American Gods – Der fantastische Roman als Spiegel der Seele

Die Analytische Psychologie nach C. G. Jung

American Gods, der Bestseller von Neil Gaiman, entführt den Leser in die Welt der Mythen und lädt damit eine Jungsche Analyse des Stoffes quasi mit offenen Armen ein.

Carl Gustav Jung, Begründer der analytischen Psychologie, dachte über die Psyche grundsätzlich holistisch nach und maß dem Mythos dabei erhebliche psychologische Bedeutung zu. Wohingegen modernere Therapieformen, wie die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), hauptsächlich darauf gerichtet sind, Symptome handhabbar zu machen, ging er davon aus, dass äußeren Fehlanpassungen innere Konflikte zugrunde liegen, die grundsätzlich befriedet werden können und im Mythos ihren Ausdruck finden. Im Unterschied zu dem Modell seines ursprünglichen Lehrmeisters und Kollegen Sigmund Freud, ist Jungs Modell weitgehend unpersönlich. Die eigene Historie, die in der Psychoanalyse nach Freud hinter den Störungen liegt, bildet in der analytischen Psychologie nur eine dünne Schicht, und den eigentlichen Kern des Pudels, kann man nur in Auseinandersetzung mit den sogenannten Archetypen aufspüren.

Die relevante Grundannahme ist, dass Mythen repräsentativ für innerpsychische Vorgänge und Phänomene stehen und nicht nur das Resultat von protowissenschaftlichen Versuchen einer primitiven Urherde sind, die vor dem Donner zuckend, einen menschenähnlichen Auslöser erdachte. Die Überlegung ist folgendermaßen: das äußere Phänomen hinterlässt einen Eindruck auf dem empfangende Subjekt, wodurch bereits vorhandene, innere Bilder wachgerufen werden, die dann auf das äußere Ereignis projiziert werden. Donnergott Thor ist demnach ein Abkömmling eines inneren Bildes, eines Archetyps, der intern in der Psyche wirksam ist aber den Gefühlen und Assoziationen, die ein Gewittersturm auslöst nicht unähnlich zu sein scheint.

Fundstücke eines Psychonauten

Was ein Archetyp nun wirklich genau ist, ist schwer zu sagen, da Jung den Begriff nie exakt definiert und dafür schrittweise in seinen Werken mit Bedeutung aufgeladen hat. Zunächst ist ein Archetyp eine Art Urbild, eine spontane Vision des inneren Auges, die dem Subjekt in Traum und Phantasiespiel zugänglich wird. Darüber hinaus scheint der Archetyp aber auch das zu sein, was hinter dem Bild liegt und dieses nur als Kommunikationsmittel benutzt. In diesem Sinne beschreibt Jung den Archetyp als eine Subpersönlichkeitsstruktur, die intelligent handelt und Wissen und Motivationen besitzt, die dem Bewusstsein (dem Ego) nicht direkt zugänglich sind. Als innere Mitbewohner sind Archetypen für alle Mitglieder unserer Spezies mehr oder weniger identisch und bilden damit die Akteure des Theaterstücks der conditio humana mit denen sich jeder Einzelne arrangieren muss.

Wer (A)rchetyp sagt, muss auch (B)egierde sagen, denn Archetyp und Instinkt sind genealogisch eng miteinander verwandt. So eng, dass Jungs Starschüler Erich Neumann sogar so weit ging, den Archetyp als das menschliche Pendant zum tierischen Instinkt zu bezeichnen. Demnach haben Tiere keine Probleme im eigentlichen Sinne, weil Tiere den Göttern (Archetypen und Instinkten) blinden Gehorsam leisten. Wir Menschen hingegen sind neurotische Äffchen, weil durch irgendein Wunder auf den verschlungenen Pfaden der Evolution das „Erfahrende Etwas“ begonnen hat sich selbst zu reflektieren und damit Bewusstsein geboren wurde. Durch diesen herzhaften Biss in den Sündenapfel findet die Geschichte ihren Anfang und damit, als Dimension des Handelns, auch die Moral. Wo vorher nur das zeitlose Erleben stand, rangelt man nun mit guten und schlechten Entscheidungen und hat so etwas kurioses wie „generalisierte Unzufriedenheit“- und mit zunehmender Entfremdung in einer entzauberten Welt, auch noch „Stress“. 

Ziel einer Jungianischen Psychoanalyse ist es, den Menschen wieder mit den Göttern zu versöhnen und die Einseitigkeit seiner bewussten Anpassung (Glaubensmustern) durch archetypischen Input zu erfrischen, ohne eigene Einseitigkeit durch archetypische Besessenheit zu ersetzen. Bei allem gebührenden Respekt muss es schließlich einen Grund dafür gegeben haben, dass Adam und Eva meinten, dass ein wenig Abstand der Beziehung ganz guttun würde (auch wenn Gott uns die Geschichte anders erzählt). Vielleicht war das Paradies ja einfach nur: „ok“ mit Luft nach oben.

