Im Nordwesten Griechenlands, in der Region Epirus, nahe der antiken Stadt Ephyra befand sich ein – bereits im zehnten Gesang der Odyssee erwähntes – Totenorakel. Es lag am Ufer eines Sees, den der Acheron hier bildete, bevor er ins nur wenige Kilometer entfernte Meer strömt. Beim heutigen Dorf Mesopotamos gruben griechische Archäologen in den 1960er Jahren genau hier einen Gebäudekomplex aus, bei dessen ursprünglicher Anlage es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eben dieses Nekromanteio handelt.
Ein Zugang zur Unterwelt wurde in antiker Zeit in unterschiedlichen Gegenden verordet. Genannt seien hier das „Ende der Welt“ am Kap Tenaro auf dem Peloponnes, das Land der Kimmerer (es bestehen sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, wo sich dieses Land befunden haben und um wen es sich bei den Kimmerern gehandelt haben könnte), die Gegend um Eleusis, westlich von Athen, und schließlich auch der „Hain der Persephone“. Unabhängig von diesen unterschiedlichen Ortsangaben wurde jedoch der Acheron allgemein als Grenzfluss gesehen, der die Welt der Lebenden von jener der Toten scheidet und den die Verstorbenen mit Hilfe des Fährmanns Charon überqueren.
Das Flusssystem des Hades ist allerdings komplex und es besteht auch eine gewisse Unklarheit hinsichtlich des Verhältnisses von Acheron und Styx. Bei Homer heißt es:
Selbst dann gehe hinein in Aides dumpfe Behausung.
Wo in den Acheron dort der Strom Pyriphlegethon stürzet,
Und des Kokytos Strom, der ein Arm der stygischen Flut ist;
Dort am Fels, wo sich mischen die zween lautbrausenden Ströme:
Nahe dahin dich drängend, gebiet` ich dir, edler Odysseus,
Eine Gruft zu graben, von einer Ell` in die Vierung.
Über die Gruft dann gieß Weihguss für die sämtlichen Toten:
Erst von Honig und Milch, und dann von lieblichem Weine,
(Homer, Odyssee 10,513)
Kokytos (Fluss des Wehklagens) und Pyriphlegethon (der Feuerfluss) kommen laut Homer also vom Styx und fließen in den Acheron. Bei Platon hingegen führt der Pyriphlegethon in das am tiefsten gelegene Gebiet des Hades, den Tartaros. Weiterhin sind zu nennen Lethe (der Fluss des Vergessens), Mnemosyne (Fluss der Erinnerung) und Okeanos, der Weltenstrom. Die Zusammenhänge und Topographien von Styx, Okeanos und Acheron werden teils unterschiedlich überliefert. Bei Lethe, Mnemosyne, Kokytos und Pyriphlegethon stehen jedoch die symbolischen Bedeutungen im Vordergrund.
Im Gegensatz zum Hades selbst sind seine Flüsse aber durchaus in der realen Welt existent. Problematisch bzw. unklar scheint dabei vor allem eben das Verhältnis zwischen Styx und Acheron, häufig werden sie synonym verwendet. Die Styx allerdings – im Norden des Peloponnes noch immer aufzufinden– kann sich als bescheidenes Flüsschen mit dem Acheron nicht messen. Und es scheint doch plausibler zu sein, dass der Acheron im Verbund mit dem einstigen acherontischen See und etlichen anderen Gebirgsbächen, die in ihn fließen, als Hauptstrom des Hades gelten darf, der die Grenze bildete zwischen der Welt der Lebenden und jener der Toten.
Vor einiger Zeit beschloss ich, mir diesen realen Acheron einmal selbst anzuschauen, von den Quellen bis zur Mündung ins Ionische Meer entlangzuwandern. So ambitioniert das Vorhaben auf den ersten Blick wirkt – der gesamte Flusslauf beträgt lediglich etwa 60 Kilometer. Bei dem Ort Polystafylo, etwa fünfzig Kilometer westlich von Ioannina, bilden zwei Quellflüsse den Acheron, der im Gegensatz zu seinem düsteren Ruf ein freundlich wirkender Gebirgsbach mit türkisfarbenem Wasser ist. Bevor er sich ruhig und breit in die Ebene von Phanari bewegt, die sich in Richtung des Ionischen Meeres erstreckt, durchfließt er eine enge kilometerlange Schlucht. Steil ragen die Felswände dort auf und da, wo sie sich einander zuneigen, ist das Wasser am Grunde der Schlucht tiefer. So tief, dass Flusswanderer an dieses Stellen angekommen, umkehren oder schwimmen müssen.
Nahe der Ortschaft Glyki, wo sich die Schlucht weidet, um schließlich in der hier beginnenden Ebene zu verenden, quillt entlang des Flussbettes eiskaltes Quellwasser aus Rissen und Öffnungen im Felsgestein. Mitunter sprudelt es auch direkt aus dem Kiesbett des Flussgrundes. Dies sind die sagenumwobenen Quellen des Acheron. Im Geräusch des aus dem Gestein hervorsprudelnden Wassers glaubte man in der Antike Stimmen, Gemurmel und Geraune direkt aus dem Hades hören zu können und mit einiger Phantasie kann man sich das auch heute durchaus noch vorstellen.
