Auf einer Reise durch den Westen Sloweniens begegnete mir ein schönes Beispiel für die These, dass unsere Sagenwelt oft aufs Engste verbunden ist mit der Landschaft, aus der sie hervorgeht.
Am Rand des slowenischen Triglau-Nationalparkes liegt nahe dem viel fotografierten Bleder See die Vintgar-Klamm. Das Wasser des Flusses Radovna hat hier Steilwände geschaffen, die bis zu 300 Meter hoch sind. Auf einem Pfad durch den Wald entlang des Westkamms findet der Wanderer eine Informationstafel, die die Sage von einer weißen Schlange erzählt:
Sieben Jahre mit der Schlangenkönigin
Ein kleiner Junge ging oft von seinem Dorf in den Wald, um Feuerholz zu suchen. Einmal fiel er in eine Schlucht. Er landete inmitten von Schlangen. Erst hatte er große Angst. Unter ihnen war eine ganz besondere, eine weiße Schlange mit einer Krone, die anzeigte, dass sie die Schlangenkönigin war. Die Schlangen taten dem Jungen nichts, und er gewöhnte sich an sie. Er bemerkte, dass sie an einem bestimmten Stein leckten. Weil er hungrig und durstig war, tat er es ihnen gleich und danach fühlte er weder Hunger noch Durst. So gingen die Tage und Jahre ins Land und der Junge wuchs heran. Nach sieben Jahren fragte ihn die Schlangenkönigin, ob er nach Hause wolle. Natürlich wollte er das mehr als irgendetwas sonst. Die Königin versprach ihm, ihn aus der Schlucht heraus zu tragen, aber er musste ihr versprechen, dass er niemandem erzählen würde, wo er die letzten sieben Jahre verbracht hatte.
Seine Familie war sehr erstaunt, als er unversehrt zurückkehrte. Sie bedrängten ihn zu erzählen, wo er die letzten sieben Jahre gewesen sei und wie er überlebt habe. Der Junge gab nach und gab schließlich sein Geheimnis preis. Er führte sie zu dem Abgrund. Am Rand des Kraters kletterte er auf eine hohe Birke und begann zu pfeifen. Nach dem dritten Mal erschien eine weiße Schlange mit einer glänzenden Krone auf dem Kopf. Die Leute wollte ihr die Krone wegnehmen, weil sie großen Reichtum versprach. Die Schlange war wütend auf den Jungen, weil er sie betrogen hatte. Sie bat die Menschen darum, sich noch einmal umdrehen zu dürfen, bevor ihr die Krone genommen wurde. Als sie sich wegdrehte, schwang sie ihren Schwanz so heftig, dass sie neun große Birken umwarf. Zum Glück des Jungen hatte er die zehnte Birke erklommen, die ihr Schwanz nicht erreichte.
Obwohl die Geschichte mit einem Abgrund zu tun hat und ich tatsächlich gerade an einer Klamm mit wildem Fluss entlangging, blieb sie mir doch rätselhaft und auch etwas befremdlich. Sie hat keinen rechten Kern, nicht einmal einen richtigen Schluss: Wir erfahren nicht, was mit den Menschen geschah, die die Schlange berauben wollten, oder mit dem „Helden“, der sein Versprechen brach.
Ein Blick in Wilhelm Kuehs’ „Sagen aus Kärnten, Friaul und Slowenien“ gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass sich Sagen bis zum heutigen Tag immer weiter entwickeln; in seiner Sammlung ist das Thema in zwei separate Geschichten aufgeteilt: In „Die Krönleinschlange und die armen Kinder“ erscheint eine weiße, bekrönte Schlange in einem armen Haus und lässt ihre Krone zurück, die fortan dafür sorgt, dass die Vorräte nicht mehr ausgehen. „Der Stein des Lebens“ dagegen erzählt die Geschichte ganz ähnlich wie die Infotafel, allerdings ist die weiße Schlange hier nicht bekrönt, und die Menschen versuchen tatsächlich, den Stein des Lebens zu stehlen. Die Schlange reißt auch in dieser Version viele Bäume um, erwischt aber jenen, auf dem der Held sitzt, nicht.
„[…] „Du hast mich enttäuscht“, zischte sie und schlug so heftig um sich, dass sie neun Baumreihen ummähte, aber die zehnte Reihe, die zehnte Buche, auf der der Junge saß, erreichte sie nicht.“
Auch in der Version, wie Kuehs sie erzählt, bleibt das Ende vage: Das Geheimnis der Schlange ist gelüftet, aber es scheinen sich keine Konsequenzen daraus zu ergeben. Unser namenloser Held erlangt nichts. Er erhält sich „nur“ das Leben, weil er sich die „richtige“ Baumreihe ausgesucht hat – Ende der Geschichte.