Nehmen wir das griechische Pantheon als Landkarte für Jungs psychische Objektivitäten, erkennen wir, dass jedem Gott eine spezifische emotionale Domäne zugeordnet wird, ein Motiv oder Themenkreis, der den Herrschaftsbereich des Archetyps absteckt. Archetypen sind demzufolge in gewisser Weise engstirnig und fokussiert auf eine überschaubare Objektmenge. Ebenfalls aus der griechischen Mythologie wissen wir, dass die Götter nicht direkt für ihre weitreichende Vernunft und Beherrschtheit bekannt sind und ebenso wenig als Musterbeispiel für eine glückliche, harmonische Familie genommen werden können.

Um einem Krieg aller gegen aller zu entkommen, a battle of wills, gibt es eine psychische Funktion, die Jung als Archetyp des Selbst identifiziert hat und deren spezifisches Verlangen es ist, alle anderen Triebe miteinander in Einklang zu bringen. Der Held, halb menschlich, halb göttlich, ist ihr Gefäß und dazu bestimmt oftmals einen frühen Tod zu erdulden, denn sobald er das Ziel erreicht hat, also eine stabile Konstellation von Außenwelt, Ego, und Triebwelt herzustellen, transformiert er sich in den König (oft ausgedrückt in einer anderen Person), der symbolisch für eine ordnende Struktur steht.

Archetypische Hermeneutik

Wenn Träume Botschaften aus dem Reich der Archetypen sind, Mythen kristallisierte Träume und Religion kodifizierter Mythos, dann ist der fantastische Roman moderne Offenbarung und sein Autor faszinierter Alchemist und Prophet zugleich. Bei Geschichten in denen Götter und Helden, Magie und Fabelwesen, Königreiche und Handlanger eines diffusen „Bösen“ auftauchen, kann man generell vermuten, dass es sich um bildliche Darstellungen unbewusster Vorgänge und Phänomene handelt. So auch bei Gaimans „American Gods“. Dabei wendet sich der archetypische Blickwinkel gegen eine Interpretation, die versucht dem Schriftsteller zu viel bewusste Symbolik und Konstruktion zu unterstellen. Der ganze Spaß an der Sache ist eben, dass der Urheber oft selbst nicht weiß, was er genau produziert, sondern dass er vielmehr auch den Handlungen seiner Charaktere folgt und das Schreiben der Geschichte ebenso ein Abenteuer ins Unbekannte ist, wie sie zu Lesen. Die Frage ist nicht „Was wollte uns der Künstler damit sagen?“, sondern: „Was wollte sein Unbewusstes ausdrücken?“. Auf Basis der kollektiven Natur des Unbewussten hat der Roman damit in letzter Konsequenz auch kommunikativen Wert für den Leser.

Amerikanische Götter

Die Welt von Shadow, dem Helden von American Gods, dreht sich nach dem tragisch/komischen Tod seiner Frau und seiner zeitgleichen Entlassung aus dem Gefängnis langsam aber sicher auf den Kopf. Mythische Wesenheiten, allen voran Mr. Wednesday als nordische Gottheit Wotan, beginnen sich für ihn zu interessieren und ziehen ihn in Streitigkeiten, die mit ihm persönlich eigentlich gar nichts zu tun haben. Oder etwa doch?

In ihrem Krieg geht es um Macht und Einfluss bestehend aus einer ausgewogenen Zufuhr von menschlichem Zutrauen. Damit die Archetypen genug Stärke haben, um als quasi-reale Entitäten in der materiellen Welt wirksam werden zu können, benötigen sie Menschen, die genügend an sie glauben. Denn wer an etwas glaubt, hat zwischen sich und dem geglaubten Objekt keine trennenden Bannkreise und versorgt es mit Libido, der universellen psychischen Energie in Jungs System.

Dabei kämpfen alte Götter, die man aus der Mythologie bereits kennt, gegen neue Götter, die in ihrer Erscheinungsform die Errungenschaften und Versuchungen des Informationszeitalters widerspiegeln. Die weibliche „Media“ und der „Technologische Junge“. Beide enthalten in ihrer Typologie Elemente, welche der Jungsche Analyst und Autor Robert Moore zum archetypischen Komplex des „Drachen der Grandiosität“ fassen würde. Dieser in den Tiefen des kollektiven Unbewussten schnaubende Drache, ist ein psychologischer Trieb sui generis, welcher immer weiter hinauswill, der bestrebt ist, mehr aus dem Individuum herauszuholen, als was er bereits manifestiert hat und der sich niemals mit dem bereits Erreichten begnügen kann. Als Schlange ist er vielleicht sogar jene lichtbringende, luziferische Kraft, die den Menschen ursprünglich zur gotteslästerlichen Reflexion anstiftete und als Prometheus dafür von anderen archetypischen Kräften bestraft und gebunden wurde.

