Zur Mythologie der Zigeuner, Sinti, Roma, Fahrenden – Teil 1

Das Wasser, das wandert

Längst entschwunden sind die Zeiten / der Zigeuner, / die gewandert. Ich aber sehe sie, / hurtig wie im Wasser, / stark und durchscheinend. / Man kann es hören, / wie’s wandert, / wie’s Lust hat zu reden. Aber das Arme – es kennt keine Sprache / außer dem Rauschen und Silbergeplätscher. / Nur das Pferd auf der Weide / hört und versteht sein Geraune. / Doch schaut’s nach ihm sich nicht um, / flieht eilends, läuft weiter, / Wo niemand es ausspäht, / das Wasser, das wandert. (Papusza – Bronisława Wajs, 1910-1987)

Unser Wissen über die Sinti und Roma kann muss heute als mangelhaft bezeichnet werden. Allerdings hat sich in der Wissenschaft über die Sinti und Roma – der Begriff „Tsiganologie“ ist dabei umstritten und wird häufig durch Romistik ersetzt – viel getan, nicht zuletzt auch, um einem weitverbreiteten „Antiziganismus“ entgegenzuwirken. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Höhepunkt systematischer Verfolgungen und an den Völkermord an den „Zigeunern“ (porajmos) im Nationalsozialismus. Bis heute zählen Sinti und Roma zur am stärksten diskriminierten ethnischen Gruppe in Europa. Erwähnt werden sollte eine Vorkämpferin für die Rechte dieser Völkerschaft, die Begründerin der tschechischen Romistik, Milena Hübschmannová. Sie war an der Popularisierung und Verbreitung der Roma-Literatur maßgeblich beteiligt, sie hat aber auch große Verdienste an der schriftlichen Fixierung und Erhaltung der Tradition und Kultur der Roma. Hübschmannová war Professorin der Romistik am Indologischen Institut der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag; sie ist Autorin zahlreicher Publikationen, Übersetzerin und Mitherausgeberin des Wörterbuchs Romanes-Tschechisch/Tschechisch-Romanes. Weiterhin hat sie auch zahlreiche Roma-Märchen veröffentlicht. Zu den wenigen wissenschaftlichen Arbeiten über die geheimnisvolle Mythologie der Zigeuner gehört neben „Mythologie der Zigeuner“ von Hermann Berger, 1984 in Stuttgart herausgegeben und ein Standardwerk der Romistik, auch Claude Lecouteux‘ „Dictionary of Gypsy Mythology. Charms, Rites, and Magical Traditions of the Roma”, 2018 in Paris herausgegeben. Bereits der Titel verrät ein Dilemma, das die Terminologie betrifft, ein Problem, das in der Öffentlichkeit ebenso wie in der einschlägigen Roma-Forschung immer wieder auftritt und „Gypsy“ (resp. Zigeuner) und „Roma“ betrifft. Hinzu kommen zahlreiche andere, zumeist landesspezifische Bezeichnungen wie „Tartaren“ in Skandinavien, „Ägypter“ in England und auch Frankreich, „Böhmen“ vor allem in Frankreich oder „Heiden“ in vielen christlichen Ländern. Im 14. und 15. Jahrhundert setzt sich die Bezeichnung „Cingari“, „Volk des Pharaos“ oder auch „Athinganoi“ (Unberührbare) durch, ein Begriff, der ins Deutsche als „Zigeuner“ übertragen wurde und mit entsprechenden Bezeichnungen in den slawischen Sprachen wie auch im Ungarischen, im Rumänischen und anderen romanischen Sprachen korrespondiert. Der Begriff „Sinti“ leitet sich aller Wahrscheinlichkeit nach von der Heimatregion Sindh (Sindhi im Arabischen), im heutigen Pakistan gelegen, ab.

