Salman Schocken

Im vergangenen Jahr hatte ich für den Mytho-Blog einen Beitrag geschrieben, der sich – ausgehend vom Thema „Mythos Buch“ – mit der bedeutenden Privatbibliothek Salman Schockens beschäftigte. Ich möchte jetzt mit diesem zweiten Beitrag den Bibliophilen, den Unternehmer, den Verlagsgründer und Literaturförderer Salman Schocken etwas näher vorstellen.

Salman Schocken – so er im Gedächtnis der deutschen Bevölkerung geblieben ist – wird zunächst und ausschließlich als erfolgreicher Kaufmann erinnert. Er wurde 1877 in Margonin, einer Kleinstadt im Posener Gebiet, geboren und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Das Elternhaus war traditionell-jüdisch geprägt. Schocken besuchte eine deutsche Grundschule, eine weiterführende Schulbildung ließen die finanziellen Verhältnisse der Familie allerdings nicht zu.

Die Region um Posen gehörte damals zu Preußen und das aufstrebende gründerzeitliche Berlin wirkte auf ehrgeizige junge Männer wie ein gewaltiger Magnet. Bildungshunger und der Drang, sich eine eigene Existenz aufzubauen, führten Salman bereits im Alter von 14 Jahren in die expandierenden deutschen Großstädte, zuerst nach Berlin und zwei Jahre später auch nach Leipzig. In die hier ansässige Familie Ury, die ein Kaufhaus am Leipziger Königsplatz betrieb, hatte sein älterer Bruder Simon eingeheiratet. Und als Simon eine Filiale der Firma Ury übernahm, folgte Salman dem älteren Bruder ins sächsische Zwickau.

1906 erfolgte dann durch die beiden Brüder die Gründung der Einkaufszentrale I. Schocken Söhne. Damit war der Grundstein zu einem in der Folge rasch wachsenden Kaufhaus-Imperium gelegt. Die Schocken-Warenhauskette nahm in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen kometenhaften Aufstieg. Gründe lagen u.a. in der Konzentration auf mittlere Großstädte wie Zwickau, Chemnitz, Nürnberg, Stuttgart, die rasant wuchsen und mit einer wachsenden Mittelschicht auch zunehmend Kaufkraft entwickelten. Die Schocken-Kaufhäuser setzten auf eine breite Produktpalette, die exakt auf die Bedürfnisse dieser wachsenden Mittelschicht zugeschnitten war, günstige Preise und höchste Qualitätsansprüche. Auch erwies sich das gute Verhältnis des Führungsduos der beiden Schocken-Brüder Simon und Salman als überaus positiv für den Aufbau des Konzerns, der von Zwickau aus operierte. Innovativ mit eigener Warenprüfanstalt, einem wachsenden Anteil von Eigenmarken, sozialen Einrichtungen wie einem betriebseigenen Erholungsheim im Erzgebirge und betriebsinternen Bibliotheken für das Personal. Der Ausbau des Konzerns wurde planmäßig vorangetrieben und führte dazu, dass 1930 zur Warenhausgruppe bereits 19 Häuser gehörten, die Einkaufszentrale und die Zwickauer Textilwerkstätten sowie eine eigene Versicherungsgesellschaft. Es gab sechstausend Angestellte und eine Verwaltung nach modernsten Prinzipien. Der Bau des Chemnitzer Kaufhauses markierte 1931 den Höhepunkt des Schocken-Konzerns. Es war das größte und zugleich modernste der Häuser. Das Gebäude ist erhalten und beherbergt heute das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz. In einer gesonderten Ausstellung wird dort auch über die Entstehung des Hauses als Kaufhaus Schocken und die Firmengeschichte informiert. Dies alles betrifft lediglich den erfolgreichen Kaufmann Salman Schocken, der nach dem frühen Tod seines Bruders Simon die Geschäfte allein fortführte. Neben diesem Kaufmann aber gab es auch den Privatgelehrten und bibliophilen Salman Schocken, der die vielleicht bedeutendste Privatbibliothek seiner Zeit aufbaute, 1931 einen Verlag gründete und nach der Vertreibung aus Deutschland (1938) durch die Nationalsozialisten, seinen in Deutschland liquidierten Verlag neu gründete: zuerst 1937 im damals britischen Mandatsgebiet Palästina, später ein drittes Mal in New York.

