„Leicht ist der Abstieg zur Unterwelt“ – Eine mythische Reise unter Tage

Der Begriff „Unterwelt“ weckt in uns verschiedenste Assoziationen. Manch einer verbindet damit etwas Düsteres, Kriminelles; eine Parallelwelt, in der Menschen leben und wirken, die sich einen eigenen Raum fernab gängiger Normen und Gesetze geschaffen haben. Für andere bedeutet „Unterwelt“ ein Ort unter Tage, fernab vom Licht, bedrückt von Enge und Mangel an frischer Luft, wie es über Jahrhunderte lang im Kohle- und Erzbergbau der Fall gewesen ist. Die „Unterwelt“ ist also eine räumliche Abgrenzung von der Welt, die wir kennen, die den Besucher mit besonderen Begebenheiten und Ansprüchen konfrontiert. In kultureller und mythischer Deutung ist sie auch die Welt, in der die Seelen der Verstorbenen nach dem Tod einziehen und leben, ein Reich, das für den Sterblichen verschlossen bleibt. Sie ist eine Vorstellung, ein Konstrukt, das wir uns in Geschichten und Legenden imaginieren und bevölkern. Vielleicht, um uns dadurch unsere Angst vor dem Dunkeln (und die Unterwelt wird mit Dunkelheit per se in Verbindung gebracht), dem Unbekannten, dem Unterbewussten in uns selbst und in unserer Umwelt einen Ausdruck zu verleihen. Vielleicht auch, um uns das Wissen um den Tod, der letzten Schwelle zum Unbekannten, die uns allen vorherbestimmt ist, erträglicher zu machen. Der Begründer der analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung (1875-1961), hat die „Unterwelt“ mit den sogenannten Mutterarchetypen in Zusammenhang gebracht; das Gebärende, Fruchtspendende und Leben bringende einerseits, schließt andererseits das Geheime, das Finstere, Todbringende und Abgründige wie in einem Kreislauf mit ein. Oder, wie es die Alchemisten, ausgehend von ihrer mythischen Schrift, der Smaragdtafel des Hermes Trismegistos, auszudrücken wussten: Das Oberen ist das Untere. Das eine existiert nicht ohne das andere. Das passt in die dualistische Vorstellung, die dem Menschen zu eigen ist, man denke da an Gut und Böse, Groß und Klein, Laut und Leise, Himmel und Hölle, Schwarz und Weiß etc. Und so muss es – fast zwangsläufig – neben der Oberwelt auch einen Ort jenseits davon geben.

Denkt man die „Unterwelt“ als einen Ort, ist es auch möglich, diesen – zumindest imaginär – zu bereisen, was Höllenfahrt oder Unterweltreise (katábasis, griech.
κατὰ „unten“ and βαίνω „gehen“ ) genannt wird. In den Mythologien von Griechen, Römern und des alten Orients sind es die sogenannte Nekyia, die in der Lage sind das Reich der Toten zu betreten. Dabei handelt es sich immer um „Auserwählte“, meistens Götter wie Inanna und Ishtar oder Heroen wie Herakles, Aeneas (dem Mythos nach gezeugt von Aphrodite) und Theseus, hin und wieder auch Sterbliche wie Odysseus oder Orpheus. Sogar Christus soll zwischen Kreuztod und Auferstehung in die Hölle hinabgestiegen sein, um die Seelen der Gerechten zu befreien. (1. Petrus 3, 19 und Epheser 4, 9)

Wörtlich übersetzt bedeutet „Nekyia“ (griechisch: νέκυια) „Totenopfer“ oder „Totenbeschwörung“ und geht auf Homers „Odyssee“ zurück, wo es heißt:

„Aber nun eilt‘ ich, und zog das geschliffene Schwert von der Hüfte;
Eine Grube zu graben, von einer Ell‘ ins Gevierte.
Hierum gossen wir rings Sühnopfer für alle Toten:
Erst von Honig und Milch, von süßem Weine das zweite,
Und das dritte von Wasser, mit weißem Mehle bestreuet.
Dann gelobt‘ ich flehend den Luftgebilden der Toten,
Wann ich gen Ithaka käm, eine Kuh, unfruchtbar und fehllos,
In dem Palaste zu opfern, und köstliches Gut zu verbrennen,
Und für Teiresias noch besonders den stattlichsten Widder
Unserer ganzen Herde, von schwarzer Farbe, zu schlachten.
Und nachdem ich flehend die Schar der Toten gesühnet,
Nahm ich die Schaf‘, und zerschnitt die Gurgeln über der Grube;
Schwarz entströmte das Blut: und aus dem Erebos kamen
Viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten. “

(Odyssee, 11. Gesang, Vs. 29-37)

Es muss also ein Tribut geleistet werden (im Fall von Odysseus Trank- und Tieropfer), will man die Unterwelt (hier den Hades) betreten. Denn von den dort lebenden Seelen und Geistern erhoffte man sich Rat, eine Auskunft über die Zukunft oder das Wissen, wie der Tod überwunden werden kann. So prophezeit der Geist des blinden Propheten Teiresias, das weitere Schicksal des Odysseus und seiner Gefährten, u.a. dass er auf der Insel Thrinakia die Rinder des Helios nicht verletzen dürfe und am Ende der Irrfahrten allein nach Ithaka zurückkehre würde.