Der Begriff „Zigeuner“ wird zumeist für literarische Bilder verwendet, er bezieht sich nicht auf reale Personen oder Personengruppen, nicht auf eine ethnischen Gruppierung und deren Identität und wird weitgehend wertfrei verwendet. Der Begriff steht dabei eher für oft kaum kritisch übernommene, tradierte Vorstellungen und Bilder. Vielmehr handelt es sich um Imaginationen, Erfindungen, Fantasieprodukte, um literarische Konstrukte, die vom Leser auf die Sinti und Roma projiziert werden. Obgleich die Anwesenheit von Sinti und Roma seit über 600 Jahren in Deutschland nachgewiesen werden kann, werden sie in der schöngeistigen Literatur erst in Folge einer zumeist romantisierenden Literatur im 19. Jahrhundert, einer fernab der Realitäten existierenden „Zigeunerromantik“ thematisiert. Nicht selten werden die „Zigeuner“ auch als freiheitsliebende „Wilde“ angesehen, sie gelten aber auch als Vorbilder für individuelle wie gesellschaftliche Freiheitsbestrebungen, die sich staatsbürgerlichen Ordnungsvorstellungen und Versuchen, sie zu „missionieren“, entziehen. Bei all diesen in vielen europäischen Literaturen verbreiteten Konstrukten wurde der Selbstdarstellungen, der Herkunft wie auch der Mythologie der Sinti und Roma als ein „unbekanntes Volk“ kaum Beachtung geschenkt. Dabei hängt die Kultur und vor allem Mythologie der Roma von ihrer Herkunftsgeschichte, ihren Wanderbewegungen und den Kontakten zu anderen Völkern, Sprachen, Kulturen und Literaturen ab.

Es gibt dabei zahlreiche Geschichten, Berichte und „Zeugnisse“, die aus der Feder von Nicht-Roma stammen. Die nicht aus einer Innen-, sondern einer Außensicht verfassten Erzählungen entsprechen zumeist klischeehaften, stereotypen Vorstellungen von den fremden, ausgeschlossenen, unverstandenen „Zigeunern“. Aus diesen Gründen fällt es auch schwer, wesentliche Inhalte, Eigenschaften und Gemeinsamkeiten einer als authentisch anzusehenden Mythologie der Sinti und Roma vorzustellen. Die spärlichen mythologischen bzw. mythenähnlichen Überlieferungen weisen unterschiedliche Komponenten auf, die sich zum Teil deutlich von den tradierten mythischen Geschichten der einzelnen Stämme unterscheiden. Ein weiterer Grunde dafür, dass sich aus heutiger Sicht kaum mehr ermitteln lässt, welche mythologischen Elemente tatsächlich zu einer ursprünglichen, gemeinsamen Mythologie gezählt werden können, welche in Verlauf der Zeit hinzugefügt und nachgedichtet wurden. Auf der Suche nach mythischen Überlieferungen wird man bei den osteuropäischen Roma-Stämmen eher fündig als bei den in Westeuropa sesshaft gewordenen Bevölkerungsgruppen, die ihre eigene Sprache bereits weitgehend aufgegeben haben.

Einige Kernelemente der aus der „ersten Welt“ mitgebrachten Mythologie der Sinti und Roma können durchaus mit der Hindumythologie verglichen werden. Das betrifft in erster Linie die Kosmologie, die Gottesauffassungen wie auch die Weltschöpfung, hinzu kommt die Sintflut und der Kult von zumeist als heilig angesehenen Bergen, Bäumen und des Waldes überhaupt. Bestimmte Bäume – dazu zählt zuvorderst z.B. der Maulbeerbaum – werden als heilig angesehen, da unter ihm verfolgte Sinti und Roma Rettung gefunden hatten. Von besonderer Bedeutung ist dabei der „Allsamenbaum“, von dem der Roma-Mythologie zufolge alle Pflanzen auf der Erde abstammen sollen. Bis heute kann man diesen Baum in der Heiligen Nacht sehen, nämlich dann, wenn symbolisch ein Weidenbäumchen mit einer Tanne vermählt wird. Beide Bäume werden nebeneinander in die Erde gesetzt und mit einem roten Band miteinander verbunden. Das geschieht oft in der Nähe eines weiteren als heilig angesehenen Baumes. Mit dieser „Baumhochzeit“ hängt auch die Überlieferung von der Abstammung bzw. Herkunft des ersten Menschenpaares auf Erden zusammen. Ein späterer Bezug auf Adam und Eva könnte gegeben sein.

