Mythen im Rechtsextremismus

Mythen als Erzählungen über das Verhältnis von Menschen und Göttern und anderen höheren Mächten spielen in der Regel im religiösen, aber auch im vor-aufgeklärten oder im esoterischen Bereich eine wichtige Rolle. Weit weniger vermutet man sie heute im politischen Raum.

Ganz anders war dies noch in der Antike, wie beispielsweise die griechischen Tragödien von Sophokles oder Aischylos zeigen. Der Bezug auf Mythen floss damals durchaus in die Politik ein, und zwar nicht nur in der griechischen, sondern auch in der römischen Antike, wo Titel und Position des Pontifex Maximus („Oberpriester“, oberster Hüter des römischen Götterkultes) spätestens seit dem 3. Jahrhundert vor Christus von Politikern wahrgenommen wurden. Bekannt ist z.B., dass Gaius Julius Caesar im Jahre 63 v. Chr. in dieses Amt gewählt wurde. Später kam diese Position den Kaisern zu.

Heute hingegen sind Bezugnahmen auf Religion und Mythen in der Politik im deutschsprachigen Raum selten. Zwar berufen sich CDU und CSU regelmäßig auf christliche Traditionen und Werte. Und von der AfD wird Christliches als Gegenposition zu Islam und Migration instrumentalisiert, um xenophobe Politikvorstellungen zu unterstützen. Doch faktisch sind Referenzen auf Religion und eine höhere Sphäre lediglich Marginalien. Klein- und Kleinstparteien wie das konservative Zentrum oder das christlich-fundamentalistische Bündnis C spielen in der Politik weder auf Bundes- noch auf Landesebene eine nennenswerte Rolle; andere Kleinstparteien wie die Partei Bibeltreuer Christen oder die Christliche Mitte haben sich inzwischen aufgelöst.

In der letzten Zeit zunehmende politische Bedeutung gewonnen haben hingegen Verschwörungsmythen. (Vgl. dazu den eigenen Beitrag unter https://www.vergleichende-mythologie.de/verschwoerungsmythen/) Dabei spielt in der Tat das Wirken geheimnisvoller, jedoch in der Regel irdischer Mächte eine wichtige Rolle für die Welterklärung. Doch die Bezugnahme auf Mythen in Teilen des Rechtsextremismus ist noch gänzlich anders geartet:

Denn Rechtsextremisten sehen sich als Wahrer des Deutschtums, dessen Wurzeln sie in einer Linie bis zu den Germanen zurückverfolgen. Wie schon manche Nationalsozialisten, u.a. einflussreiche Kreise um den Reichsführer der SS Heinrich Himmler, stellen Teile der rechtsextremen Szene nicht nur im völkisch-genetischen Sinne eine Tradition zurückreichend bis zu den Germanen her, sondern verbinden diese auch mit einer vermeintlich „arteigenen“ Religion im Kontrast zum Christentum: der nordisch-germanischen Mythologie.

Wie gestaltet sich nun der konkrete Zugriff auf die Mythologie? – Hier gibt es mehrere Ebenen, die in unterschiedlicher Weise und Intensität im Rechtsextremismus genutzt werden:

1. Die beliebteste Form der Adaption besteht in der Bezugnahme auf einzelne Gottheiten aus der Mythologie.

2. Ferner unterliegen auch andere Figuren mit übernatürlichen Eigenschaften dem rechtsextremen Zugriff. Dies sind vor allem Riesen, aber auch Zwerge und andere Gestalten, wie beispielsweise die Nornen. Im Einzelfall richten sich die Bezüge darüber hinaus auf Tiergestalten aus der Mythologie oder sogar auf die so genannten Weltfeinde.

3. Menschen, die in der mythologischen Überlieferung vorkommen, können in einer rechtsextremen Mythos-Rezeption ebenfalls ausgedeutet werden. In der Regel sind dies in den Mythen positiv dargestellte Figuren.

4. Ein weiteres Feld, auf dem eine rechtsextreme Bezugnahme erfolgt, stellen Orte, Einrichtungen und Gegenstände aus den mythischen Erzählungen dar.

5. Mythische Konzepte sind beliebt als Ausgangspunkt für eine ideologisch bedingte Interpretation, d.h. zur Vermittlung programmatischer Inhalte.

