Die „Papyri Graecae Magicae“
Mit dem Begriff „Papyri Graecae Magicae“, zu Deutsch: „griechische magische Papyri“, wird eine moderne Zusammenstellung antiker Texte bezeichnet, die der Philologe Karl Preisendanz zwischen 1928 und 1931 erstmals veröffentlichte. Es handelt sich dabei nicht um eine ursprünglich antike Textsammlung. Zeitlich überspannen die einzelnen Texte einen Zeitraum von rund 800 Jahren, beginnend mit dem ersten Jahrhundert vor Christus bis hin zu den spätesten Texten aus dem siebten Jahrhundert nach Christus. Ihr geographischer Ursprung ist Ägypten, wobei die allermeisten Papyri aus dem Antikenhandel stammen und ihr genauer Fundort nicht bekannt oder überprüfbar ist.
In diesem modernen Corpus finden sich neben Papyri auch andere Textträger, nämlich Pergamente, Ostraka und Holztäfelchen. Das ist nicht ganz ungewöhnlich, immer wieder finden sich in älteren Aufstellungen von Sammlungen unterschiedliche Schriftträger unter dem Begriff „Papyri“ zusammengefasst. Diese Praxis wird teilweise bis heute gepflegt, ein aktuelles Beispiel ist die „Berliner Papyrusdatenbank“, in der neben derzeit 4.975 Papyri auch 3.555 keramische Textträger, 129 Pergamente, 168 Holztäfelchen und weitere Materialien enthalten sind[1]. In der Forschung wird hingegen seit einiger Zeit bevorzugt der neutralere Begriff „Textträger“ verwendet.
Der Begriff „magisch“ wurde von Preisendanz ebenfalls weitgreifend verwendet, denn das Corpus enthält auch eine Auswahl an Orakeln, christlichen Evangelienamuletten und anderen christlichen Inhalten. Davon einmal abgesehen gibt es bis heute keine klar definierten Kriterien, nach denen antike Texte der Kategorie „magisch“ zugeordnet werden. Aktuell tendiert die forschende Gemeinschaft dazu, dem Problem auszuweichen, indem der Begriff „Magie“ durch den vermeintlich neutraleren Begriff „ritual power“ ersetzt wird. Der wiederum grenzt Magie auf ausschließlich ritualpraktische Kontexte ein und hilft auch nicht bei der Lösungssuche im Kontext einer kriterienbasierten Abgrenzung gegenüber den als „religiös“ klassifizierten Texten, die ebenfalls häufig in rituelle Kontexte eingebettet sind oder davon berichten.
Aber das ist ein zu weites Feld für einen kurzen Blogbeitrag, wichtig ist hier erst einmal, sich darüber im Klaren zu sein, dass es sich bei den „Papyri Graecae Magicae“, den griechischen Zauberpapyri, um keine homogene, antike Textsammlung handelt, sondern um eine moderne Zusammenstellung antiker Texte, die man zum damaligen Zeitpunkt nicht als religiös einstufen wollte. Einer der Gründe dafür ist die in den Texten reflektierte Vorstellung, höhere Mächte durch die Einhaltung bestimmter Handlungsvorgaben unter die eigene Kontrolle bringen und ihnen Befehle erteilen zu können. Wenn Sie jetzt denken: „Na, so etwas hat ja auch nichts mit Religion zu tun, das ist doch ganz klar Zauberei“, dann erinnern Sie sich an das Austreiben von Dämonen. Der Exorzismus ist eine Praxis, die nicht nur Jesus ausgeübt hat (z.B. Lk 4,31-37), er wird bis heute unter anderem in der katholischen Kirche praktiziert. Amulette und Ritualanleitungen, die der Austreibung von Dämonen und anderen höheren Mächten dienen, werden in der Forschung übrigens nach wie vor dem Bereich Magie zugeordnet. Hier ein Beispiel aus einer griechisch-koptischen Ritualanleitung des vierten Jahrhunderts:
„Treffliche Handlung, die Dämonen austreibt. Gebet, das über dem Kopf des Besessenen zu sprechen ist. Leg vor ihn Ölzweige, und hinter ihm stehend sprich: „Sei gegrüßt, Gott Abrahams, sei gegrüßt, Gott Isaaks, sei gegrüßt, Gott Jakôbs, Jêsus Chrêstos, heiliger Geist, Sohn des Vaters, der unter den Sieben, und der in den Sieben ist. Bring Iaô Sabaôth, möge eure Kraft fort sein von NN, bis ihr vertreibt diesen unreinen Dämon, den Satan, der auf ihm ist.
Ich beschwöre dich, Dämon, wer du auch immer seist, bei diesem Gott: Sabarbarbathiôth Sabarbarbathiouth Sabarbarbathiônêth Sabarbarbaphai, komme heraus, Dämon, wer du auch immer seist, und verlasse den NN, jetzt jetzt, sofort sofort! Komme heraus, Dämon, da ich dich fessle mit stählernen, unlöslichen Fesseln und dich ausliefere in das schwarze Chaos in der Hölle.“
Handlung: Nimm sieben Ölzweige und binde sechs davon an Ende und Spitze, jeden für sich, mit dem übrigen aber schlage unter Beschwörung. Halt es geheim, es ist schon erprobt.
Nach dem Austreiben hänge dem NN als Amulet, das der Leidende also nach dem Austreiben des Dämons umzieht, auf einem Zinnblättchen folgendes um: „bôr phôr phôr ba for for ba bescharin baubôte Ph ôr bôrph ôrba phorbabor baphorba ph abra iê phôrba pharba phôrphôr phorba bôphor phorba phorphorphor ba bôborborba pamphorba phôr phôr phôrba schütze den NN.“ [Übersetzung nach Preisendanz (1928), 115.]
Inhaltlich hat Preisendanz für die „Papyri Graecae Magicae“ einerseits Zeugnisse angewandter antiker Ritualpraxis ausgewählt, darunter zahlreiche Amulette zum Schutz vor, und gegen, Krankheiten und Dämonen. Andererseits hat er erstmals die in griechischer Sprache überlieferten Ritualhandbücher zusammengestellt. Diese Handbücher ergänzen und bereichern unser Wissen über die antike Ritualpraxis in großem Umfang, denn in ihnen wird nicht nur die Herstellung und Handhabung eben jener magischen Artefakte beschrieben, die archäologisch überliefert sind. Sie enthalten darüber hinaus zahlreiche Ritualdetails, wie zum Beispiel den Wortlaut der begleitenden Anrufungen, Angaben zu individuellen Opfergaben, speziellen Gesten und räumlichen wie zeitlichen Aspekten. Die Ritualhandbücher stellen uns somit eine Reihe an Informationen zur Verfügung, über die uns die archäologische Überlieferung nicht zu berichten vermag.
Preisendanz‘ Kompilation wurde sukzessive in den letzten Jahrzehnten mit neuen Funden erweitert. Heute sind rund 70 antike griechische Zauberhandbücher bekannt, die hunderte von Ritualanleitungen enthalten. Genau genommen handelt es sich überwiegend um Papyrusrollen und nur ein kleiner Anteil besteht aus Codices, Texten in Buchform. Der Begriff „Handbuch“ als übergeordneter Begriff ist allerdings in der Forschung üblich geworden.
Die ägyptischen Geschwister der „Papyri Graecae Magicae“
Neben den griechischsprachigen Quellen für antike Zaubertexte gibt es auch Quellen in den ägyptischen Sprachen Demotisch und Koptisch, deren Zeitraum sich mit dem der griechischen Papyri überschneidet. Die demotische Überlieferung bildet dabei in Bezug auf die Zauberhandbücher die kleinste Gruppe mit vier Schriftrollen, die zudem allesamt zumindest einen kleinen Anteil an griechischen Texten beinhalten. Sie werden in das späte zweite oder frühe dritte Jahrhundert datiert. Das umfangreichste überlieferte, antike Zauberhandbuch ist übrigens der demotisch-griechische London-Leidener Papyrus. Die Schriftrolle misst rund 500 x 34 cm und ist beidseitig mit Ritualanleitungen und ritualrelevanten Informationen beschriftet.
Die koptische Gruppe ist etwas umfangreicher, sie umfasst rund 20 Ritualhandbücher, von denen einige ebenfalls griechische Passagen enthalten. Chronologisch schließt sie mit Zeugnissen aus dem vierten bis siebten Jahrhundert an die demotischen Texte an, und im Gegensatz zu der griechischen Überlieferung, die mit dem siebten Jahrhundert endet, reichen die koptischen Ritualhandbücher bis in das zwölfte Jahrhundert hinein.
Während Preisendanz die Quellen bereits früh im letzten Jahrhundert zusammengestellt hat, fehlt es bis heute an vergleichbaren Corpora für die demotischen und die koptischen magischen Papyri. An solchen wird derzeit an der Universität Heidelberg[2] (demotische Texte) und der Universität Würzburg[3] (koptische Texte) gearbeitet.
Was wurde in den antiken Zauberbüchern niedergeschrieben?