In und rings um die Ortschaft Glyki hat sich ein regelrechter Acheron-Tourismus angesiedelt. Tavernen direkt am Flussufer, geführte Flusswanderungen oder Kajakfahrten flussab. Bevor sich die beginnende Schlucht flussauf verengt, kann man unter großen Platanen einige hundert Meter am Ufer entlang gehen, dann aber gelangt man nur im Flussbett selbst weiter flussauf oder man wählt einen oberhalb der Schlucht gelegenen Wanderpfad im Wald. Wenn man sich die geographische Situation vor allem am Unterlauf des Acheron aber anschaut, lassen sich tatsächlich Bezüge zur mythologischen Geographie erkennen: die Zuflüsse aus den Seitentälern, die weite Ebene von Phanari, noch heute oft in Nebel gehüllt, in der sich der acherontische See befand, das Nekromanteo auf einer felsigen Anhöhe, von der aus man nach Westen das Meer erblickt und im Nordosten die Bergzüge, aus denen der Acheron herkommt, um sich schließlich ins Meer zu ergießen. Die ursprüngliche Meeresmündung des Flusses ist allerdings versandet, heute fließt der Acheron bei der Ortschaft Ammoudia ins Meer.
Die Ebene von Phanari wird landwirtschaftlich genutzt. Hochgewachsene Schilfstreifen säumen die Straße und da und dort sind noch Feuchtgebiete in den Feldern und Wiesen erkennbar. In der Morgendämmerung liegt Dunst über dem Land und die Bergkette im Hintergrund ist nur verschwommen wahrnehmbar. Es muss im Altertum eine unheimliche Gegend gewesen sein: Der See von niedrig hängenden Wolken bedeckt, das Land rings um die Ufer von aufsteigenden Nebelschwaden überzogen. Vermutlich näherte man sich vom Meer her, wenn man das Totenorakel befragen wollte. Die Bucht vom Ammoudia ist nicht mehr als fünf, sechs Kilometer vom Nekromanteo entfernt. Schon aus einiger Entfernung kann man die felsige Anhöhe sehen, womöglich war sie damals auch mit Erlen, Pappeln und Weiden bewachsen, wie es vom Hain der Persephone heißt.
Dieser heilige Hain soll am westlichen Ende der Erde an den Grenzen der unteren Welt, gestanden haben. Bei Gustav Schwab (Die schönsten Sagen des klassischen Altertums) heißt es, der Eingang zum Hades befinde sich am Ende der Welt am Ufer des Okeanos im Land der Kimmerier im Hain Persephones aus Pappeln, Erlen und Weiden. Dort stürzten die schwarzen Fluten des Pyriphlegeton und des Kokytos in die Tiefe. Wenn auch „im Land der Kimmerer“ ungeklärt bleibt, so stützen doch die Nähe zum Meer und der Hinweis auf den Kokytos die Ansicht, dass das einstige Nekromanteo von Ephyra und der Hain der Persephone identisch sein könnten. Auch ein Kokytos benannter Zufluss des Acheron existiert noch heute nahe bei Mesopotamos.
Steil bergauf führt der Weg dort auf die bestandene Anhöhe über dem Dorf. Der Blick geht von hier oben in westlicher Richtung hin zum Ionischen Meer. Wendet man sich um, blickt man über die Ebene, in der sich der einstige acherontische See befand, hin zur Bergkette, von der herab der Acheron kommt.
Die einstige Orakelstätte ist in den Grundzügen ihrer Anlage noch erkennbar, obwohl die Überreste der Anlage in späterer Zeit überbaut wurden. Aus großen Steinquadern gesetzte Mauern bildeten die Grenze zum heiligen Bezirk. Wer in antiker Zeit hierher kam, um die Verstorbenen zu befragen, musste sich einer langwierigen Vorbereitung unterziehen. Durch einen labyrinthischen Zugang wurde der – vermutlich unter Drogeneinfluss stehende – Klient schließlich nach etlichen Tagen in den innersten Bezirk geführt, wo sich die Begegnung mit den Verstorbenen abspielte. Unter diesem Raum mit meterdicken Außenmauern befindet sich ein unterirdischer, künstlich geschaffener Hohlraum. Heute kann man über eine eiserne Leiter hinuntersteigen, in antiker Zeit jedoch gab es keinen Zugang. Wurde dieser Raum vielleicht angelegt, um einen Ort für die Präsenz der Gottheiten Hades und Persephone zu erschaffen?
Ein Beitrag von Jörg Jacob
Literaturhinweise:
Homer: Ilias. Übertragung von Johann Heinrich Voss. Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1979.
Homer: Odyssee. Übertragung von Johann Heinrich Voss. Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1979.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Sehr interessant, diese Plätze gibt es also noch heute zu sehen….
danke fürs Veröffentlichen
Das Nekromanteion ist schon sehr merkwürdig, so als Totenorakel. Noch merkwürdiger finde ich diese dreifaltige Hekate. Heute denkt jeder, dass diese Dreifaltigkeit ein Monopol vom Christentum ist. Das stimmt aber nicht, diese DREI ist in allen Mythologien weltweit extrem magisch. Manchmal heißt es, dass diese Hekate vorgriechisch ist und aus Anatolien kommt. Warum diese Hekate in Hesiods Theogonie zu einer Supergottheit gemacht wurde, weiß ich nicht. In der griechischen Mythologie wurde sie aber zur Göttin der Totenbeschwörung ->
https://www.mythologie-antike.com/t3-hekate-in-der-griechischen-mythologie
Außerdem wissen die Akademiker / Akademikerinnen nach meiner Schätzung auch nicht mit einer Sicherheit von 100%, was diese unzähligen Rätsel denn nun wirklich bedeuten. „Ausnahmen bestätigen die Regel“ – häufig wird so begründet, dass diese Hekate (Theogonie) in die griechische Mythologie eingefügt wurde. Aber es ist überhaupt nicht normal, dass diese Titanen-Gottheit ihre Unabhängigkeit komplett behielt. In das Pantheon wurde diese Gottheit auch nicht eingebaut – und dann heißt es, dass es auch nicht möglich war, Hekate in das Pantheon einzubauen. Viele Rätsel….