6. Schließlich werden auch Vorstellungen, Riten und Bräuche rezipiert, die oftmals aus der Volksüberlieferung stammen und häufig nur zum ferneren Umfeld der klassischen Mythologie zählen bzw. deren Herkunft bisweilen sogar umstritten ist.

Bei allen diesen unterschiedlichen Formen, wie die nordisch-germanische Mythologie von Rechtsextremisten adaptiert wird, sind zwei wesentliche Gemeinsamkeiten zu erkennen: Erstens werden nur diejenigen Teile der nordisch-germanischen Mythologie thematisiert, die sich in Einklang mit völkischer Ideologie, den Idealen von Stärke und gewaltsamer Durchsetzung der eigenen Interessen und dem Bild des germanischen Heroentums bringen lassen. Daraus direkt resultierend, erfolgt zweitens in der Regel keine tiefere Beschäftigung mit der Mythologie, ihren vielschichtigen Inhalten und ihrer Überlieferungslage. Insgesamt bedeutet dies, dass der Zugriff gemeinhin eher oberflächlich, plakativ und selektiv ist und dabei allein auf bestimmte ideologische Zwecke fokussiert.

Insbesondere die Tatsache, dass die nordisch-germanische Mythologie von ihrer Überlieferungslage her durchaus problematisch ist, wird im Rechtsextremismus weitgehend ausgeblendet. So kann beispielsweise eine konsistente Theologie aus allen vorliegenden Überlieferungen zur nordisch‑germanischen Mythologie nicht erschlossen werden. Zudem stammt ein großer Teil dessen, was heute von den nordisch-germanischen Mythen bekannt ist, aus Texten wie der Edda, die erst nach der Christianisierung entstanden und mutmaßlich christlich überformt sind. Auch die Beschreibung der Glaubenswelt der germanischen Stämme ist zahlreichen Unsicherheiten unterworfen. Da die Mythen meist in literarischen und z.T. geheimnisvoll-dunkel formulierten Texten überliefert wurden, ist es notwendig, diese Texte passend zu interpretieren. Jede Darstellung ist somit mehr oder minder plausible Deutung und Spekulation zugleich. Ohnehin ist kaum anzunehmen, dass es eine einheitliche Mythologie über alle germanischen Stämme hinweg gegeben hat. Zudem unterlagen die mythologischen Vorstellungen naheliegenderweise auch einem zeitlichen Wandel. Von einer germanischen Mythologie als einem geschlossenen Ganzen kann daher nicht gesprochen werden. Dies alles wird in der rechtsextremen Aneignung ebenso wenig beachtet wie die Tatsache, dass es für den deutschsprachigen Raum nur sehr spärliche Quellen zur Mythologie, so u.a. die so genannten Merseburger Zaubersprüche, gibt und daher aus der nordischen Überlieferung auf die Mythen im mitteleuropäischen Raum geschlossen werden muss.

Für die konkreten Zugriffe auf die nordisch-germanischen Mythen im Rechtsextremismus können hier lediglich einige Beispiele angeführt werden, für die weitere Beschäftigung sei auf die Literatur verwiesen (s.u.). Von den zahlreichen Götterfiguren, die es in der nordisch-germanischen Mythologie gibt, sind es vorwiegend zwei, die im Rechtsextremismus verstärkt rezipiert werden, nämlich Odin/Wodan und Thor/Donar. (Odin und Thor sind die Namen, die im nordgermanischen Bereich für die Gottheiten verwendet wurden, Wodan und Donar hingegen im Süden.) Beide Götter werden in der rechtsextremen Rezeption als Exponenten von Stärke und Gewalt dargestellt. Im Falle Odins, der in der nordisch-germanischen Mythologie als der Hauptgott angesehen wird, spiegeln dies Namen einschlägiger rechtsextremer Bands und anderer Gruppen wider, wie beispielsweise Wotanskrieger, Krieger Odins, Odins Berserker, Wotans Heer, Waffenträger Wotans usw. Lose Zusammenschlüsse, aber auch rechtsextreme Kameradschaften wählten Namen, die auf Odin Bezug nehmen und damit die Zugehörigkeit zum Germanentum betonen, wie z.B. Wotanorden, Söhne Wotans, Wotans/Odins Volk, Odins Erben. Man stellt sich so in den Schutz der Gottheit oder befürwortet das mit Odin/Wodan (= „der Wütende“) verbundene Programm.

