Vom Aufstieg der Raum- und Zeitmaschinen – Wie Jules Verne und H. G. Wells das Netz und die Beschleunigung erträumten – Teil 2

Die Raumzeit des H.G. Wells

Das Reisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewegt sich jedoch auch in andere Dimensionen. Vernetzung ist eben ein raumzeitliches Phänomen, und so wird auch das Fahren in der Zeit erstmals thematisiert. Die erste Gebrauchsanweisung für eine Maschine, mit der man durch die Zeit reisen kann, schrieb bekanntlich H.G. Wells mit The Time Machine von 1895, auch wenn schon vor ihm das Prinzip Zeitreise bekannt war. Darin wird erstmals eine Art Raumzeitkonzept vorgelegt. Der Zeitreisende macht die Zeit als vierte Dimension wie die anderen räumlichen Dimensionen nutzbar und reist auf dieser Achse in die Zukunft. Er bezieht sich auf eine neuartige Geometrie, auf Forschungen der Physik und Mathematik und erwähnt, dass er ein Modell seiner Maschine einmal in Tübingen gesehen habe. (Er könnte sich vielleicht auf eine Rechenmaschine bezogen haben, die dort Anfang des 17. Jahrhunderts Wilhelm Schickard gebaut hatte.) Vernetzung bedeutet von nun an auch, Zeiten und Epochen in Kontakt zu bringen, und zwar mit einem bemerkenswerten, eigens dafür konstruierten Verkehrsmittel, einer Mischung aus Pegasus und Fahrrad. Seinen viktorianischen Zeitgenossen kann der Time Traveller somit Bericht geben über die Zustände Londons und Englands im Jahre 802 701. Umgekehrt konfrontiert er seine Gastgeber in der Zukunft mit seiner eigenen, viktorianischen Mentalität und den technischen Möglichkeiten seiner Epoche. Wir erfahren auch von seiner letzten Reise an den Rand der Erdzeit und sind somit Zeugen einer extremen zeitlichen Vernetzung. Man muss dazu anmerken, dass die vierte Dimension zu Wells’ Zeit hauptsächlich als vierte räumliche Dimension gesehen wurde. Einer der ersten, der über die Verzeitlichung dieser Dimension nachdachte, war der Leipziger Physiker und Psychologe Gustav Theodor Fechner. In seinem Traktat „Der Raum hat vier Dimensionen“ definiert er diese vierte Dimension als die, durch die der Raum sich selbst bewegt, und das ist die Zeit:

„Die Bewegung unsers Raums von drei Dimensionen durch die vierte, von welcher Bewegung wir aber auch nur das zeitliche Element und die Veränderung, welche erfolgt, wahrnehmen.“ (Fechner) Fechner lässt in seinem Gedankenexperiment das Leben als Balken erscheinen, auf dem jedem Augenblick eine Scheibe entspricht. Diese stellt die Momentaufnahme eines Menschen dar, während der Balken die Dauer verkörpert, die diese Momente aneinander bindet und ihnen eine Zeitgestalt gibt.

Das Spiel mit Raum und Zeit, das durch die nicht-euklidische Geometrie eines Gauß, Riemann oder Lobaschewsky ermöglicht wurde, erreichte bald die Künste. Wells selbst wechselte zwischen Vorstellungen der vierten Dimension als Zeit oder Raum. In „The Plattner Story“ zum Beispiel ist die vierte Dimension als eine räumliche Parallelwelt konstruiert. Sein Zeitgenosse Edwin Abbott Abbott stellte sich in seinem satirischen Roman Flatland von 1884 eine zweidimensionale Welt vor: Wie würden dort zeitliche Vorgänge aufgezeichnet? In der dritten Dimension vielleicht? Solche Fragen trieben Autoren und später auch Künstler wie Malevich, Kupka oder die Kubisten um.

