Eine Reise ins mythische und reale Tamil Nadu

Im Leben gibt es eine Geographie, die unsere eigene Geschichte, unsere Schwerpunkte und Interessen widerspiegelt. Manche Orte sind nur mit bestimmten Lebensphasen verbunden. Wenn die Menschen verschwinden, sterben oder Freundschaften sich auflösen, die mit diesen Orten verbunden sind, dann verschiebt sich die seelische Geographie. Lange war für mich Freiburg zentral oder ein Ort in Großbritannien (westlich von Birmingham), russische Namen auf der Landkarte – dann endet das Studium, Freunde verlassen die Welt oder ein bis dato geliebtes Land überfällt das Nachbarland. Aus ist’s mit den Reisen dorthin. Seit 25 Jahren bin ich immer wieder nach Pondicherry gefahren. Wenige Kilometer entfernt davon liegt Auroville, eine Siedlungsstadt, die als Zukunftsvision vor gut 65 Jahren entstand. Dort wohnt mein Vetter (mit seiner indischen Frau) seit einem halben Jahrhundert und arbeitet als Architekt und Archäologe. Ohne ihn wäre ich wohl nicht nach Indien gegangen, schon gar nicht so oft. Für mich ist das international aufgestellte Auroville, in einem großen Wald gelegen, immer ein Anlaufpunkt gewesen, vor allem auf meiner ersten Reise 1998. Indien ist für den unvorbereiteten Europäer eine große Nummer: verwirrend, rasend, schön, arm und selig, stinkend, schlechte Luft, Hupsinfonien, überwältigende Tempel, wunderbare Menschen und seltsame Gockel.

Pondicherry als Hafenstadt ist seit der Antike immer schon im Kontakt mit Europa gewesen. Man hat dort römische Glasperlen und Münzen ausgegraben. Auch in der Kolonialzeit, in der es öfter mal die Herrschaft wechselte – französisch-britisch-französisch – war es eine begehrte Stadt. Bis heute hat es aus dieser Zeit einen Reiz: die französische Architektur von Villen und Institutionen. Mit den tamilischen Traditionen bildet dies eine ungewöhnliche Mischung im sonst meist britisch kolonialen Stil Indiens. Westlichen Lesern und Kinogängern ist es bekannt als Ausgangsort für das Buch von Yann Martel, Life of Pi (Schiffbruch mit Tiger). Ich hörte von einem Denkmal im Botanischen Garten (dem ältesten Indiens), das an die Dreharbeiten erinnern soll. Am Tor steht ein Eiswagen, auf dem der Verkäufer gerade ein Nickerchen hält, schön gekühlt in der Hitze des Tages. Frage an den Torhüter:

  • Is there something about Life of Pi here?
  • Pie? No Pie, Sir!
  • I mean about the Tiger in the boat.
  • No Tiger here, no, Sir!
  • Well, I mean, äh, the book…
  • No, Sir, no books here!

Pondicherry, das heute auch wieder Puducherry heißt, ist ideal als Ausgangsort für das Buch, das sich mit der Vielfalt der Religionen beschäftigt. Hier finden sich Hinduismus, Yoga, Christentum und Islam einigermaßen friedlich zusammen.

Zentral ist der Ganesha-Tempel. Hier steht ein Elefant am Eingang, um die Pilger zu grüßen. Man beschenkte ihn bis bei meinem letzten Besuch mit Früchten und Gemüse, das an der Ecke zu kaufen war. Dafür streichelte er den frommen Kunden mit dem Rüssel übers Haar. Bei meinem letzten Besuch muss ich wohl etwas falsch gemacht haben, denn er gab mir geradezu eine Rüssel-Ohrfeige. Heute ist sein Platz leer, er ist vor kurzem gestorben. Dafür kaufe ich einer der Frauen eine Opfergabe für den Tempel ab: Blumen, Kokosnusshälfte, kleine Bananen. Aber wohin damit im Tempel? Diese Hindu-Tempel sind wahrhaft komplizierte Maschinen, in denen man die richtigen Hebel bedienen muss. Hier ein Wink des Brahmanen, mich einzureihen, dort ein Kopfschütteln, als ich Bananen ablegen will, Stirnrunzeln einer alten Frau, dann die Frage nach meinem Namen, Bepunktung der Stirn mit grauer Asche wie am katholischen Aschermittwoch. Was für ein Unbedarfter schreitet hier durch die Hallen!