Wie stark die normative Bedeutung von Odin und dem Glauben an ihn in der Szene eingeschätzt wird, belegen auch der immer wieder anzutreffende Hinweis auf Odins Law („Odins Gesetz“) oder auch das Bekenntnis Odin statt Jesus. Die Gottheit wird so als personifizierter Kontrast zum Christentum und den Werten der demokratischen Gesellschaft ausgedeutet. Denn Odins Law bedeutet nicht irgendeine inhaltsleere Phrase, sondern steht für die Durchsetzung der eigenen Interessen unter Einsatz von Gewalt, d.h. in dem vereinfachten Sinne, wie die Gottheit im Rechtsextremismus rezipiert wird.

Noch weit mehr wird Thor in der rechtsextremen Szene herausgehoben. Als Gott des Gewitters ist Thor als personifizierte Gewalt noch anschaulicher und populärer als Odin/Wodan. Das zeigt sich auch darin, dass die bekannteste rechtsextreme Modemarke Thor Steinar heißt. Ob der Name wirklich auf einen unbedeutenden Komponisten zurückgeht, wie bisweilen lanciert wird, darf angesichts der programmatischen Bedeutung des Namens (Steinar = „Steinadler“) bezweifelt werden.

Auch individuell wird Thor/Donar für das Bekenntnis zu Gewalt ausgedeutet, indem zahlreiche Rechtsextremisten im Internet als Pseudonyme Bezugnahmen zu Thor wählen. In Formen wie Der Donnerer, Thors Rache oder Soldat.Thor ist die aggressive Grundhaltung sehr leicht erkennbar. Eine Gewaltbotschaft ergibt sich auch durch die zahlreichen Bezugnahmen auf den Hammer Thors namens Mjölnir, der nach mythologischer Vorstellung alle Feinde erschlagen kann. Mjölnir und auch Thorshammer wurden jeweils als Namen von rechtsextremen Bands gewählt. In verschiedenen Liedern rechtsextremer Bands wird überdies der Thorshammer besungen und seine unbezwingbare Macht thematisiert. Mjölnir findet sich zudem häufig als Pseudonym rechtsextremer Diskutanten im Internet.

Bei rechtsextremen Versendern im Internet gibt es ein nahezu unüberschaubares Angebot an Schmuckgegenständen mit dem Thorshammer, Aufkleber, Buttons, T-Shirts oder andere Bekleidungsstücke, die den Hammer Mjölnir abbilden, sind in der Szene beliebt. Hinter Odin und Thor stehen alle anderen Gottheiten aus der nordisch-germanischen Mythologie zurück. Zwar finden auch weitere Götter wie Tyr, Heimdall oder Loki Eingang in die rechtsextreme Mythenrezeption, doch meist vereinzelt und ohne breitere öffentliche Wirkung. Dasselbe gilt für die weiblichen Gottheiten, auf die naturgemäß eher von Frauen aus der Szene zurückgegriffen wird. Zwar gibt es bei Pseudonymen im Internet und in den sozialen Netzwerken bisweilen Namen, bei denen auf die Vanengottheit Freyja Bezug genommen wird, aber weit häufiger identifizieren sich Frauen aus der rechtsextremen Szene, wenn sie auf die germanische Mythologie zugreifen wollen, mit den Walküren.

Die Walküren sind in der nordisch-germanischen mythologischen Überlieferung sehr facettenreiche Gestalten, ursprünglich Totendämoninnen, dann als irdische Schildmädchen und Kriegerinnen verstanden, die auf dem Schlachtfeld die gefallenen Krieger für Walhall auswählen. Sie sind dem Gott Odin geweiht. Die Identifikation mit den Walküren lässt sich als ein Bekenntnis zur Rolle der Frau im neonazistischen Weltbild deuten, sind sie doch in der romantisch überlagerten Rezeption der Mythologie als kraftvoll und dem Idealbild der germanischen Frau entsprechend dargestellt. Erkennbar wird diese Rollenzuschreibung beispielsweise bei Kleidungsstücken mit Aufschriften wie Walküre oder auch Odins Walküren. Ein für rechtsextreme Frauen konzipiertes Parfüm trägt ebenfalls den Namen Walküre.