Auf seinem Weg der innerlichen Reife muss sich Shadow mit allerlei rumschlagen, unter anderem mit dem Trickster Mad Sweeney, welchen er schließlich besiegen wird. Zwischen Trickster und Held besteht generell eine innere Affinität, ausgedrückt in dem Bedürfnis nach Freiheit und Handlungen, die von außen betrachtet, durchaus als regelwidrig aufgefasst werden können. Allerdings ist der Held bestrebt ein dysfunktionales System durch ein funktionales zu ersetzen, er ist also nicht per se in Konflikt mit dem Konzept von Ordnung und Struktur. Der Trickster hingegen agiert oft willkürlich und anarchistisch: vollständige, menschliche Schwäche und Hilfsbedürftigkeit ignorierende Autonomie ist sein Ziel. Er treibt Schabernack um des resultierenden Chaos willens, und baut sich mit all seinen Gruben letztlich selbst die größte. Dennoch ist er als Champion der Passiv-aggressiven auch Vorbote des Helden, denn wilde Kritik und Unzufriedenheit haben ihren Grund, und obwohl er nicht die Mittel hat die Situation zu transformieren, repräsentiert er die Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft.

Die Suche nach Frieden

In der holistischen Lesart werden alle magischen Begegnungen die Shadow macht, als innerlich zu ihm gehörig begriffen und damit auch zur Psyche des Autors, wobei der Held der Teil von ihm ist, der sich dem Problem stellt und es lösen will. Das Ziel seiner Reise soll es sein den göttlichen Konflikt zu bereinigen und in gewisser Weise „er selbst“ zu werden, indem er sich mit seiner Seele verbindet: Shadows Ehefrau Laura hat ihr irdisches Leben zwar ausgehaucht, taucht aber wenig später als Untote wieder auf und Shadows zweite Mission besteht darin, sie wiederzubeleben. Laura repräsentiert dabei einen weiteren Archetyp, den der Anima beziehungsweise Seele. Anima und Animus hypothesierte Jung als die inneren Botschafter von allen gegengeschlechtlichen Aspekten in der Persönlichkeit, welche das Individuum nicht vollständig integriert oder anerkennt. Gleichzeitig steht die Anima für den Mann (der Animus für die Frau) als Mittler zwischen der Gesamtheit der Archetypen und dem Bewusstsein per se und ist mit der harmoniestiftenden Funktion des Selbst verbunden.

Der größte Feind der Harmonie ist singulärer Fokus, also die Lieblingsbeschäftigung des einzelnen Archetyps (Minus dem Selbst). Ebenso kann der Ausschluss von unliebsamen Persönlichkeitsaspekten niemals zum Ziel führen, was Shadow in permanenten Auseinandersetzungen mit seinem eigenen Schatten erlebt. Sogar die Heldenreise als solche ist eine archetypische Funktion und kann die Persönlichkeit über Gebühr dominieren und strapazieren, weswegen der Held am Ende die Bühne verlassen muss und nur in seinem Werk fortbesteht. Auf den Menschen bezogen bedeutet das Ende der Heldenreise einen Tod und einen Neuanfang. Da die Jungsche Psychologie der Ganzheit verpflichtet ist, hat alles seine Zeit und seinen Ort und die einzige Konstante des Selbst, ist sein beständiger Wandel. Äußere und innere Umstände ändern sich, permanente Neuanpassungen sind notwendig und wo jedes Königreich einen neuen Helden ausschickt und jeder Held das Königreich erneuert, wird eine Zeit kommen, in der auch der neue Regent abdanken muss. Le roi est mort, vive le roi.

Mehr sei an dieser Stelle auch nicht über den Roman verraten, nur noch so viel: wenn man sich die Jungsche Lesebrille aufsetzt, lohnt es sich die drei folgenden Grundannahmen präsent zu halten: a) alle Charaktere sind Teil einer psychische Gesamtheit und stehen in einem kommunikativen Prozess b) psychische Energie wird transformiert und stärkt oder schwächt Archetypen, je nachdem ob sie von den Komplexen abgezogen oder zugeführt wird und schließlich c) alles transformiert sich, nichts vergeht oder besteht für immer.

Eine vollständige Analyse des Romans (auf Englisch), ist demnächst auf der Verlagsseite „edition vulcanus“ der Homepage zu finden.

Ein Beitrag von Sebastian Helm


Literaturhinweis:

Neil Gaiman. American Gods. A Novel. Haper Collins, New York, 2001.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .