Antiker Mythos in europäischen Volkserzählungen

Vom Ostmittelmeerraum rund um Griechenland haben sich zahlreiche Märchen über ganz Europa verbreitet. Aus mythischen Erzählungen und der griechischen Mythologie haben sich Symbole, Beziehungen und Motive im heutigen europäischen Volksmärchen niedergeschlagen. Angelehnt an die These, das Märchen sei die kleine Schwester des Mythos, weisen die ‚archaischen‘ Märchen im Sujet eine deutliche Verbindung zu Mythen, Ritualen und Stammesbräuchen auf. Besonders in den Tiermärchen haben sich die für mythische Trickstergeschichten charakteristischen Motive niedergeschlagen. Die Zaubermärchen erzählen von den Ehen mit mythischen Wesen, die beispielsweise vorübergehend ihre tierische Haut abstreifen und menschliche Gestalt annehmen, wie im Märchentyp ATU 400[i] Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau oder ATU 425 Amor und Psyche. Mythische Motive und Parallelen zu Jenseitswanderungen des Mythos finden wir auch in Märchen über den Besuch anderer Welten zur Befreiung von Gefangenen wie in ATU 301 Die drei geraubten Prinzessinnen.

Mythos hat etwas zu tun mit der Vorzeit, mit der Schöpfung des Universums und der Erde. Deshalb hat das erklärende, ätiologische Element in Mythen immer einen wichtigen Anteil. Mythen sind vorzugsweise Göttergeschichten; sie sprechen von den Handlungen und Leidenschaften der Götter, ihren Kämpfen, Leiden und Siegen. Menschen haben an der Göttergeschichte insofern Anteil, als die göttliche Welt auf die irdische einwirkt.“ 

(Zitiert nach Lutz Röhrich: Märchen – Mythos – Sage, 1984, S.11.)

Dieser ätiologische Gehalt des Mythos wird durch die Moral (im Tiermärchen) und stilistische Formeln, die auf die Unglaubwürdigkeit der Erzählung verweisen (in Zaubermärchen), allmählich verdrängt. Die Helden selbst werden entmythisiert. Die Entmythisierung des Helden im Zauber- und Heldenmärchen geschieht im Zuge seiner völligen Anthropomorphisierung und mit seiner Idealisierung. Der Märchenheld hat häufig nicht von Anfang an übernatürliche oder besondere Kräfte, über die der mythische Held schon aufgrund seiner Natur und Herkunft verfügt.

Die Gemeinsamkeiten von Mythen und Märchen liegen in ihrer Fiktionalität begründet, die für den Menschen in verschiedenen Zeitaltern auf jeweils wieder andere Weise unverzichtbar sind. Trotzdem stellt sich die Frage was die so fantastischen und unwirklichen Märchen von heute mit der archaischen Götter-, Welt-, und Menschheitsgeschichte des Mythos des Weiteren gemein haben. Bei beiden handelt es sich um traditionelle Erzählungen, die über den Verlauf von Geschehnissen berichten und in mündlichen wie literarischen Überlieferungsformen leben. Sie spielen jenseits der realen Orts- und Zeitverhältnisse und schildern eine übernatürliche Welt, in der das Außermenschliche, Dämonische oder Göttliche menschlich handelnd oder reagierend – selbst von menschlicher Gestalt und Charakter dargestellt wird.

Der Mythos und das Märchen leben von extremen Gegensätzen – Schönheit und Hässlichkeit, Stärke und Schwäche, Liebe und Hass sowie die „binären Oppositionen“ wie Belohnung und Strafe, Tabu und Übertretung, Tötung und Rache oder Frevel und Sühne. Auch finden sich ähnliche Heldenbiografien – so gleichen Perseus, Jason und Herakles dem starken Hans der Märchen. Das Lösen einer bestimmten Anzahl schwieriger Aufgaben ist ein Kernelement beider Erzählgattungen, ebenso wie die Suche nach besonderen Gegenständen wie der Tarnkappe oder den Siebenmeilenstiefeln – eine Suche, die nur dem jeweiligen Helden glückt. Wertvolle besondere Gegenstände wie das Wasser des Lebens müssen meist von einem übernatürlich oder gar übermächtigen Wesen erobert werden. Manchmal sind dafür Reisen ins Jenseits nötig. Fehlende Körperkraft wird oft durch Klugheit oder List ausgeglichen – so steht das tapfere Schneiderlein der unbedarfter wirkenden Märchen, das zwei Riesen mangels körperlicher Stärke dazu bringt, sich gegenseitig zu töten, dem mythischen Odysseus, der sich in listiger Voraussicht Niemand nennt, um dem Zyklopen Polyphem zu entkommen, in wenig nach. Märchen- und heldensagengemäß ist ebenso die außergewöhnliche Geburt (z. B. Glückshaut) des Protagonisten, seine Kindheit oder Jugend, wie die Aussetzung als Kind oder die Errettung durch ein Tier. Häufig werden diese Gemeinsamkeiten in modernen Betrachtungen genutzt, um das Märchen zu re-mythologisieren – ein sehr kritisches Unterfangen, da die Herkunft vieler Erzählungen nicht sicher nachgewiesen werden kann, die Elemente in ihren Funktionen und Strukturen doch grundlegend verschieden sind.

In der Natur der beiden unterschiedlichen Gattungen, ihrer Herkunftsgeschichte sowie ihrer Funktionen, liegt die nicht zu verachtende Anzahl an Unterschieden. Der Märchenoptimismus und das glückliche Ende der Märchen als Teil der Gattungsdefinition bleiben in den mythischen Heldensagen häufig aus. In vielen Fällen berichten sie gar vom Untergang oder Tod eines Helden. Auch sind Mythen weniger stilisiert als Märchen, denn die Erzählgesetze der Volksepik fehlen.

Der Mythos ist viel stärker als das Märchen religiös geprägt, denn er erzählt die Geschichten der Götter, Halbgötter und Heroen, während sich die Märchen auf die menschliche Welt beziehen. So sind die Mythen sakral, die Märchen profan. Während der Mythos sehr ernst ist, ist das Märchen eher verspielt. Dies zeigt sich unter anderem in der unterschiedlichen Einstellung zum Tod. Das Märchen strebt hier nach einer optimistischen Lösung mit Formeln „und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“. Dadurch kommt es ganz und gar zu einer Ausklammerung des Todes, die dem Mythos fern ist.

Mythen handeln von grundlegenden Dingen des Daseins. Die Erschaffung der Welt, der Sterne oder Menschen ist in einer Urzeit verortet. Auch das Märchen macht zwar ungenaue Zeitangaben, jedoch spielen sie nicht in einer Vorzeit, die Akteure entstammen nicht der religiösen Welt, wodurch sich auch weniger rituelle Dinge wie Orakelsprüche finden.

Zwar weisen Motive und Motivkomplexe Parallelen auf, dennoch unterscheiden sie sich in Funktion und Ablauf. Während die Verwandlungen in den Ovid‘schen Metamorphosen, (beispielsweise die des Philemons und Baucis) endgültig sind, liegt es im Wesen des Märchens, dass der Protagonist von seinem vorherbestimmten Liebespartner erlöst und somit zurückverwandelt wird. Weitere Unterschiede zeigen sich in den Dynamiken und Gestalten selbst, die in Mythen namentlich bekannt sind und weitreichende Biografien und Verwandtschaftsverhältnisse aufweisen. In den Märchen fehlt diese individuelle Genealogie, sie erzählen vor allem von Helden mit Allerweltsnamen wie Hans.

Einzelne Märchenmotive lassen sich häufig in griechischen Heldensagen wiederfinden. Dazu zählt beispielsweise der Drachenkampf, der in der antiken Welt genauso wie im mittelalterlichen Epos oder den neuzeitlichen Märchen und Sagen abläuft: Der Held tötet das Ungeheuer und beweist später, dass er und nicht ein anderer Rivale die Tat vollbracht hat, indem er die Zunge des Tieres als Legitimation hervorzeigt – gleichwohl die antiken Erzählungen ein mythischeres Gepräge aufweisen.

Weitaus größere Gemeinsamkeiten finden sich in der sogenannten niederen Mythologie, weil diese weniger den Tendenzen des Christentums ausgesetzt waren wie der polytheistische Glaube. Diese wurde vollumfänglich in die europäische Sagenwelt integriert und angepasst. Dort finden sich zahlreiche mythische Züge der antiken Erzählstoffe, denen der Mythos überhaupt nähersteht als den Märchen. Der Höllenhund Kerberos ähnelt den Schatzhüterhunden der Sage. Die Tötung und Wiederbelebung mit dem Motiv des „kleinen Verlusts“ in Gestalt eines fehlenden Knochens findet sich in der alpinen Sage von der Haselhexe in ähnlicher Weise wie in der Pelops-Mythe. In einer anderen alpinen Sage muss ein Hirt nach seinem Tod immer wieder ein Stück Vieh, das er zu Lebzeiten abstürzen ließ, den Berg hinauftragen – vergleichbar mit der Bestrafung des Sisyphos. Das Thema des Damoklesschwertes kehrt vor allem in Zwergensagen als Mühlenstein am seidenen Faden wieder.