Neben den Göttern wird gerne auf Riesen aus der nordisch-germanischen Mythologie Bezug genommen. Der Grund hierfür ist leicht erkennbar: Den Riesen werden ebenso wie den Göttern übermenschliche Fähigkeiten zugeschrieben. Vor allem wird dabei rohe Gewalt betont; aber auch List und Verschlagenheit gehören zu den besonderen Eigenschaften von Riesen, die sich gegen widrige Umstände in ihrem Lebensbereich Utgard durchsetzen müssen. So nannte sich das lange Zeit bedeutendste und teilnehmerstärkste Forum rechtsextremen Austausches im Internet nach dem Riesen Thiazi (Thjazi), der nach der mythischen Überlieferung beinahe den Gott Loki bezwingt, dann aber von den Göttern getötet wird. Seine Tochter Skadi wird unter die Götter aufgenommen und nimmt den Gott Njörd zum Mann.

Allen Riesen werden extreme Körpereigenschaften, vor allem besondere Kräfte zugeschrieben, worauf in der rechtsextremen Adaption der Mythen immer wieder referiert wird. Insgesamt sind aber Bezugnahmen auf die Riesen weit weniger häufig als solche auf die Götter, was leicht aus dem Selbstverständnis der Nutzer zu erklären ist, stehen doch die Götter im Prestige und bei den Fähigkeiten deutlich über den Riesen, so dass eine Identitätsstiftung durch Götter attraktiver ist als lediglich durch den Bezug auf die Riesen.

Wie oben bereits erwähnt, sind es aber nicht nur Namen von Gestalten aus der Mythologie, die im Rechtsextremismus zur Identitätsstiftung und zum Transport von Ideologie, insbesondere im Sinne des Sozialdarwinismus (= der Stärkere setzt sich durch) und des völkischen Konzepts einer Tradition bis zu den Germanen, dienen, sondern auch einzelne Gegenstände oder Orte werden in die Mythen-Adaption einbezogen. Schon genannt wurde der Thorshammer Mjölnir, der ein wichtiges Symbol für Stärke und Durchsetzungsfähigkeit darstellt. Ebenso wird der Wotansspeer Gungnir als Name bisweilen genutzt, so z.B. bei einer rechtsextremen Zeitschrift, die sich den Titel Der Wotansspeer gab. Ein Förderkreis des rechtsextremen Thule-Seminars trug den Namen Gungnir. Der Speer kann vor allem als Herrschaftssymbol gedeutet werden und symbolisiert Macht und Herrschaftsanspruch, den sich Rechtsextreme selbst zuschreiben. Insgesamt besitzt die Verwendung von Bezügen auf Gegenstände aus der Mythologie immer auch eine symbolische Funktion.

Ferner sei auf die beliebten Bezüge auf Walhall im Rechtsextremismus verwiesen. Diese finden sich beispielsweise auf T-Shirts oder in Liedtexten aus der Szene. Walhall als Sammelstätte für Krieger, die ihr Leben in heldenhafter Weise auf dem Schlachtfeld verloren haben (= Einherier), gewinnt in der nordisch-germanischen Mythologie Bedeutung vor allem mit Blick auf die Ragnarök, den Endkampf von Göttern und Weltfeinden. In diese finale Schlacht, die mit dem Untergang der alten Ordnung endet, rücken zur Unterstützung der Götter auch die Einherier aus Walhall aus. Schon im Nationalsozialismus wurde die Ragnarök als Vorbild für die Entscheidungsschlacht verklärt.

Im rezenten Rechtsextremismus wird dieser Endkampf auf die Auseinandersetzung mit der pluralistischen Gesellschaft bezogen. Damit propagieren Rechtsextremisten eine bevorstehende Zeitenwende, deren Kern in der gewaltsamen Ablösung der parlamentarischen Demokratie (so genannte „Nationale Revolution“) besteht. Durch den Vergleich mit der Ragnarök wird dieses angestrebte Ziel als notwendiger Untergang des Bestehenden dargestellt, und zugleich wird dem eigenen Kampf so eine religiöse Komponente und höhere Legitimation verliehen. Konzept und Benennung des Endkampf-Ereignisses werden daher im Rechtsextremismus vielfältig rezipiert und schon sehr lange vereinnahmt. Bereits im Jahre 1979 wurde eine rechtsextreme Band mit dem Namen Ragnaröck gegründet. Diverse Szene-Geschäfte firmierten ebenfalls unter dem programmatischen Namen Ragnarök, wie z.B. ein Geschäft in Reichenbach im Vogtland oder ein einschlägig rechtsextremer Laden in Halberstadt.