Was mochte diese Sage für die Menschen so interessant und faszinierend gemacht haben, dass gerade sie die Zeiten überdauerte?
Eine Antwort wartete etwa hundert Kilometer südlich von der Vintgar-Klamm, in Sloweniens Grünem Karst. Erst in der Gegend der weltberühmten Tropfsteinhöhlen Postojna und Skocjian fand die Sage von der weißen Schlangenkönigin ihre Heimat und ihren Sinn.
Weil die slowenischen Kalksteinberge – im Gegensatz zu den kroatischen – vom Hunger Venedigs nach Baumstämmen weitgehend verschont blieben, erhielt sich auf dem wasserlöslichen, weißen Gestein eine Humusdecke, die heute noch weite Mischwälder ermöglicht. Fichten, Kiefern, Eichen, Birken und Pappeln sind die vorherrschenden Baumarten. Das Gelände ist unstet und zerklüftet, denn Höhlensysteme von gewaltigen Ausmaßen durchziehen den slowenischen Karst. Wenn eine Höhlendecke durch Auswaschung zu dünn wird, bricht sie ein, und es bilden sich häufig extrem steile Trichter von mehreren hundert Metern Tiefe, sog. Dolinen. Wer schon einmal vom Rand der Doline Pivka Jama in ihren bodenlosen Schlund gestarrt hat, wird keinen Augenblick daran zweifeln, dass man in einer solchen „Schlucht“ verschwinden kann, ohne Aussicht darauf, aus eigener Kraft wieder herauszukommen.
Aufgrund der stetigen Erosion bricht das Gestein an den Rändern der Trichter immer wieder ein, und dabei stürzen dann auch Bäume in die Tiefe – wie in der Sage beschrieben. Solche Dolinenstürze ereignen sich besonders häufig in extremen Wetterlagen, wenn die Elemente aus den Fugen zu sein scheinen. In solchen Situationen wagt man sich nicht zu nah an den Abgrund, sondern gibt sich besser mit der zehnten Reihe zufrieden.
Dass man Dolinen und Höhlen besser mied, passt zu den heutigen Erzählungen über ihre Erforschung. Offiziell wurden die Höhlen erst im Laufe des 19. Jahrhunderts „entdeckt“, meist von Deutschen, Österreichern oder Briten. Der moderne Narrativ lautet, dass sich die einheimische Bevölkerung gar nicht in die Höhlen hineintraute – aus Angst vor den Drachen, die darin vermutet wurden.
Die Dolinen bieten nicht selten Zugänge zu den weitverzweigten Höhlensystemen. In diesen Höhlen lebt der Grottenolm (proteus anguinus), der auch das Wappentier des slowenischen Staates ist. Es gibt ihn tatsächlich nur in Slowenien und kleinen Teilen von Kroatien. Der Grottenolm ist ein bis zu 30 cm langes Reptil, das sich ausschließlich im Wasser aufhält. Er hat einen schlangenartigen Körper mit vier dünnen Beinen und außen am Kopf sitzenden Atemorganen. Angepasst an die ewige Dunkelheit seines Lebensraumes bildet sein Körper kaum Melanin aus, weshalb seine Haut weiß bis hellrosa ist.
Über das Leben und Verhalten des Grottenolms ist trotz seiner Popularität erstaunlich wenig bekannt, weil er so schwer zu beobachten ist. Obwohl blind, kann er Licht über die Haut wahrnehmen, was ihm so unangenehm zu sein scheint, dass er sich unwillkürlich in dunkle Ritzen verkriecht. Trotzdem bekommt man ihn nach starken Regenfällen manchmal zu sehen, denn wenn das Wasser in den Höhlen steigt, schwemmt es auch Grottenolme mit nach draußen. Noch im 18. und 19. Jahrhundert sollen die weißen Wesen mit ihrem schlangenartigen Körper und dem ungewöhnlichen Kopfputz (Atemorgane) als die Kinder der Drachen gegolten haben. Schriftquellen sind rar, aber so erzählt man es sich und den Touristen bis heute.
Die unnatürliche weiße Farbe der Schlange aus unserer Sage hat damit ihre Erklärung: Wie wird man sich die Mutter von weißen Kindern wohl vorgestellt haben?