In der folkloristischen Forschung sind antike Stoffe und Figuren so zentral, dass beispielsweise Stith Thompson auch mythische Überlieferungen in seinen Märchen-Motiv-Index einbezogen hat. Die ganze Gruppe A umfasst „Mythological Motifs“, wie kosmogonische Motive: Ursprung von Sonne, Mond und Sternen, von Erde, Wasser, Felsen; anthropologische Motive, wie die Erschaffung des Menschen, Ursprung der Sexualität, Entstehung der Handwerke, Erschaffung der Tiere, ihrer Eigenschaften oder Ursprung der Pflanzen. Ähnliche Ätiologien finden wir durchaus auch in den Märchen. Diese ätiologische Erzählung erklärt den Ursprung der menschlichen Verhaltensweisen im Zuge des Alkoholkonsums, und greift dabei auf den antiken Gott Dionysos zurück. Den Zaubermärchen sind diese Funktionen meist fremd.

Ob Gestalten, wie die Moiren, Motive oder ganze Motivkomplexe – die europäischen Volkserzählungen weisen viele Elemente der antiken Mythenwelt auf, doch hat der Mythos in ganz anderer Weise historische Aspekte inne. Er erklärt Bräuche, Tabus oder die Entstehung von Ortsnamen. Das Geschehen des antiken Mythos ist immer auch ein Stück Geschichte einer griechischen Landschaft oder Stadt.

Ein Beitrag von Janin Pisarek


Janin Pisarek ist Erzählforscherin und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte in der historisch-vergleichenden Erzählforschung liegen in Verwandlungen und Mahrtenehen der europäischen Volksmärchen sowie den dämonologischen Sagen und Sagengestalten des deutschsprachigen Raumes. In diesen Bereichen ist sie vielseitig publizistisch aktiv. Seit 2018 ist sie Redakteurin der Zeitschrift Heimat Thüringen. Seit Anfang 2019 ist sie Teil des interdisziplinären Projektes Forgotten Creatures, das Sagengestalten erforscht und vielseitig vermittelt.


Literaturhinweise:

Dagmar Burkhart: Art. Mythos. In: Kurt Ranke: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 9, Berlin: De Gruyter, 1999, Sp. 1092–1104.

Georgius Megas: Die Moiren als funktioneller Faktor im neugriechischen Märchen. In: Märchen Mythos Dichtung. Festschrift zum 90. Geburtstag Friedrich von der Leyens, München: C. H. Beck, 1963, S. 47–62.

Janin Pisarek: Motive antiker Erzählstoffe im europäischen Volksmärchen. In: Märchenforum. Zeitschrift für Märchen und Erzählkultur, 90. Ausgabe, Sommer 2021, S. 20–23.

Lutz Röhrich: Märchen – Mythos – Sage. In: Antiker Mythos in unseren Märchen, Kassel: Erich Röth-Verlag, 1984.

Rudolf Simek: Götter und Kulte der Germanen. München: Verlag C. H. Beck, 2006.


Anmerkungen:

[i] Seit 2004 sprechen wir vom Aarne-Thompson-Uther, kurz ATU (Antti Aarne, Stith Thompson, Hans-Jörg Uther), früher Aarne-Thompson-Index (AaTh) »The Types of the Folktale. A classification and bibliography«. Das internationale numerische Klassifikationssystem dahinter ist bereits seit über einem Jahrhundert gültig und liefert brauchbare Informationen zu vergangenen und gegenwärtigen Erzählstoffen. Seine Wurzeln reichen zur Entstehung der geografisch-historischen Methode ab den 1880er Jahren als Reaktion auf die im Geist der Nationalromantik gestiegene Bedeutung von Märchen, Sagen und Balladen mit dem Ziel, alle Märchen beziehungsweise Varianten eines konkreten Erzähltyps international vergleichbar zu machen.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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