Auch im 6. Buch der „Aeneis“, gewissermaßen dem römischen Nationalepos, welches der römische Dichter Vergil (70 v. Chr. – 19 v. Chr.) in zehnjähriger Arbeit verfasste, begibt sich der aus Troja stammende Aenas mit Hilfe der Sibylle von Cumae, einer Priesterin, die dem Orakel von Cumae (nahe Neapel) vorstand, in die Unterwelt, wo ihm der Geist seines Vaters Anchises die Gründung Roms sowie den Aufstieg Roms zur Weltmacht prophezeit.

„Ja, als Begleiter dem Ahn schließt dort der mavortische Spross sich
Romulus an; ihn erzieht aus Assarakos‘ Blute die Mutter Ilia.
Siehst du ihn wohl, wie vom Scheitel der doppelte Strahl flammt?
Schon mit dem ehrenden Schmuck ihn der Vater der Götter bezeichnet?
Seiner geheiligten Macht dankt Roma es, die erlauchte,
Dass ihr Reich einst über die Welt, ihr Mut zum Olymp reicht.“

(Aeneis, Buch 6, Vs. 777-782)

Das Buch über Aeneas‘ Unterweltfahrt umfasst im Ganzen 901 Verse und veranschaulicht, dass dieses Reich ein komplexes Gefüge aus Landschaften, aber auch Personen (Götter, Helden und Ahnen) ist, eine Welt abseits der „Welt“ und doch ein Teil davon.

Die griechische Unterwelt kennt Erebos, Orcus und Hades (alle drei nach Totengottheiten benannt) als eigenständige Bereiche. Zudem existiert der Tartaros als eine Art Hölle unter der Hölle, angeblich so tief, dass ein Amboss, der von der Erde hinabfällt, neun Tage braucht, ehe er das Ende erreicht hat (Hesiod, Theogonie, Vs. 722-725). Im Gegensatz zur übrigen Unterwelt ist der Tartaros den Strafen und ewigen Qualen vorbehalten. Die gesamte Unterwelt der griechischen Mythologie wird von den Flüssen Styx und Acheron von der Oberwelt getrennt. Daneben gibt es noch andere Flüsse, die den Hades (zur Erleichterung sei fortan dieser Begriff verwendet, weil er von allen der geläufigste ist) durchkreuzen, u. a. Lethe (der Fluss des Vergessens) oder Pyriphlegethon, ein Fluss, welcher niemals erlöschende Flammen anstelle von Wasser führt. Der Fährmann Charon am Unterweltfluss Acheron (oder Styx) ist eine der bekanntesten Unterweltgestalten. Seine Aufgabe ist es, die Seelen der Verstorbenen mit seinem Boot in den Hades zu tragen. Um dies zu gewährleisten, muss der Tote dem Fährmann seinen Lohn in Form von Münzen, dem sogenannten Obolus bezahlen. Die Lebenden haben daher Sorge zu tragen, dass diese Bezahlung bei der Bestattung gewährleistet wird. In seiner Göttlichen Komödie beschreibt der Dichter Dante Alighieri (1265-1321) die Szene folgendermaßen:

„Dann sammelten sich alle, die dort kamen.
Laut weinend an dem niederträchtigen Strand,
Der aller harrt, die schmähen Gottes Namen.

Charon, der Dämon mit den Augen Brand,
Versammelt sie, ein Zeichen gebend allen:
Schlägt mit dem Ruder, wer nicht kommt gerannt.“

(Hölle, III. Gesang)

Der Hades war durch eine Kluft mit der Oberwelt wie über eine Art Brücke verbunden, die man angeblich am Ende der Welt (am Ufer des Okeanos) oder im Heiligtum der Göttin Demeter in Eleusis (laut der Geographica des Dichters Strabon) finden konnte. Ursprünglich war der Hades für alle Verstorbenen gleich, die dort als Schatten mehr oder weniger ihr Dasein fristeten. Später gab es die Totenrichter (Aiakos, Minos und Rhadamanthys), die über die Seelen entschieden. Entweder gingen sie ein in den Fluss Lethe oder sie kehrten ein ins Elysion (die griechische Variante vom Paradies). Sünder und Frevler wurden dagegen zu ewiger Strafe in den Tartaros verdammt. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Vorstellungen der griechischen Unterwelt die christliche Mythologie und ihr Verständnis von Erlösung und Verdammnis mitgeprägt haben dürften.

Aber kommen wir noch einmal auf ein paar unterweltliche Details zurück. Ebenso wie in der griechischen Unterwelt, waren auch Niflheim und Helheim, die Unterwelten der nordischen Mythologie, von einem Fluss umgeben. Dieser wurde von einer goldenen Brücke überspannt, die Diesseits und Jenseits miteinander verband. Bewacht wurde sie vom Riesen Modgudr oder (in einer anderen Version) vom Höllenhund Garm (die Parallele zum griechischen Höllenhund Kerberos liegt hierbei mehr als nahe). Allerdings gelten Helheim oder Niflheim nicht als Orte der Strafe oder Verdammnis. Die Seelen lebten hier, der mythologischen Vorstellung nach, einfach fort, ohne unter die Lebenden zurückkehren zu können. Bei den Nordgermanen ist außerdem Walhalla ein eigenständiges Totenreich, das nur von den Seelen gefallener Krieger bewohnt wird.