Auf die indische Mythologie deutet auch die Roma-Bezeichnung „trušul“ (trishula) für ein Kreuz hin, ein Kreuz, das angeblich von Shivas Dreispeer bzw. seinem Dreizack abgeleitet sein könnte; es befindet sich als eins von vier Astralsymbolen auf dem Zepter der Roma. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Mythologie der Sinti und Roma betrifft die „glückliche Verbindung von Himmel und der heiligen Mutter Erde“. Als allerdings diese zunächst überaus harmonische Verbindung zerbrach, nahm der Himmel die drei gemeinsamen Kinder – den Sonnen-, den Mond- und den Windkönig – mit sich. Dabei riss das weite Gewand der Erde und Teile davon verblieben dabei auf der Erde in Gestalt von Bergen zurück. Oft werden die Gipfel von Feen und Geistern bevölkert, welche die Kinder der Erde daran hindern sollten, das Erdgewand in weitere Fetzen zu zerreißen. Als heilig gelten dabei allerdings nur sieben glückverheißende Berge, die vom Sonnenkönig ausgewählt und dem Himmel entgegengestreckt wurden. Doch weiß heute keiner mehr, welche Berge zu ihnen gehören. Die heiligen Berge weisen an ihrem Fuße oft wundersame Heilquellen auf, ihr Inneres ist hohl. Dort verbergen sich die Seelen der Toten, welche die heiligen Berge missachtet und befleckt haben. Zumeist in Schlangen verwandelt, müssen sie unermessliche Schätze hüten. Mit dem Übergang von Leben und Tod verbunden ist der mythische weiße Hund bzw. die Hündin, welche die Sinti und Roma über den Tod hinaus in Treue begleiten. Sie sind es, die den Sterbenden anlecken, um auf diese Weise die Seele aus dem sterbenden Körper heraus zu locken. Es gibt weiterhin „Hundemenschen“, die über einen menschlichen Körper und einen Hundekopf verfügen; es sind rechtschaffende Menschen, die von Geistern und Dämonen in derartige Wesen verzaubert wurden. Den Menschen gegenüber verhalten sich diese „Hundemenschen“ wohlwollend, erst durch den Kuss einer Jungfrau kann ein solcher „Hundemensch“ erlöst werden und seine volle menschliche Gestalt zurückerhalten. Die Mythologie der Sinti und Roma ist reich an Geschichten von Natur- und Todesgeistern, von Dämonen, Riesen und Riesenvögeln. Eine besondere Rolle spielt in fast allen überlieferten heidnisch-mythologischen Erzählungen der natürliche Rahmen, Bilder der freien, unberührten Natur. Hinzu kommen Narrative, die von anderen Kulturen, Mythen und Religionen auf der langen Wanderschaft der Sinti und Roma beeinflusst wurden. Zu ihnen gehören beispielsweise zahlreiche Volkserzählungen, Rituale, Gesänge, Gedichte, Reime, aber auch Witze. Was den bereits erwähnten Glauben an Geister- und Dämonen betrifft, leistete der aus Siebenbürgen stammende Ethnologe Heinrich Adalbert von Wlislocki (1856-1907) eine große, anerkennenswerte Vorarbeit. Wlislocki hatte lange Zeit unter der Roma-Bevölkerung in Siebenbürgen und Ungarn gelebt. Es gelang ihm, ihr Vertrauen zu gewinnen und Einblicke in ihre Glaubensvorstellungen, Sitten, Bräuche wie auch Stammesgesetze zu erhalten. Allerdings ist aus heutiger Sicht nur noch schwer nachweisbar, welche Erzählungen und Figuren dabei der ursprünglichen Roma-Mythologie angehören, welche übernommen, entliehen oder angepasst wurden bzw. regionalen Erzählungen zugerechnet werden könnten. Unklar ist in diesem Zusammenhang die Herkunft der Čohano und Mulo, vampirartige Wesen, Wiederkehrer und Totengeister, die in ihre Körper zurückkehren können und des Nachts die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Es sind kulturübergreifende Gruselgeschichten, die bis heute nicht von Sinti und Roma weitererzählt werden.

Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

 

2 Antworten auf „Zur Mythologie der Zigeuner, Sinti, Roma, Fahrenden – Teil 1“

  1. Es ist ja noch gar nicht so furchtbar lange her, da war das Studienfach Tsiganologie unter vHerrn Streck an Leipzigs Universität wohl noch nicht ganz so umstritten. Aber wie dem auch sei…
    Was mich persönlich in Bezug auf die begriffliche Unstimmigkeit und Wandlung nach wie vor verunsichert, sind die Tatsachen, dass die diskriminierende Fremdbezeichnung mit Z die Betroffenen selbst häufig gar nicht so sehr zu stören scheint (das Gefühl hatte ich jedenfalls schon öfter bei vertrauensvollen Gesprächen mit diesen). Zudem finde ich eine solche Neubenennung nicht ganz so einfach, da es ja außer Sinti und Roma auch noch andere Gruppenzugehörige gibt (wie zum Beispiel Domari). Denn identisch sind diese heute in Nahost ansässigen Völkerschaften doch nicht mit den zuvor genannten Sinti und Roma, oder?

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