Das merkwürdigste Element der Sage bleibt aber der Stein, an dem zu lecken Hunger und Durst stillt. Immerhin sieben Jahre „ernährt“ er den Jungen und noch viel länger die Schlangenkönigin und ihre Kinder. Mythische Motive wie der Stein der Weisen, der Heilige Gral und der Jungbrunnen klingen in ihm nach. Erstaunliche Parallelen zeigen sich aber auch zwischen diesem Erzählmotiv und der jüngeren zoologischen Forschung. Grottenolme altern extrem langsam und können unter semi-natürlichen Bedingungen über einhundert Jahre alt werden. Sie können, wenn nötig, ihren Stoffwechsel so verlangsamen, dass sie bis zu zehn Jahre lang gar keine Nahrung benötigen. Zudem konnten ungarische Forscher mithilfe lumineszenter Marker nachweisen, dass sich manche Exemplare kaum vom Fleck bewegen. In einem Fall verließ ein Grottenolm seinen angestammten Platz überhaupt nicht, obwohl er dort nicht gefangen war und Grottenolme grundsätzlich sehr gute Schwimmer sind. Er verharrte am selben Fleck – sieben Jahre lang.
Angesichts dieser Häufung von „Zufällen“ erscheint die Behauptung, die Karstbewohner vergangener Jahrhunderte seien so schreckhaft gewesen, dass sich niemand in die Höhlen traute und entsprechend auch nichts über ihr Inneres bekannt war, bestenfalls als modernes Märchen. Vielmehr scheint in der Sage von der bekrönten Schlange ein altes, aber tiefes Wissen über die Beschaffenheit des Karstes, die Kräfte, die ihn formen, und die Kreaturen seiner Dunkelheit durch. Erst unter Berücksichtigung ihrer „Heimat“, der Landschaft, in der sie entstanden ist, lässt sich der Sinn ihrer Erzählmotive erkennen, auch wenn sie noch viele Geheimnisse birgt.
Ein Beitrag von Dr. Tanja Müller-Jonak
Literaturhinweise:
Kuehs, W. (2012) „Sagen aus Kärnten, Friaul und Slowenien“. Wien u.a. Styria, S. 72 f.
Balázs, G. et al. (2020) „Extreme site fidelity of the olm (Proteus anguinus) revealed by a long-term capture–mark–recapture study“. Journal of Zoology (Zoological Society of London, online), https://doi.org/10.1111/jzo.12760
Bulog, B. (1994). „Dve desetletji funkcionalno-morfoloskih raziskav pri mocerilu (Proteus anguinus, Amphibia, Caudata)“ [Two decades of functional-morphological research on the olm (Proteus anguinus, Amphibia, Caudata)]. Acta Carsologica. 23: 248–263.
Voituron, Yann et al. (2011) „Extreme lifespan of the human fish (Proteus anguinus): A challenge for ageing mechanisms“. Biology Letters 7, 105-107, http://doi.org/10.1098/rsbl.2010.0539
Kuehs, W. (2012) „Sagen aus Kärnten, Friaul und Slowenien“. Wien u.a. Styria, S. 72 f.
Balázs, G. et al. (2020) „Extreme site fidelity of the olm (Proteus anguinus) revealed by a long-term capture–mark–recapture study“. Journal of Zoology (Zoological Society of London, online), https://doi.org/10.1111/jzo.12760
Bulog, B. (1994). „Dve desetletji funkcionalno-morfoloskih raziskav pri mocerilu (Proteus anguinus, Amphibia, Caudata)“ [Two decades of functional-morphological research on the olm (Proteus anguinus, Amphibia, Caudata)]. Acta Carsologica. 23: 248–263.
Voituron, Yann et al. (2011) „Extreme lifespan of the human fish (Proteus anguinus): A challenge for ageing mechanisms“. Biology Letters 7, 105-107, http://doi.org/10.1098/rsbl.2010.0539
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Sehr geehrte Frau Müller-Jonak,
danke für diese slowenische Mythe und die beigefügte Erklärung ihrer Entstehung, die plausibel und überzeugend klingt. Vor allem die äußeren Kiemen des Grottenolms als Krönchen zu deuten, gefällt mir an der Saga.
Was ich bislang jedoch noch nicht recht an all den Beiträgen im Mytho-Blog nachvollziehen konnte, worin das Vergleichende besteht, das als Teil des Namens des Arbeitskreises, so nehme ich an, ja doch irgendwie irgendwo auch praktisch umgesetzt wird.
Verstehe ich da irgend etwas falsch? Sammelt, bewahrt und verbreitet der Verein lediglich Mythen, damit sie vergleichbar werden oder gibt es im Verein selbst solche analythischen Vergleiche? Was auch ist überhaupt das Ziel der vergleichenden Mythologie?
Ich muss zum Verständnis ergänzen, ich bin ganz neu im Verein und versuche gerade Konzepte und Arbeitsweise zu verstehen.
Freundliche Grüße,
Ingo Marzahn