 Salman Schockens Leben war von zahlreichen Umbrüchen und Ortswechseln gekennzeichnet.  Seit dem frühen Tod seines Bruders Simon 1929 stand er allein an der Spitze des Unternehmens. Bereits 1927 war er mit seiner Familie von Zwickau nach Berlin übersiedelt und hier erfolgte 1931 auch die erste Verlagsgründung. Bereits 1929 hatte er ein Forschungsinstitut für Geschichte und Quellenstudien der hebräischen Dichtung ins Leben gerufen und sich verstärkt auch einer verlegerischen Tätigkeit zugewandt. Die wichtigste Publikation des neuen Schocke-Verlages ist die Schocken-Bücherei, eine Buchreihe, die in 83 Bänden verlegt wurde und sich in ihrer Gestaltung an der Insel-Bücherei orientierte. Sie umfasste eine weitgespannte Auswahl historischer und zeitgenössischer jüdischer Texte aus Religion und Philosophie, Geschichte sowie Literatur. So konnten in der Schocken-Bücherei auch Franz Kafkas Kurzgeschichten erscheinen, nachdem Schocken die Rechte am Gesamtwerk 1934 gekauft hatte.

Nach schrittweisen Beschränkungen der verlegerischen Tätigkeit wurde der Berliner Verlag im Dezember 1938 durch die Nationalsozialisten vollständig liquidiert. Ebenso erfolgte die Enteignung des Kaufhaus-Konzerns, die sogenannte „Arisierung“. Bereits 1934 hatte Salman Schocken Deutschland verlassen und versucht, sich im britischen Mandatsgebiet Palästina zu etablieren. Er veranlasste den Bau eines Wohnhauses und einer Bibliothek durch den namhaften Architekten Erich Mendelsohn in Jerusalem und gründete 1937 den Verlag: „Schocken Publishing Co“ in Jerusalem / Tel Aviv. Dieser Verlag existiert auch heute noch in Tel Aviv und wird von Schockens Enkelin Racheli Edelman geführt. Zugleich war Schocken über einen Zeitraum von fünf Jahren als administrativer Leiter für die hebräische Universität Jerusalem tätig. 1940 verließ Schocken Palästina allerdings wieder und ging mit seiner Familie nach New York. Das mag verschiedene Gründe gehabt haben. Der auch Nordafrika und den nahen Osten bedrohende Weltkrieg und die sich zuspitzenden Auseinandersetzungen zwischen Juden, Arabern und der englischen Besatzungsmacht haben sicher eine Rolle gespielt. Aber darüber hinaus ist Schocken wohl auch nicht heimisch geworden in Jerusalem und Tel Aviv. Die wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse unterschieden sich eklatant von jenen, die Schocken aus Deutschand vertraut waren.

 In New York gründete er 1945 sein drittes Verlagshaus (Schocken Books, Inc.). Hannah Ahrend arbeitete dort zwei Jahre lang als Cheflektorin für ihn. Zahlreiche Reisen führten Schocken nach Kriegsende u.a. immer wieder in die Schweiz, aber auch nach Jerusalem und nach Deutschland. Eine Heimat fand er aber in keinem dieser Länder mehr.

 Schon in Jugendjahren, während seiner Zeit als junger Handelsvertreter, las und lernte Salman unentwegt. Über die Jahre bildete er sich – ohne auf ein Universitätsstudium verweisen zu können – auf autodidaktische Weise zu einem Privatgelehrten, den Thomas Mann einmal als den bedeutendsten Goethe-Kenner bezeichnen würde. Als Kaufmann agierte Schocken später pragmatisch und rational, seine Religion – wenn er eine hatte – war die Literatur. Goethe und Heine waren seine Leitsterne, sicher auch Nietzsche. Sich autodidaktisch zu bilden, ein umfassendes Weltwissen zu erlangen, dies war seit seiner Jugend ein elementarer Antrieb in seinem Leben. Unmittelbar damit verbunden war auch seine Sammelleidenschaft, schon in jungen Jahren legte er den Grundstock für seine spätere Bibliothek, die einmal 60 000 Bände umfassen sollte. 