Bei abendlichen Gängen durch das französische Viertel bezirzt mich schon länger die Fassade einer christlichen Kirche: sie flimmert mit Birnen in allen Farben, als locke sie in eine Disko oder ein Bordell. Heute fegt der Pfarrer auf dem Fußweg und ich frage ihn, ob er mich hineinlässt. Kein Problem. Drinnen ist alles leicht hinduistisch angetönt, Jesus und seine Jünger, Maria, der hl. Antonius von Padua… aber auf dem Altar steht das Foto eines älteren Paares. Wer mögen sie sein? Es sind des Pfarrers Eltern, die die Kirche aufgebaut haben. Ein katholischer Pfarrer und seine Frau? Vielleicht. Es lebe die kulturelle Hybridität und ein bisschen Ahnenkult darf auch sein. Dennoch, für das westliche Auge ist es immer eine kleine Erholung, nach den Tempeln in eine christliche Kirche zu gehen – einfach wegen der geringeren Überladung der Sinne. Die Hindu-Tempel halten den Rekord in Sinnesfülle, gefolgt von den Orthodoxen und den Katholiken, die nun mal die Protestanten abgehängt haben. Vom göttlichen Supermarkt zur nüchternen Herrschaft des Wortes. Der Weg geht von Ost nach West. Amerika ist wieder eine andere Geschichte.

An der Universität Pondicherry halte ich einen Vortrag über Nietzsche. Die Studenten stellen lebhaft Fragen, sie sind helle, sie haben Ideen und Kenntnisse. Ein Kollege, der meine Vorliebe für Mythologie erkennt, sagt, ich müsse unbedingt seine Tochter treffen, die sprudle nur so über von Mythen, egal ob griechischen, indischen, aztekischen oder germanischen.

Derweil erschüttert eine Krise die Utopie namens Auroville. In den 1960ern wurde die spirituell-ökologisch ausgerichtete Siedlung gegründet, die nach dem Traum ihrer Erfinderin Mother (eigentlich Mirra Alfassa, eine Französin) einst 50 000 Einwohner haben sollte. Im Einklang mit ihrem französischen Architekten sah sie eine spiralförmige, galaktische Struktur vor sich. Oder hatte der Architekt, getrieben von französischen Avantgarde-Ideen der 1950-60er, gar von Science Fiction, diesen kosmischen Nebel hineingedeutet? Wo sollte die Stadt entstehen, wo ihre Mitte sein? Mother, sagt man, zeigte mit dem Finger auf die Landkarte. Man identifizierte den Ort im Nirgendwo einer Wüste, fuhr hin und stand vor einem riesigen alten Banyan-Baum, dessen Äste von oben herab in die Erde hineinwachsen. Unter dem elefantenartigen Baum wohnte eine einsame alte Frau in ihrem Zelt. Der Baum und die Frau mussten dort bleiben, das war keine Frage. Wenig entfernt davon arbeitete man bald über Jahrzehnte an einer goldenen Kugel, dem Matrimandir. Der weiße Innenraum mit einem zentralen großen Kristall dient seither der Meditation. Das Äußere bleibt den Touristen vorbehalten, die vom Gold gelockt werden. Für ein Selfie reicht die Kugel allemal.

Aber bevor goldene Kugeln entstehen, muss erstmal eine Wüste befruchtet werden. Und darin liegt ein großes, sichtbares Verdienst dieser internationalen Siedler (USA, Deutschland, Frankreich, Israel, Russland und viele andere Länder), die zusammen mit Indern hier einen großen Wald angelegt haben, der jetzt stellenweise Dschungel geworden ist. Ja, es gibt Kobras, Mungos und fliegende Hunde in der Abenddämmerung, die die Dachterrasse vollkacken. Die Galaxie ist bislang nicht verwirklicht worden, die Raumschiffe sind noch Motorbikes und Fahrräder, die Einwohnerzahl liegt vielleicht bei 3000. Derweil gibt es wieder Bestrebungen, den Traum zu verwirklichen. Doch Träume, so mein Vetter, verwandeln sich leicht in Fossilien, und die Anbetung von Fossilien kann eine tödliche Sache werden. Denn eine Fraktion will auf Biegen und Brechen die Spirale durchsetzen, was heißt: breite Straßen durch den Dschungel und sogar den botanischen Garten schlagen. Dagegen haben mehrere hundert Aurovillianer sich vor die Bulldozer gesetzt. Und als ein bewährter Aurovillianer wegen Kritik am Management eine fristlose Ausweisung erhielt, versammelten sich Hunderte zu einem Konzert für ihn. Auroville, das zeigt auch diese Krise (es ist nicht die erste), ist ein Spiegelbild der Welt insgesamt. Keine Utopie entkommt der Wirklichkeit.

Der bengalische Philosoph und Dichter Sri Aurobindo war schon tot, als seine Gefährtin Mother dieses Projekt aus der Taufe hob. Es basiert jedoch auf seinen spirituellen Visionen: einer Herabkunft des überirdischen Geistes, der die Erde zu berühren beginnt und dem von unten zugearbeitet werden muss. Er selbst war ja in England erzogen worden, und in Englisch sind seine Werke geschrieben über die Evolution des Geistes (The Life Divine), aber auch sein visionäres Langgedicht (Savitri), das weit über die Maßstäbe unserer Zeitvorstellung hinausreichen (für mich teilweise vergleichbar mit der Science Fiction eines Olaf Stapledon). Als er 1893 nach Indien zurückkam, wurde er zum Kopf der indischen Freiheitsbewegung in Bengalen. Die Briten sperrten ihn als Rädelsführer ein, mussten ihn aber nach einem Jahr freilassen. 1910 zog er in die französische Enklave Pondicherry, um vor den Briten gesichert zu sein. Seine Gedanken lebten weiter im Wirken der Mother, die das Projekt Auroville entwickelte.

Als ich das erste Mal vor 25 Jahren nach Indien kam, erlebte ich in Delhi eine Überraschung, an die ich mich heute wieder erinnere. Ich war bei einer indischen Familie zum Abendessen eingeladen und die Kinder, zwischen sieben und zwölf Jahren, unterhielten mich pausenlos mit Geschichten aus der indischen Mythologie. Zum ersten Mal hörte ich vom Elefantengott Ganesha, von Krishna, Brahma oder Indra und von Garuda, dem Reittier Vishnus. Zum Vergleich: was wird ein deutsches Kind erzählen? Vielleicht was aus Fernsehserien oder Märchen (dank Disney)? Paw Control? Geschichten von Feuerwehrleuten? Neue Mythen, in denen Rotkäppchen den Wolf frisst? Jedenfalls leben in Indien die alten Mythen fort, die Menschen aus allen Schichten kennen zumindest große Bruchstücke. Vor etwa 150 Jahren meinte der größte Indologe seiner Zeit, Max Müller, der Hinduismus werde keine große Lebensdauer mehr haben. Inzwischen sieht es wieder ganz anders aus, zum Teil auch bedingt durch eine Politik, die das Traditionelle durchdrücken möchte. Gerade hier erweist sich, wie notwendig es ist, sich mit Mythen auseinanderzusetzen und sich zu fragen, warum sie immer wieder viral werden, insbesondere wenn es um kollektive Phantasien geht, um nationalen oder ethnischen Narzissmus.

Der Kollege von der Universität bringt mich heute mit seiner mythengesättigten Tochter zusammen. Wir treffen uns mit seiner Familie an einem Abend an der Strandpromenade von Pondicherry, die von einer großen Gandhi-Figur beherrscht wird. Die Tochter ist 13 und Feuer und Flamme, sobald das Wort „myth“ auftaucht. Sie kennt alle indischen und griechischen Mythen, ist bei den germanischen und keltischen ebenso zuhause wie in Mexiko bei den Maya und Azteken. Und dass sich Napoleon in Leipzig eine Niederlage zuzog, wusste sie auch. Mit sieben hat sie ein Buch alter Ratschläge aus dem Tamilischen ins Englische übersetzt. Ich darf ein Exemplar mitnehmen. Auf Youtube kann man von ihr einen Vortrag über „habits“ finden. Eine ideale Vertreterin des Subkontinents für unseren Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie, Filiale Tamil Nadu. Wir sind gespannt auf ihre Blog-Beiträge!

Einer, der die indischen Mythen auf moderne Weise hinüberträgt, ist der Pharmazeut und Publizist Devdutt Pattanaik. Ich stieß erstmals im Flughafen Chennai auf seine Bücher. Er hat das Ramayana und das Mahabharata für ein heutiges Publikum vorgestellt und interpretiert, hat einzelnen Göttern Bücher gewidmet, ebenso den Ritualen, Symbolen und dem Kalender des Hinduismus. Ein guter Einstieg ist Myth=Mithya. Decoding Hindu Mythology (2006). Für uns von besonderem Interesse ist sein Vergleich von indischen mit griechischen Mythen Olympus – An Indian Retelling of Greek Mythology (2016). Pattanaik ist sehr populär in Indien, seine Bücher sind Bestseller und er ist eine Mediengröße. Er ist auch umstritten, zumal bei konservativen Hindus, die seine liberalen Interpretationen nicht mögen – so gibt er auch queeren Mythen und Gottheiten einen Raum. Seine Bücher hat er selbst mit prägnanten Zeichnungen illustriert. Soweit ich sehe, gibt es bislang von seinen vielen Büchern nur eine deutsche Übersetzung: Frauen in indischen Mythen (2001). Es wird Zeit, dass wir uns mit den Geschichten beschäftigen, die fast ein Drittel der Weltbevölkerung prägen!

Ich lese auch gern die Mythen in Comicform. Die Hefte (Amar Chitra Katha)  laufen seit Jahrzehnten und decken alles ab von Krishna und Brahma bis hin zu Gandhi und Jesus. Das Christentum kann man durchaus als eine vom Hinduismus abgespaltete Religion betrachten und es gibt viele, die glauben, dass Christus in Indien eine Lehre durchlief und am Ende im Himalaya begraben wurde. Die Hefte geben eine lebendige Einführung in die Mythen und Historien des Ramayana und des Mahabharata, auch wenn man die dort verbreiteten visuellen Stereotypen kritisch sehen muss (die dunkelhäutigen unteren Kasten und Rebellen im Vergleich zu hellhäutigen Helden etwa). 

Wir fahren mit einigen Architekturstudenten aufs Land, um eine nachhaltig lebende Kommune zu besuchen. Auf dem Weg taucht der heilige Berg Südindiens auf, der Arunachala. Shiva hat hier seine Feuersäule manifestiert, um die anderen Götter in die Schranken zu weisen. Daher heißt er auch Berg des Lichtes. Der große Guru Ramana Maharshi hat hier fast dreißig Jahre meditiert und Tiruvannamalai am Fuß des Berges ist ein großes Pilgerzentrum. Vor 25 Jahren habe ich mit meinem Vetter nahe am Gipfel geschlafen und wir sahen eine kleine Feuersäule – die eines Gurus in seiner Höhle. Und die Affen dort werden wir auch nicht vergessen, die an unsere Rucksäcke wollten… Diesmal reicht es nur für ein Foto.

Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Eine Reise ins mythische und reale Tamil Nadu“

  1. Tief zu bewundern! Bewußtsein, Gedanken, Achtung und Respekt auch gerade für das Fremde zeigt Bildung! Interesse und Wissen ermöglicht ein individuelles Leben, das die Gemeinscht Formen und geleiten kann! Die Species homosapiens wir weltweit – Landschaft- , Lebensbedingungen- und Kultur abhängig geprägt! Unser Biotop formt uns und unser mythisches Hilfsuchen!

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