Die Welt. Eine Welt. Unsere Welt. Was bedeutet dieses Wort „Welt“? Ist es der Kosmos (das Weltall)? Oder der Planet, auf dem wir leben? Und wenn wir von „dieser Welt“ sprechen, meinen wir damit gemeinhin einen Zeitabschnitt, der zum einen unsere eigene Lebenspanne umfasst, zum anderen die unmittelbare Gegenwart im Blick hat? Eine bekannte Zeitung trägt den Namen „Die Welt“. Religionen und Mythen kennen die Welt Gottes bzw. die Welt der Götter. So galt etwa für die antiken Griechen die Welt als das Prinzip der Ordnung und der Harmonie. Alles außerhalb davon war Chaos. Moderne Wissenschaftler wiederum untersuchen die Welt der Natur und die Welt des Kosmos. Es gibt die Körperwelt. Seelenwelt. Technikwelt. Scheinwelt. Traumwelt. Die Dritte Welt. Die globalisierte Welt. Literatur kann eine historische, phantastische oder fiktive Welt beschreiben. Der englische Autor Terry Pratchett etwa gilt als der Erfinder der Scheibenwelt. Aber auch das Ich und sein Umfeld wie Familie, Freundeskreis, Partner, Arbeit, eine Gruppe, ein Kulturkreis, eine Gesellschaft können eine Welt bilden. Welt wirkt also im Kleinen wie im Großen. Sie beansprucht Totalität. In der Welt subsumieren sich andere Welten (der Plural von „Welt“ ist erst seit dem 16. Jahrhundert im Sprachgebrauch üblich), die parallel, gleichzeitig oder miteinander verbunden existieren, die sich durchdringen und aufheben, die neu geboren werden oder zugrunde gehen.
Eine für uns geografisch naheliegende und doch gefühlt ferne Welt hat die Keltologin Prof. Dr. Sabine Asmus den Interessierten im Haus des Buches Leipzig vorgestellt. „Keltische Anderswelten und das Leben nach dem Tod“ lautet der Vortrag, zu dem der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie im September 2018 unter dem Jahresthema „Welt der Mythen – Mythen der Welt“ eingeladen hat.
Die Kelten (griech. keltoí, lat. galli oder celtae) sind den meisten von uns durch die Geschichten des klugen Galliers Asterix, seines gewichtigen, Wildschwein essenden Gefährten Obelix und des Druiden Miraculix bekannt. Dabei haben die Comics der Franzosen René Goscinny und Albert Uderzo nicht nur Generationen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen begeistert, sondern auch die Erinnerung an jene Volksgruppe bewahrt, die den Kontinent Europa über Jahrhunderte geprägt hat.
Erstmals erwähnt werden die Kelten im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert von griechischen Geschichtsschreibern wie beispielsweise Herodot. Ihr Erbe ist noch heute zu finden. Archäologische Spuren führen nach Irland, Wales, Schottland, ins britische Cornwall oder in die Bretagne. Vergessen geglaubte literarische Glossen, verfasst in altirischer Sprache, kommen mehr und mehr bei der Untersuchung mittelalterlicher Pergamente mittels Lasertechnik ans Licht. Esoterik und Bewegungen wie Neo-Kelten, moderne Druiden oder die Wicca interpretieren über Musik, Kleidung und Rituale die paganen und christlichen Mythen neu und versuchen dabei auf jeweils eigene Weise, das Keltische und seine Welten nicht vergessen zu lassen.
Was aber unterscheidet nun die „Anderswelt“ der Kelten von der Welt, die wir „Welt“ oder „diese Welt“ nennen? Den Begriff „Anderswelt“ hat der römische Dichter Lucan (39-65 n. Chr.) in seinem Gedicht Pharsalia gebraucht. Von den Druiden, den geistigen Führern der Kelten, ist dort die Rede und den „orbe alio“ (wörtlich übersetzt: „den anderen Orten“). Damit ist gemeint, dass in der Vorstellung der Kelten der Tod nur als Teil eines langen Lebens gedeutet wurde und die diesseitige Welt aus diesem Grund ständig in Kontakt und Austausch mit anderen Welten steht. Diese anderen Welten können beispielweise „das Land der Lebenden“, „das Land der Frauen“, „das leuchtende Land“, „das Land der Jugend“, „das Land der Feen“ etc. sein. Und es ist nicht allein der Tod, der den Zugang dorthin ermöglicht. So gelangt man in die „Anderswelt“ über einen Baum (besonders geeignet dafür sind Eberesche, Eiche oder Haselnuss), über das Meer, über den Zugang eines Zeltes, das Klettern über einen Felsen, durch einen Riss im Boden, eine Bootsfahrt, auf dem Rücken eines Pferdes, durch einen Traum oder indem man einer Sau folgt. Die „Anderswelt“ gilt als Ort, an dem man Feen, Zwergen oder Göttern wie Dagda, Lugh oder Brigid begegnet. Man erhält dort Prophezeiungen oder kann mit einem Menschen aus der diesseitigen Welt den Platz tauschen. Auch Heilung von Krankheiten, Vergiftungen oder tödlichen Wunden ist möglich.