Mit seiner Zeitmaschine befand sich Wells also in bester Gesellschaft. Der Ausgriff auf die Zeit, ihre Manipulierbarkeit, die ja das entstehende Kino bewies, bedeutete die Überwindung weiterer Grenzen für eine Vernetzung der Welt. Wells gelang es in vielen seiner Werke, die räumliche und zeitliche Dimension im Sinne einer globalen Ausdehnung des modernen Subjekts, der Gesellschaft und Technik zu gestalten. Globalisierung bedeutete in seiner Zukunftsforschung, die er in Büchern wie Anticipations (1901) niederlegte, in erster Linie Bildung und Erziehung der Menschheit und technischer Fortschritt. Anders in seinen Fiktionen. In ihnen scheint er viel stärker seinem Hang zum Pessimismus gefrönt zu haben. 1898 erschien ein Werk, das man als Probelauf des Ersten Weltkriegs ansehen könnte und das schon vom Titel her diesen antizipiert: The War of the Worlds. Mit diesem Buch wird bekanntlich der erste große Angriff von Aliens auf die Erde geprobt – eine Vorlage für viele andere Bücher und Filme, die da noch kommen sollten, wie zum Beispiel Independence Day. Wells prägte damit das Bild des bedrohlichen Außerirdischen für Generationen.[1] Diese Wesen sind in seinem Fall Marsianer, deren Nahrungsreserven auf dem Heimatplaneten zur Neige gehen und die deshalb auf frisches Blut angewiesen sind. Der Graf Dracula hat somit seine wahren Erben gefunden, die auch noch kosmisch unterwegs sind. Der Überfall auf England und die Erde wird am Ende gestoppt, und zwar von den kleinsten Gegnern, die man sich denken kann, nämlich Bakterien. Diese hatten die Marsmenschen in ihren Simulationen nicht vorgesehen und so wird die Erde als Ganzes noch einmal verschont.

Der Roman ist für unsere Fragestellung insofern relevant, als er Zeit und Raum zusammenbringt. Die Marsianer sind wir selbst in einem fortgeschrittenen Zustand, sie sind unsere Zukunft, nach allem was die Viktorianer berechnen konnten. Wells selbst hat sich in mehreren Artikeln mit dieser Frage beschäftigt: Wie wird der Mensch in einer Million Jahren aussehen? Das Ergebnis solcher Spekulationen sind die Marsianer mit ihren großen Hirnen, Tentakeln und Hitzestrahltechnologie. Hier stoßen also zwei Zeitwelten aufeinander: Gegenwart und Zukunft. Die Zukunft versucht die Gegenwart metaphorisch und wörtlich aufzufressen, wird aber letztlich daran gehindert. So versucht Wells selbst ja mit seinen Zukunftsromanen die eigene Wirklichkeit nicht nur zu spiegeln, sondern auch zu zerstören, oder Vernichtung anzudrohen. Mit The Time Machine erhält die Zukunft Zutritt in den Alltag der Viktorianer, allerdings ist der Reisende noch ein Einzelner. In The War of the Worlds kommt es jedoch zu einem Krieg zwischen Zeitwelten (und den Raumwelten ohnehin). Der Druck der marsianischen Invasion löst zum einen gesellschaftlichen Zerfall, Panik und Massenflucht aus, zum anderen aber entsteht für einige der Akteure erstmals die Notwendigkeit, sich als Erdbewohner zu verstehen und gegen den Feind zu einigen. Die Globalisierung wird so von außen erzwungen. Einer der größten Schocks für den Erzähler besteht darin, sich einer überstarken Intelligenz gegenüber zu sehen. Das Geheimnis ihrer Stärke aber liegt in der Vernetzung der Marsianer. Sie kommunizieren von Gehirn zu Gehirn und scheinen eine Art Schwarmintelligenz zu bilden.

Schwarmintelligenz und Welthirn

Dass Wissen und Intelligenz sich über den Einzelnen mit einer Gruppe verbinden müssen, um erfolgreicher zu sein, ist eine Erkenntnis, die sich außerhalb der Tierwelt unter Menschen spätestens in der Aufklärung bildete. Schließlich sollte die französische Enzyklopädie von d’Alembert und Diderot das Wissen der Welt zusammentragen und für eine große Mehrheit verfügbar machen. Mit der Medienvernetzung um 1900, die Telegraphie, Radio und Kino zusammenbrachte, wurden diese Gedanken auf ganz neue Weise technologisch umsetzbar. So ist es kein Wunder, dass Denker auftreten, die ein sogenanntes Weltgehirn oder World Brain konzipierten. Der sächsische Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald war einer von ihnen; er beschäftige sich mit einer Weltsprache, einem Weltbund und einem Weltgehirn (Krajewski 64-140). Der Russe Wladimir Iwanowitsch Wernadski (1863-1945) sah ein sich selbst organisierendes Weltgehirn voraus. Auch H.G. Wells befasste sich mit einem World Brain. Er glaubte an die Möglichkeit der Vernetzung allen vorhandenen Wissens auf der Erde und seiner Zusammenführung in Wissenszentren. Technisch gesehen stellte er sich eine gigantische Microfiche-Speicherung vor, die für alle abrufbar wäre. Computer waren ihm noch unbekannt, aber Wikipedia als zentrale und möglichst überall zugängliche Wissenssammlung hat er doch erahnt. Arthur C. Clarke griff Wells’ Gedanken auf und sah sein Konzept zweistufig: zunächst Bildung einer Weltbibliothek, dann etwa ab 2000 eines Supercomputers, der das gesamte Wissen der Welt im Sinne künstlicher Intelligenz in Zusammenarbeit mit den Menschen aktiv vernetzen und nutzbar machen würde. Der SF-Autor glaubte, dass die Vollendung eines solchen Welthirns um 2100 eintreten würde.[2]

Auch politisch warb Wells sein Leben lang für Vernetzung und damit Schwarmintelligenz. So war er einer der Urväter des Völkerbundes, dem Vorläufer der UNO. In einem weiteren Roman, The First Men in the Moon (1901), zeigt er uns einen Mond, der von einem Superhirn regiert wird. Alle Mondbewohner sind arbeitsteilig tätig für dieses Gehirn. Der Mond ein einziger Organismus – das könnte nach Wells auch ein Vorbild für die Erde werden.

Einer von Wells’ Schülern, der  Science-Fiction-Autor Olaf Stapledon (1886-1950), entwarf in seinen Büchern kosmische Szenarien von Schwarmintelligenz, die weit über die Erde hinausgehen, sowohl räumlich als auch zeitlich. In seinem Klassiker Star Maker (1937) werden ganze Galaxien zu intelligenten und fühlenden Wesen. Der Sinn des Universums scheint damit in einer zunehmenden Selbst-Bewusstwerdung zu liegen, das metaphorisch gesprochen das Urlicht ist, auf das alles Sein zustrebt, bei Stapledon der „Sternenschöpfer“ genannt. Wir erreichen hier theologisch-religiöse Dimensionen des Vernetzungsmythos, obwohl die Verfechter und Betreiber dieser Idee zumeist Atheisten oder Agnostiker waren. Dennoch scheinen gerade sie einer sakralen Programmierung unterworfen zu sein, die erst im größeren Zusammenhang und über größere Zeiträume hin sichtbar wird. Es gibt aber auch Protagonisten, die explizit eine religiöse Richtung der Idee verfolgt haben. An erster Stelle wäre der Jesuit und Evolutionsbiologe Teilhard de Chardin zu nennen. Dieser sah in der technischen Entwicklung des Menschen eine Tendenz zur Selbstbewusstwerdung, die schließlich universale Züge annehmen würde. Demnach würde durch die technisch-elektronische Vernetzung die Erde selbst zu einem denkenden Planeten, der von einer sogenannten Noosphäre (von gr. nous – erkennen) umhüllt wäre. Die planetarische Geistigkeit wäre in christlicher Terminologie die Wiederkunft Christi, die Parusie (Chardin 1940). Aus einer stärker ökologischen Sicht nahm man in den 1960ern den Planeten erstmals als lebendigen Organismus wahr. James Lovelock und Lynn Margulis setzten den Begriff der „Gaia Hypothese“ in Umlauf. Der Rückgriff auf die griechische Erdgöttin Gaia stellte sozusagen die technisch-wissenschaftliche Einholung der mythologischen Wahrheit dar.Denkbar war dies nur aufgrund der neuen Satellitentechnik und der Raumfahrt insgesamt, durch die die Menschheit den Planeten als ein pulsierendes, atmendes Wesen zu sehen begann, das nach eigenen Rhythmen und mit einer eigenen ‚Intelligenz’ lebte. Intelligenz bedeutet hier soviel wie Selbstorganisation durch Rückkopplung. Erstmals wurde die Abhängigkeit des Menschen von diesem Organismus sichtbar gemacht. In populären Darstellungen sollte bald eine spirituelle Vereinnahmung stattfinden – nicht zuletzt angeregt durch das mythische Modell –, von der sich die Wissenschaftler jedoch stets fern hielten (Lovelock 1991). Religiöse und teleologische Implikationen lehnten die Entdecker dieser Hypothese ab.

Ein Denker, der dem religiös-teleologischen Konzept des Jesuiten Teilhard de Chardin zumindest eine Zeitlang nahestand, und den wir zumeist nicht in Verbindung mit religiösem Denken bringen, war der kanadische Medienprophet Marshall MacLuhan. Zunächst sah er in Teilhards Beobachtungen große Parallelen zu seinen eigenen Theorien über das „global village“ und die Rolle von Medien als externalisiertes Nerven- und Wahrnehmungssystem des Menschen, das sich aus dem Körper auf den Planeten zu legen begann. Eine „kosmische Membran“ habe sich „durch die elektrische Erweiterung unserer verschiedenen Sinne rund um den Globus gelegt“ (zit. nach Grampp 100). Später distanzierte er sich von dem Jesuiten, mit dem er den Katholizismus teilte. Er hielt Teilhards Vision für einen „kindischen Zukunftsroman.“. Vor allem stieß er sich an der Vorstellung, dass immer größere Einheiten auch größere Harmonie bedeuteten. „Je mehr Dorfbedingungen man schafft, um so mehr Diskontinuität und Teilung und Unterschiedlichkeit erhält man. Das globale Dorf sichert die absolut maximale Uneinigkeit in allen Punkten. Es ist mir niemals eingefallen, dass Einheitlichkeit und Ruhe die Merkmale des globalen Dorfes sind.“ (zit. in Grampp, 101).

Bei aller Euphorie heute für Vernetzung und Netzwerke, für die Bildung größerer Einheiten wie Europa, Freihandelszonen oder gar eines Weltstaates sollten wir immer bedenken, dass der Riss wartet. Die Menschen sind so beschaffen, dass sie es nicht lange harmonisch aushalten. Leider ist das auch Grundlage des Fortschritts. Oder wie es schon der scharfsinnige G.K. Chesterton, der nicht nur Kriminalgeschichten schrieb, 1933 formulierte:

For another process is going on, parallel to the process of the connexion of routes, and it is the disconnexion of ideas… a silent shock of collision is occurring with the closer communication all over the world. („On the New Insularity“, 1933)[3]

Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel


Anmerkungen:

[1] Dass die Bedrohlichkeit nicht zwangsläufig sein muss, belegte sein Zeitgenosse, der deutsche SF-Autor Kurd Laßwitz aus Gotha, mit seinem zeitgleich erschienenen Auf zwei Planeten. Hier sind die Marsmenschen Frieden suchende Kantianer.

[2] https://en.wikipedia.org/wiki/World_Brain (6.9. 2008). Vgl. A.C. Clarke, Profiles of the Future (1962).

[3] Denn ein anderer Prozess läuft derzeit ab, parallel zu der wachsenden Verbindung von Verkehrsstrecken, und das ist die Trennung von Ideen… ein stiller Schock des Zusammenstoßens erschüttert aufgrund der enger werdenden Kommunikation die ganze Welt ab. (Übersetzung E.S.)


Literaturhinweise:

Chardin, Teilhard de. Der Mensch im Kosmos (1940), dt. Übersetzung 1959, Neuauflage München 2010.

Chesterton, Gilbert Keith. „On the New Insularity“. In: All Is Grist. London 1933, 65-69.

Fechner, Gustav Theodor. “Der Raum hat vier Dimensionen”.  http://gutenberg.spiegel.de/buch/gustav-theodor-fechner-essays-1093/12 (3.9. 2016)

Foster, Allen. Around the World with Citizen Train. The Sensational Adventures of the Real Phileas Fogg. Dublin: Merlin Publishing 2002.

Grampp, Sven. Marshall McLuhan. Eine Einführung. Konstanz 2011.

Jünger, Ernst. Annäherungen. Drogen und Rausch. Stuttgart 1970.

Krajewski, Markus. Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900. Frankfurt/M.: 2006.

Kugler, Liselotte, Oliver Götze. In 80 Dingen um die Welt. Der Jules-Verne-Code. Museum für Kommunikation Berlin 2014.

Lovelock James: Das Gaia-Prinzip: die Biographie unseres Planeten. (Aus dem Engl. übertr. von Peter Gillhofer und Barbara Müller.) Artemis & Winkler, Zürich, München 1991

Laßwitz, Kurd. Auf zwei Planeten. Weimar 1895.

McLuhan, Marshall. The Gutenberg Galaxy, Toronto 1962.

Otis, Laura. Networking. Communicating with Bodies and Machines in the Nineteenth Century. Ann Arbor 2001.

Schenkel, Elmar. Der Prophet im Labyrinth – H.G. Wells. Eine Biographie. Wien 2001.

Schivelbusch, Wolfgang. Geschichte der Eisenbahn. München 1977.

Stapledon, Olaf. Star Maker. London 1937.

Verne, Jules. Reise um die Welt in 80 Tagen, http://gutenberg.spiegel.de/buch/reise-um-die-erde-in-80-tagen-4014/1 (8.9. 2016).

—. Le Tour du monde en 80 jours. Paris 2002.

Wells, Herbert George. The Time Machine. London 1895.

—-, The War of the Worlds. London 1998.

—-, Anticipations. London 1901.

—-, World Brain. London 1937.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

 

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