In den antiken Zauberbüchern wurde geheimes Ritualwissen aufbewahrt. Dazu gehörten nicht nur die detaillierten Beschreibungen einzelner Rituale, sondern auch Beschreibungen von Pflanzen und Mineralien, die in den Ritualen verwendet wurden, dazu Anleitungen zur Herstellung von Salben, Pillen und Tintenmischungen, Variationen von Anrufungen, Kommentare zur Wirksamkeit einzelner Ritualvariationen, Anmerkungen zur genauen Aussprache einzelner Namen höherer Mächte, astrologische Informationen und Informationen darüber, welcher Gottheit welche Pflanzen und Opfergaben gebühren. Dass es sich um geheimes Wissen handelt wissen wir durch die zahlreichen Hinweise, die Inhalte unbedingt geheim zu halten.
Hier ein Beispiel für eine Ritualanleitung zur Herstellung eines Artefakts, dessen Beschriftung mit einer speziellen Tintenmischung erfolgen muss:
Für immerwährende Gunst und Freundschaft: Nimm die Wurzel Pasithea oder Beifuß und beschrifte sie in reinem Zustand mit diesen Namen: (Zauberzeichen). Trage sie, und du wirst in Gunst und Liebe und Bewunderung stehen bei allen, die dich sehen.
Die Tinte für die Beschriftung: Myrrhe: eine Drachme, Vitriolerz: 4 Drachmen, Kupfervitriolwasser: 2 Drachmen, Galläpfel: 2 Drachmen, Gummi: 3 Drachmen. [Übersetzung nach Preisendanz (1931), 83.]
Die antiken Ritualhandbücher gewähren uns aber nicht nur einen reichen Einblick in die schillernde Vielfalt antiker Glaubensvorstellungen. Sie berichten uns auch darüber, welche Probleme, Ängste und Sorgen den Menschen in der Antike am meisten zu schaffen machten.
Wann ging man zu einem Magier?
Die antiken Ritualhandbücher und die archäologisch überlieferten magischen Artefakte zeigen uns, dass antike Magie vor allem dafür genutzt wurde, alltägliche Probleme und Herausforderungen zu lösen. Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten suchten vor allem dann einen Magier auf, wenn es um
- den Schutz vor und die Heilung von Krankheiten,
- Rat bei wichtigen Entscheidungen,
- den Wunsch nach Anerkennung und Erfolg im Beruf,
- Gerechtigkeit,
- Beliebtheit und
- sexuelle Erfüllung
ging. Sieht man sich die Liste noch einmal in Ruhe an, stellt man fest, dass sie nach wie vor aktuell ist, was unsere Grundbedürfnisse angeht. Die Magie, die uns in den griechischen und ägyptischen magischen Papyri überliefert ist, wurde also vor allem im Alltag genutzt. Sie diente nicht primär dazu, höhere Mächte zu verehren, sondern dazu, die Kräfte höherer Mächte für ein besseres Leben im Hier und Jetzt zu nutzen.
Neben zahlreich überlieferten Beispielen für diese alltäglichen Probleme, gibt uns eine Reihe an Anleitungen auch Einblick in eine Reihe ungewöhnlicherer Probleme. Da ist zum Beispiel das bemerkenswerte Ritual zur Ergreifung eines Käsebrotdiebes, für den Fall, dass einem Klienten am Arbeitsplatz wiederholt das Pausenbrot gestohlen werden sollte. Ein zeitloses Phänomen. Ein anderes Ritual trägt den bezeichnenden Titel „Nächtliches Ausplaudern“, ein Wahrheitszauber, für den Fall, dass man seinem Partner misstraut. Darüber hinaus finden wir in der Überlieferung praktische Unsichtbarkeitszauber, Zauber zum Öffnen verschlossener Türen und Zauber, die andere Zauber brechen können, Harry Potter lässt grüßen.
Hier ein Beispiel für ein kurzes Ritual für die Herstellung eines Artefakts zur Zerstörung von Zaubermitteln:
Nimm von einem Dreiweg eine dreieckige Scherbe, indem du sie mit der linken Hand aufhebst. Schreibe auf sie mit Myrrhentinte und verbirg sie:
Astraêlos, Chraêlos, zerstört jedes Zaubermittel, das sich gegen mich, NN, richtet! Denn ich beschwöre euch bei den großen und furchtbaren Namen, vor denen die Winde erschauern und die Felsen beim Hören zerreißen! (Zauberzeichen) [Übersetzung nach Preisendanz (1931), 171.]