Eine besondere Bedeutung für die Kelten hat in diesem Zusammenhang auch der Kessel. Er steht für das Überleben der Gemeinschaft bzw. des jeweiligen Clans, weil in ihm Nahrung zubereitet wird. Zudem wird er mit weiblichen Uterus als Symbol der Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht.
Auf dem berühmten Gundestrup Kessel, der aus der sogenannten La-Tène-Zeit stammt, die vom 5. bis zum 1. vorchristlichen Jahrhundert datiert wird, ist indes ein „Anderswelt“-Mythos dargestellt. Genauer gesagt ein Initiationsritus. Eine große Figur taucht einen Mann, der offensichtlich einen verstorbenen Krieger symbolisiert (erkennbar an Schwert und Speer) in einen Kessel. Folgt man der Darstellung, erkennt man, dass die Vorgänger des Kriegers nach dem mythischen Tauchbad wieder zum Leben erweckt wurden und in die Schlacht ziehen. Die Szene symbolisiert damit den keltischen Zyklus von Tod und Wiedergeburt, in dem die „Anderswelt“ den Übergang von einem Ort zum anderen bildet, ja gewissermaßen garantiert.
Dies änderte sich mit dem zunehmenden Einfluss des Christentums. Infolge religiöser Missionierungen schlagen sich vermehrt Umdeutungen und Negativierungen in der keltischen Mythologie nieder. Die Eule, bei den Kelten mit Weisheit und Klugheit assoziiert, wird beispielsweise in der christlichen Vorstellung zum Vogel des Todes. Auch die Nacht, die eine wichtige Stellung bei den Kelten einnimmt – gilt sie doch als Zeit der Rituale (Mondkult), der Erholung und der Vermehrung – wird zunehmend mit Angst und Tod verbunden. In der christlichen Nacht gehen Teufel und Dämonen um. Nicht zufällig wurde das keltische Neujahrsfest (Samhain, Halloween) vom christlichen Allerheiligen- und Allerseelenfest überformt.
Der christliche Einfluss schlägt sich auch in der keltischen (hier vor allem der irischen und walisischen) Literatur nieder: Ein typisches Beispiel dafür ist die Geschichte von Blodeuwedd [blo’deiweð], der „aus den Blumen Geborenen“. Ihre Zeugung hatte den Zweck, dass sie dem Llew Llaw Gyffes als Gefährtin zur Seite gestellt sein sollte, da es diesem durch einen Fluch verboten war, eine menschliche Frau zu ehelichen. Eines Tages, als der Gemahl das Haus verlassen hatte, begegnet Blodeuwedd in den Wäldern einem jungen Mann, dem Jäger Goronwy Pybyr. Beide verlieben sich. Den keltischen Traditionen zufolge hätte ein nun folgendes geschlechtliches Dreierbündnis gesellschaftlich keine Probleme verursacht. Frauen genießen in den keltischen Clans hohes Ansehen. Bleibt der Nachwuchs nach der Vermählung innerhalb von drei Jahren aus, kann sich die Frau einen anderen Mann für die Zeugung der Nachkommenschaft suchen. In der „verchristlichten Variante“ der Blodeuwedd-Geschichte plant diese mit ihrem Verehrer nun allerdings den Tod des Ehemanns. Das Komplott scheitert jedoch. Llew Llaw Gyffes überlebt und tötet seinerseits den Nebenbuhler, während seine Frau zur Strafe in eine Eule verwandelt wird. Die Geschichte erhält also einen christlich moralisierenden Anstrich, obwohl sie Namen, Orte und Geschehnisse beibehält. Um die Missionierung zu erleichtern, ist die Assimilierung und Re-Interpretierung von Mythen und Geschichten ein probates Mittel. In gewisser Weise haben dieser Prozess und eine gehörige Portion Traditionsbewusstsein dazu beitragen, die keltischen Mythen und ihre Götter, Feen, Zwischenwesen und Namen bis heute zu bewahren. Und das mit Erfolg.
Nach wie vor übt die „Anderswelt“ auf die Menschen eine starke Faszination aus. Film, Fernsehen, Serien, Musik und neukeltische Strömungen transformieren, adaptieren und erklären sie jeweils auf eigene Weise.
Auch nach diesem fakten- und geschichtenreichen Vortrag sind noch längst nicht alle Fragen gestellt oder alle Antworten gegeben. Die „Anderswelt“, darin sind sich die Zuhörer im Haus des Buches einig, wird uns in naher Zukunft erneut einladen, in ihr einen Streifzug zu wagen.
Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweis:
Sabine Heinz. Symbole der Kelten. 4. Aufl. Schirner Verlag 2007.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.