In der Mythologie des alten Mesopotamien kannte man die Unterwelt als Kurnugia oder „Land ohne Wiederkehr“. Auch dieses war von einem Fluss, dem Hubur, umgeben. Zudem besaß es sieben Tore. In der griechischen Unterwelt finden wir statt Toren nur einen Eingang, der vom Höllenhund Kerberos bewacht wird, während in der nordischen Mythologie wiederum das Höllentor Hellgrind am Ausgang der goldenen Weltenbrücke stand. Dem Höllentor hat wiederum Dante das wohl einmaligste literarische Denkmal überhaupt gesetzt.

„Durch mich gelangt man zu der Stadt der Schmerzen,
Durch mich zu wandellosen Bitternissen,
Durch mich erreicht man die verlorenen Herzen.


Gerechtigkeit hat mich dem Nichts entrissen;
Mich schuf die Kraft, die sich durch alles breitet,
Die erste Liebe und das höchste Wissen.

Von mir ward nichts Geschaffenes bereitet,
Nur ewiges Sein, so wie ich ewig bin,
Lasst alle Hoffnung, die ihr mich durchschreitet.“

(Hölle, II. Gesang)

Wirft man einen Blick über den Atlantik und in die Mayareiche von Mittelamerika, findet sich erneut Erstaunliches. Die Maya kannten die Unterwelt als Xibalbá, was so viel wie „Ort der Angst“ bedeutet. Sie besaß neun Stufen und war (bis auf Geopferte oder Frauen, die im Kindbett starben) für alle Verstorbenen gleich. Die Totengötter (mit wenig freundlich klingenden Namen wie „Schädelstab“ oder „Blut ist seine Klaue“) erlegten den Seelen Aufgaben und Prüfungen auf. Nur wer diese bestand, Kämpfe zu seinen Gunsten ausfocht oder zahlreiche Leiden überstand, durfte Xibalbá verlassen und war würdig, zu den Göttern aufzusteigen. Auch, wenn der Vergleich ein wenig weit hergeholt anmutet, findet sich der Gedanke an einen Ort des Leidens der Seelen (und deren Läuterung) in den seit dem 6. Jahrhundert n. Chr. und schließlich ab dem 12. Jahrhundert gängigen, christlichen Vorstellungen des Fegefeuers wieder. Im Fegefeuer sollte für die Sünden des Lebens gebüßt werden, um nach erfolgreicher Buße in den Himmel und das Reich Christi aufzusteigen.

Dante Alighieri hat (mit Ausnahme der transatlantischen Mythologien) die Unterweltvorstellungen des Abendlandes und, indirekt, auch die des Morgenlandes aufgegriffen und seine eigene Jenseits- oder Unterweltsreise erschaffen. Eine Reise durch die Hölle, das Fegefeuer bis ins Paradies. Die christliche Prägung ist – Dante schrieb ab dem Jahr 1307 – unverkennbar. Ist es ein Weg der Erlösung, den er damit paradigmatisch legen wollte? Ist es seine Liebe oder man kann sagen, Besessenheit, für Beatrice Portinari gewesen, die ihn beflügelt hat? Nicht zufällig wird er Vergil, den Vater der „Aeneis“, als „Unterweltführer“ durch Hölle und Fegefeuer gewählt haben. Nicht nur mit ihm, sondern auch mit all den anderen mythologischen Gestalten und Geschichten, hat Dante die antiken Unterweltdarstellungen und Unterweltreisen lebendig gehalten und auf seine eigene Weise der Nachwelt ins Gedächtnis geschrieben. „Facilis descensus Averno“ – „Leicht ist der Abstieg zur Unterwelt“, hat es der eben erwähnte Vergil einst beschrieben und damit metaphorisch vielleicht auch auf den Lago d’Averno angespielt, wo er selbst den Übergang zur Unterwelt vermutete.

Es gibt noch viele Unterwelten zu entdecken, sowohl die in den Kulturen und Mythologien der Welt als auch die in uns selbst und jene, die uns nach einem (hoffentlich) langen Leben erwarten. Darum sollten wir immer eine Münze bei uns tragen und die Aussicht auf eine Reise nicht scheuen.

Beitrag von Dr. Constance Timm

Literaturhinweise:

Dante Alighieri. Die göttliche Komödie. Wilhelm G. Hertz (Übersetzung). 12. Aufl. München 2001.

Hesiod. Theogonie. Otto Schönberger (Übersetzung). Reclam: Stuttgart 2014.

Homer. Odyssee. Johann Heinrich Voß (Übersetzung). Hamburg 2017.

Vergil. Aeneis. Wilhelm Hertzberg (Übersetzung). 2. Aufl. Berlin 2016.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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