Antike Zauberbücher in a Nutshell
Mit dem Begriff „antike Zauberhandbücher“ werden antike Texte bezeichnet, die Anleitungen zur Durchführung von Ritualen enthalten, in deren Rahmen höhere Mächte unter die Kontrolle des Praktizierenden gebracht werden, um eine Aufgabe für ihn auszuführen. Die Mehrheit der bisher bekannten Texte datiert zwischen das erste Jahrhundert vor und das siebte Jahrhundert nach Christus. Dabei handelt es sich überwiegend um Schriftrollen und nur ein kleiner Teil der Texte ist tatsächlich als Codex in Buchform überliefert, dennoch hat sich in der Forschung der Begriff Handbuch durchgesetzt.
Die überlieferten griechischen Zauberhandbücher wurden erstmals zwischen 1928 und 1931 von Karl Preisendanz zusammengestellt und als Teil des Corpus der „Papyri Graecae Magicae“ veröffentlicht. An einer vergleichbaren Zusammenstellung der etwa zeitgleichen ägyptischen Zauberbücher, die in demotischer und koptischer Sprache erhalten sind, wird aktuell an den beiden deutschen Universitäten Heidelberg und Würzburg gearbeitet.
Rund 100 antike griechische, demotische und koptische Zauberhandbücher sind bis heute bekannt. Sie wurden allesamt in Ägypten verfasst, die frühesten erhaltenen Exemplare in griechischer Sprache, die spätesten in koptischer. In ihnen sind hunderte Ritualanleitungen erhalten, die uns einen Einblick gewähren in die alltäglichen Probleme und Sorgen der Menschen dieser Zeit, und darin, wie man sich vorstellte, diese Probleme mit Hilfe höherer Mächte lösen zu können.
Vor Allem aber bereichern diese Zauberbücher unser Wissen über die Details antiker Ritualpraxis, die wir ansonsten nur mit Hilfe der archäologischen Überlieferung in sehr eingeschränktem Maße rekonstruieren können. Wir erfahren in ihnen etwas über die individuellen rituellen Handlungen, über die höheren Mächte, die angerufen und instrumentalisiert wurden, über die genauen Inhalte der erforderlichen Beschwörungen, und über die Zusammensetzung von Tinten und Zaubertränken, das Aussehen bestimmter Pflanzen und die Verwendungsweisen verschiedener Mineralien.
Und manchmal verraten uns die Zauberbücher etwas über die Zauberei selbst, wie in diesem Fall eines Handbuchs aus dem vierten Jahrhundert, der weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis der Tradierung antiker Magie über mittelalterliche Grimoires bis in die Gegenwart hinein mit sich bringt:
„Wegen der Zaubergier der Menge schrieben die Priester die Pflanzen und andere Zutaten auf Götterbilder, damit sie ja nicht ohne die nötige Vorsicht Zauberei mit ihnen treiben konnte, wegen der damit verbundenen Irrtümer. Wir aber zogen die Lösungen aus den zahlreichen Kopien und Geheimschriften aller Art.“ Und dann folgen Beispiele für verschlüsselte Ritualzutaten und deren wahre Bedeutung, und diese Beispiele zeigen, dass de facto pflanzliche und mineralische Zutaten als tierische Zutaten verschlüsselt wurden. Hier einige Beispiele aus der antiken Liste: „Schlangenblut bedeutet Hämatit, Ibisknochen: Wegdorn, Blut von der Schulter: Eselsdistel, Blut von der Hüfte: Kamille, Blut von der Fuchsgans: Milch des Maulbeerbaums.“ [Übersetzung nach Preisendanz (1931), 83-84.)]
Ein Beitrag von Dr. Kirsten Dzwiza
Dr. Kirsten Dzwiza forscht am Institut für Ägyptologie der Universtität Heidelberg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u. .a. Antike Magie und Ritualpraxis, Schriftverwendung und Schriftfunktion in antiken rituellen Kontexten sowie Ancient materials, technologies, and knowledge in modern contexts of the Sustainable Development Goals.
Die Autorin twittert regelmäßig über antike Magie unter @antikemagie
Anmerkungen:
[1] https://berlpap.smb.museum/
[2] https://www.uni-heidelberg.de/fakultaeten/philosophie/zaw/aegy/forschung/dem_mag_texte.html
[3] https://www.phil.uni-wuerzburg.de/aegyptologie/forschung/coptic-magical-papyri/
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
„Magisch“ – eindeutig lässt sich Hekate mit Magie identifizieren, dabei handelt es sich um die griechische Göttin der Totenbeschwörung (Nekromantie) -> https://mythologie.forumieren.de/t3-hekate-in-der-griechischen-mythologie