange im Himmel die Feuer speit.

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