Schocken war neben seiner kaufmännischen Tätigkeit aber nicht nur Privatsammler und Privatgelehrter, sondern auch engagierter Kulturförderer und Mäzen für Dichterinnen wie Else Laske-Schüler, für Schriftsteller wie Agnon. (In seinem in Leipzig angesiedeltem Roman „Herrn Lublins Laden“ hat ihm Josef Agnon in der Figur des Kaufmanns Lublin ein literarisches Denkmal geschaffen.) Darüber hinaus engagierte er sich in der Soncino-Gesellschaft, die erste und einzige jüdische bibliophile Vereinigung Deutschlands. Die Publikationen der 1924 gegründeten Gesellschaft wurden ausschließlich für ihre Mitglieder als Privatdrucke hergestellt und anderen bibliophilen Gesellschaften zu Vorzugspreisen angeboten. Ab 1925 erschienen dann  auch die sogenannten Soncino-Blätter, die sich an eine breitere Öffentlichkeit wandten. Die Mitglieder der Soncino-Gesellschaft setzten sich aus allen Strömungen des deutschen Judentums zusammen. Dazu gehörten Persönlichkeiten wie Leo Baeck, Max Brod und Martin Buber. Als Salman Schocken einen Übersetzer für mittelalterliche hebräische Poesie suchte, die er für seine Bibliothek erworben hatte, stieß er auf den Dichter, Schriftsteller und Übersetzer Karl Wolfskehl. Wolfskehl, der selbst eine bedeutende Privatbibliothek aufgebaut hatte – seine Sammlung u.a. mit barocker Dichtung soll 9.000 Bände umfasst haben – floh 1933 aus Deutschland und musste später nach Neuseeland emigrieren. Schocken verschaffte ihm durch den Aufkauf der Bibliothek die nötigen finanziellen Mittel und konnte so auch gleichzeitig die wertvolle Sammlung Wolfskehl retten. Denn es gelang Schocken in den Jahren 1934 bis 1937 seine gesamten Bibliotheksbestände – darunter mittelalterliche Handschriften, Drucke, seltene Bücher – per Schiff von Hamburg nach Palästina zu transferieren, wo sie in der von Erich Mendelssohn erbauten Bibliothek eine neue Heimat fanden und dort – soweit noch im Bestand –  bis heute für Studienzwecke zur Verfügung stehen.

 Salman Schocken war mit seinem wirtschaftlichen und kulturellen Schaffen ein bedeutender Vertreter eines jüdisch-deutschen Kultur-Bürgertums, das in hohem Maße noch von Goethes kosmopolitischen Einstellungen geprägt war. Die gedankliche Bewegung hin zum Nationalstaat, wie sie Bismarck für die deutschen Länder umgesetzt hatte, ist er nicht mitgegangen. Doch die Frage, zu wem, zu welcher Gemeinschaft man gehört, kann ein nichtreligiöser Mensch nicht hinreichend mit Verweis auf die Herkunft aus einer religiös geprägten Gemeinschaft begründen. Da die deutsche Gesellschaft und Politik nicht bereit war, ihn vorbehaltlos als Deutschen anzuerkennen, war der liberale, wenn nicht atheistische Schocken, an einer jüdischen nationalen Erzählung interessiert. Dafür spricht seine Suche nach einem jüdischen nationalen Gründungsmythos in der Literatur wie er ihn auch mit der Arbeit des Forschungsinstituts für hebräische Dichtung vorantrieb. Dabei waren allerdings nicht politische Aspekte für ihn von Interesse, sondern geistig-kulturelle: Letztlich schwebte ihm wohl eine gesellschaftliche Renaissance des Judentums vor. Salman Schockens Erfolgsgeschichte im Deutschland der Zwischenkriegszeit spiegelt die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert ebenso wie Hoffnungen und Enttäuschungen der deutschen Juden. Und erst in der Konfrontation mit zunehmendem Antisemitismus seit der Jahrhundertwende vom 19./20., entwickelt sich Schockens Sympathie für einen kulturellen Zionismus und die Hinwendung zum Traum einer zu schaffenden jüdischen Nation.

 Ein Beitrag von Jörg Jacob


Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Jörg Jacob lebt und arbeitet als freier Autor in Leipzig, zuletzt erschien Godot gießt nach/Herr Tod will leben, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019, fluten, 2022, Aus der Stadt und über den Fluss: Zwölf Versuche über das Gehen, 2022 sowie Gefährten der Stille: Erzählung, 2024.


Literaturhinweise:

Antony David, “The Patron, A Life of Salman Schocken, 1877-1959”, New York, Metropolitan Books.

Stefanie Maher, “Salman Schocken – Topographien eines Lebens”, Neofelis Verlag.

„Konsum und Gestalt“, Borrmann, Mölders, Wolfram (Hrsg.), Hendrich & Hendrich.

Schmuel Josef Agnon, „Herrn Lublins Laden“, Fischer Verlag.

Konrad Fuchs “Ein Konzern aus Sachsen”, DVA.

„Erich Mendelsohns Kaufhaus Schocken“, Thilo Richter.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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