Wie wichtig ist es doch, bei der Reflexion über Bücher und Texte mit zu bedenken, unter welchen Umständen man sie gelesen (oft auch: nicht) gelesen oder abgebrochen hat. Das ist der eigentliche Geschmack von Literatur: der Blick aus dem Fenster der Bahn, der Kaffee, der Liebeskummer, Ablenkung von Schmerzen, böser Politik oder auf dem Sofa, im Bett, im Grünen. Die Dinge prägen sich anders ein, man kehrt anders zu ihnen zurück in der Erinnerung, sie bleiben stärker haften. Deutlich wurde mir dies wieder einmal bei den griechischen Mythen, die Marie Luise Kaschnitz in ihrem gleichnamigen Buch nacherzählt hat. Ich nahm mir immer eine Erzählung vor, fuhr zu einem Bäcker in der Nähe und las dort, während Kunden Brötchen und Kuchen kauften, ein Frauenstammtisch sich akustisch verbreitete oder ein Mann des Ladens verwiesen wurde, diese Mythen. Es war ein Akt der Versenkung. Vielleicht ahmte ich damit – noch unbewusst und unter ganz anderen, fraglos besseren Umständen – nach, was die Autorin selbst mit ihren Erzählungen versuchte, nämlich sich aus der historischen, politischen und kulturellen Zeit zu verabschieden, für die Dauer einer Reise in seltsame Universen, denn es war Krieg.
Wir sind im Jahr 1943, die Autorin lebt in Frankfurt und befindet sich in einer inneren Emigration. Sie erlebt den Bombenkrieg und weiß von den deutschen Greueltaten. Nennen wir es also Flucht ins Innere, ohne dies moralisch beurteilen zu wollen. Marie Luise Kaschnitz (1901-1974) war einst eine nicht wegzudenkende Lyrikerin, fester Bestandteil westdeutscher Literatur, mit Lob von Reich-Ranicki und vielen wichtigen Preisen versehen. In Leipzig hörte ich kaum von ihr, doch bei einem kürzlichen Aufenthalt in Freiburg trat sie mir auf Buchregalen oder in Bücherschränken entgegen. Über den Breisgau hat sie Gedichte geschrieben und sie wohnte nach dem Krieg in Bollschweil im Hexental bei Freiburg, wo sie auch begraben liegt. Bollschweil hat sie in Beschreibung eines Dorfes (1966) in das literarische Bewusstsein eingeritzt. Sie liebte, in ihrer Lyrik und Prosa, die poetische Negation, zumal wenn es ins Mythische ging: Kein Zauberspruch ist der Titel eines ihrer späten Lyrikbände. Das bedeutet aber nichts weniger, als dass eben Zaubersprüche, Mythen und Symbole sie immer wieder herausfordern, dass man zu ihnen als dem Irrationalen, Magischen und Unbewussten Stellung beziehen, ja sie ins Licht ziehen muss.
Dieses Erhellen und Aufklären im ursprünglichen Sinn scheint mir auch das Motiv ihrer Beschäftigung mit Mythen in der NS-Zeit und im Krieg zu sein, ist also nicht einfach nur Flucht ins Ungefähre und Unerreichbare. Sie war mit ihrem Mann, dem Klassischen Archäologen Guido Kaschnitz von Weinberg, oft zu antiken Stätten in Griechenland und Italien gereist, und diese Erfahrungen schlagen sich in ihren Texten nieder. Seit den späten 1930ern entwarf sie Texte zu griechischen Mythen, die dann 1943 im Verlag H. Goverts veröffentlicht wurden, einem Verlag, der nicht-nationalsozialistische Autoren herausbrachte. Marie Luise Kaschnitz und ihr Mann Guido gehörten eindeutig zu diesen systemkritischen, wenn auch eher im Hintergrund lebenden und tätigen Menschen.
Die mythischen Geschichten, die sie aus verschiedenen Quellen (oft auch in Varianten) nacherzählt, sind ihr zunächst auf den Bildflächen griechischer Kunst entstanden: „Den ersten Anstoß zu meinem Mythenbuch“, schreibt sie im Nachwort zur Neuauflage 1972, „haben nicht gelesene Geschichten, sondern gesehene Vasenbilder gegeben. Bei unseren Wanderungen durch die Museen tauchten immer wieder die Fragen auf, was geht da vor, was wird da erzählt. Während mein Mann seinen archäologischen Problemen nachging, machte ich mir meine eigenen Gedanken, erkundigte mich wohl auch, wer ist der Jüngling in dem reblaubbekränzten Schiffchen, welcher Greis wird in den großen Kessel gesteckt und gekocht. Den zierlichen, manchmal recht lustigen Gestalten der Vasenbilder bin ich dann nachgegangen […]“ Sie betont auch, dass es eine subjektive Auswahl sei. Insgesamt legt sie 15 Geschichten vor, in denen Episoden und Figuren der griechischen Mythologie erzählt und zum Teil ausgedeutet werden. Ihre Interpretationen sind verhalten: keine voreilige Erklärung aus historischen Zeitumständen, kein Griff in vulgäre Psychoanalyse, so sehr diese auch auf der Hand läge. Kaschnitz nimmt vielmehr Einflüsse auf aus ihrer Lektüre von Nietzsche, Bachofen oder Walter F. Otto, die eher einen poetisch-phänomenologischen Zugang befördern.
In ihrer Sprache raunt es zuweilen, es ist eine gehobene Rede, denn es geht um Geheimnisse. Den Auftakt macht die „Schwiegertochter Noahs“, die Sibylle, „die gleich nach ihrer Geburt zu weissagen begann.“ Sicherlich eine Figur, die für eine angehende Dichterin Aussagekraft hat. Diese Sibylle wurde tausend Jahre alt, doch mit der Zeit war sie nur noch Stimme. Es gab und gibt viele von ihnen, die cumäische etwa oder die Sibylle, die ihre Sprüche einem römischen König verkaufen wollte. Entsprechend zahlreich daher die Sibyllenbücher, doch sie wurden im Jahre 400 als heidnisches Teufelswerk verbrannt. Der letzte Satz des Essays enthält eine kleine Poetik: die Welt der Sibyllen und Nymphen verkörperte hinter einem Schleier „alle Natur, die mit dem Wirken des Geistes nicht eins geworden ist, um ein Neues zu gebären: die schöpferische Tat.“ Das Schöpferische als Wirkung einer Dissonanz – ein Gedanke, der über ihrem Werk als ganzem stehen könnte.
Chiron und Asklepios, den Heilenden, widmet sie ein Kapitel. Asklepios, der große Arzt und Heiler, wird allerdings für seine Hybris bestraft, als er aus den Menschen Unsterbliche machen will. Jason und Medea werden in der Argonautenerzählung beschrieben. Stets ist das Unheimliche am Horizont, und hier ist es übrigens, wo ein Greis im Topf gekocht wird. Über das Thema hat Kaschnitz später auch ein Hörspiel geschrieben: „Jasons letzte Nacht.“
Frauenfiguren wie Medea, Demeter, Persephone, Niobe, Dido oder Marpessa finden ihre besondere Aufmerksamkeit. Sie werden genauso verstrickt in Schicksal, Macht und Verführung gezeichnet wie die Männer, nur leben sie ihr Leben eben anders. Sie sind Opfer patriarchalischer Verhältnisse, aber sie wissen sich zu wehren. Dido etwa, die von ihrem Aeneas in Karthago verlassen wird, schickt ihm einen bösen Fluch hinterher, der auf Jahrhunderte noch gegen Rom wirken sollte und sich in den Punischen Kriegen manifestierte – wobei diese Verbindung im Mythos möglicherweise erst in einer späteren Version entstanden ist, die ein römischer Soldat in Nordafrika erdachte. Dido ist im Übrigen Vorlage für Kaschnitz‘ Roman Elissa (1936).
Weitere Figuren, die sie erkundet: die Dioskuren, Theseus, Philemon und Baukis, Bellerophontes, Hephaistos, Odysseus, Eos und Perseus. Keine chronologische Ordnung schwebt ihr vor, wie sie etwa Friedrich Georg Jünger in seinen zur gleichen Zeit erschienenen Studien zu griechischen Göttern angelegt hat und auch kein zusammenhängendes Erzählen, kein Panorama, wie es Karl Kerenyi, Stephen Fry und viele andere gezeichnet haben, ist ihre Absicht. Sie bleibt frei in ihrer Wahl, in ihren Verknüpfungen und Vergleichen. Vergleichende Mythologen dürfte es also interessieren, was sie zu Medea und Lilith sagt oder generell zu germanischen vis-à-vis griechischen Mythen. In der Parallele von Hephaistos und Wieland/ Wölung fällt ihr etwa auf, dass bei aller Ähnlichkeit in der germanischen Geschichte das Heitere und Burleske fehlt. Derber Spott und Hohn obwalten und kein versöhnlicher Zug wird sichtbar – möglicherweise findet sich hier einer der wenigen Kommentare Kaschnitz‘ zur eigenen Zeit und zum nationalsozialistischen Umgang mit Mythologie als purem Heroismus.
In jedem Fall, ob griechisch, germanisch oder keltisch: die Götter sind ambivalent, das heißt, sie haben etwas von der menschlichen DNA und bleiben doch fremd. Sehr schön wird das dargestellt am Mythos der Königstochter Marpessa, die sich in den irdischen Kämpfer Ida verliebt, nachdem er sie aus den Fängen ihres Vaters befreit hat. Doch wird sie bald von Apollo in den Bann geschlagen. Ida und Apollo liefern sich einen wütenden Kampf, bis Zeus sie zum Waffenstillstand ruft. Marpessa habe nun die freie Wahl zwischen Gott und Mensch. Sie ist hin- und hergerissen, sieht den blutenden zusammengesunkenen Ida, gegenüber einem strahlenden Apollo. Fast wähnt sie sich schon an Apollos Seite, der ihr himmlische Paradiese zu versprechen scheint. Doch da wendet der Gott ihr sein Gesicht zu und sie sieht erstmals den vollen „Blick seiner riesigen Augen, in denen nicht Bitte steht, sondern Befehl […] und in dem Maße, in dem das Grauen vor dem Gott über sie Herr wird, wächst ihre Liebe zu dem sterblichen Mann.“ Auch hier verbirgt sich möglicherweise ein Hinweis auf jenen „Führer“, der kein Bitten kannte, sondern nur Befehl, und den viele Deutsche daher für einen Gott hielten.
Es geht hier also immer wieder um menschliche Entscheidungen, selbst im Geschäft mit der himmlischen Welt, die ohnehin recht irdisch anmutet. Kaschnitz sucht in den Mythen immer wieder einen Weg aus der Dunkelheit in das Helle, wo das Es zum Ich werden kann. Ihre noch an manchen Stellen zeitgenössisch gehoben-mythische Sprache und deren Widerpart im klaren Wort, in einfacher Diktion bildet einen Stil, der selbst solche Übergänge vom Dunklen ins Licht verkörpert. Ichwerdung ist nicht ohne Risiko und Mut zu haben, denn, so schreibt sie im Vorwort von 1943, das „Streben vom Dunkeln ins Helle ist befreiend, aber auch gefährlich.“ Nennen wir diese Ichwerdung doch, um in der Lichtmetaphorik zu bleiben, Aufklärung. Etwa zur selben Zeit schrieben Horkheimer und Adorno in Los Angeles ihre Dialektik der Aufklärung, in dem die Befreiung vom Mythos, aber auch die Fallen der Aufklärung als instrumenteller Vernunft gezeigt werden. Kaschnitz macht solche Beobachtungen in der bildlichen Sprache, die ihr der Mythos gewährt. (Übrigens hat sie Adorno nach seinem Tod ein knappes Gedicht gewidmet.) Nach Fertigstellung ihrer mythologischen Texte hat Kaschnitz sich in den Essays Menschen und Dinge 1945 in die Seele der Zerstörten, in die seelischen und materiellen Katastrophen durch Krieg und Nationalsozialismus versenkt. „Vom Ich“ heißt der erste Essay, „Von der Schuld“ und „Von der Verwandlung“. Es geht um eine neue Selbstfindung, um den Umgang mit Schuld durch Wegsehen und Verdrängen und um kleine Lichtblicke in eine hoffentlich bessere Zukunft. 1972 schreibt sie in ihrem Nachwort zur Neuauflage des Buches, sie habe sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Mythologie und den südlichen Landschaften lösen können und wende sich nun der Gegenwart und den Menschen zu. Mythen spielen nun an der Oberfläche keine Rolle, doch bleibt ihr Blick auf sich und das Geschehen ringsum von mythischen Mustern durchwoben: Dunkel und Licht, Lähmung und Metamorphose, das sind archetypische Erfahrungen, die der Mythos zu allen Zeiten auffängt. Hephaistos, Nausikaa, Odysseus, Arethusa, Charon leben in ihren Gedichten, Hörspielen und Erzählungen fort, wenn auch als Splitter, als vereinzelte Buchstaben eines entschwundenen Textes.
Es kann auch nicht anders sein, denn die Mythen sind das Alphabet der Imagination, aus dem wir immer wieder neu die Wörter und Sätze unserer Erzählungen buchstabieren. Sie bilden den Baukasten unserer psychischen, literarischen, politischen Welten. Wir sollten sie uns genau anschauen, bevor wir weiter blind an der Zukunft des homo sapiens basteln.
Ein Vorschlag als Nachbemerkung. Ich möchte mit Kaschnitz‘ Nacherzählungen eine Reihe in unserem MYTHO-Blog eröffnen, in der Kontexte von anderen Mythen-Nacherzählungen vorgestellt werden. Warum, wie und unter welchen historischen, und politischen Umständen haben Menschen die alten Mythen neu aufbereitet für ihre Generation? Geben uns ihre Biographien Auskunft? Man denke an Karl Philipp Moritz, Gustav Schwab Robert Graves, an Franz Fühmann, Reiner Tetzner oder an die literarischen Transformationen bei Christa Wolf und der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk bis hin zu der indischen Comic-Serie Amar Chitra Katha, in der das ganze Spektrum des Hinduismus bildlich aufgearbeitet wird. Oder an die Übersetzungen des Popol Vuh der Maya, das Kalevala von Erik Lönnrot und viele andere. Ich würde mich freuen, wenn unsere Autoren und Autorinnen sich an einer solchen Reihe beteiligen würden.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweise:
Marie Luise Kaschnitz. Griechische Mythen. München: dtv 1972 [Hamburg: Goverts 1943].
—. Menschen und Dinge 1945. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983.
—. „Mythos“, in Gesammelte Werke Band 7, hg. von Christian Büttrich und Norbert Miller. Frankfurt/M.: Insel 1989, S. 413-415.
—. Gedichte. Ausgewählt von Elisabeth Borchers. Frankfurt/M.: Insel 2002.
Hans Dieter Schäfer. Das gespaltene Bewusstsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren. Göttingen: Wallstein 2009.
Katharina Weil: „Meine Adern Porphyr“. Antikenrezeption im Werk von Marie Luise Kaschnitz. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2017, S. 212-262.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
„welcher Greis wird in den großen Kessel gesteckt und gekocht“
Die griechische Mythologie ist oft extrem brutal und grausam. Da wurde beispielsweise Pelops in einen Kessel gesteckt und gekocht. Die womöglich grausamste Überlieferung ist die des Itys. Er wurde von seiner Mutter und ihrer Schwester zerstückelt und in einem Kessel gekocht. Im Anschluss wurde er seinem Vater Tereus als Speise serviert ->
https://www.mythologie-antike.com/t1172-prokne-mythologie-tochter-des-pandion-i