Implizit auf die Ragnarök bezogen sind auch Bezeichnungen, die auf eine Endzeit referieren und die Institutionen in rechtsextremen Netzwerken bezeichnen, wie z.B. das Musik-Label Endzeit-Klänge, der Endzeit-Versand, das Endzeit-Forum usw.

Mit der nordisch-germanischen Mythologie nichts zu tun haben hingegen die zahlreichen Bezugnahmen auf das Werwolf-Motiv, selbst wenn in den Mythen der Fenriswolf als einer der Weltfeinde ebenfalls eine angsteinflößende Rolle spielt. Vielmehr ist die Vorstellung vom Werwolf noch im Mittelalter im Volksglauben nur von untergeordneter Bedeutung. Denn es handelt sich wohl eher um eine aus der gelehrten Literatur in den Volksglauben verbreitete Vorstellung. Dennoch passt sie durchaus in manche der Muster, die auch die Mythen für eine Adaption im Rechtsextremismus prädestinieren. Vor allem der Aspekt des Geheimnisvollen, verbunden mit der übermenschlichen Gefahr, macht es attraktiv, sich mit dem Werwolf zu identifizieren.

Beispielsweise gab sich eine Skinband aus der Szene den Namen Werwolf. Ein rechtsextremes Fanzine aus der Schweiz schmückte sich ebenfalls mit dem Namen Werwolf. Auf Kleidungsstücken, die in rechtsextremen Kreisen gerne getragen werden, prangen Aufschriften bzw. Markennamen wie Werwolf Germany oder (mit falscher Schreibung – wohl um bewusst den Bezug zum Kampf und zugleich auch einen Anklang an Wehrmacht herzustellen) Wehrwolf. Wenn Sympathisanten oder Angehörige der rechtsextremen Szene Kleidungsstücke mit der Aufschrift Werwolf tragen oder ihre Autos mit entsprechenden Aufklebern versehen, so sollen damit die Eigenschaften dieser Figur auf den Kleidungsträger bzw. den Autofahrer übertragen werden.

Beim Rückgriff auf den Werwolf-Mythos wird insbesondere auf dessen Vereinnahmung im Nationalsozialismus Bezug genommen: Am 2. April 1945 wurde durch das nationalsozialistische Regime die Bildung einer Untergrundarmee namens Werwolf proklamiert, die bis zum „Endsieg“ weiterkämpfen sollte. Angelehnt daran entstanden in den 1970er Jahren eine Wehrsportgruppe Werwolf und die Werwolfgruppe Stubbemann (benannt nach ihrem Initiator, dem Neonazi Frank Stubbemann), die das Terror-Konzept der Partisanenaktivitäten aufgriffen.

Gerade das Beispiel des Werwolf-Motivs zeigt deutlich, dass es in der rechtsextremen Szene keineswegs um eine historisch korrekte Rezeption der Mythen geht, sondern dass diese vielmehr als Erkennungszeichen und Mittel zum Transport rechtsextremer Ideologie dienen. Insgesamt kann man also feststellen, dass der rechtsextreme Mythenzugriff eklektizistisch ist, er also nur selektiv das ideologisch Passende auswählt. Möglich wird eine solche im eigentlichen Sinne gänzlich unhistorische und verfälschende Nutzung der Mythen allerdings erst dadurch, dass in breiten gesellschaftlichen Kreisen tiefere Kenntnisse über die nordisch-germanische Mythologie fehlen.


Ein Beitrag von Prof. Georg Schuppener


Georg Schuppener ist Sprachwissenschaftler, Naturwissenschaftshistoriker und promovierter Mathematiker. Er lehrt an Universitäten in Deutschland, Tschechien, Russland und der Slowakei. Seit 2011 ist er Professor in Ústí nad Labem. 2002 erhielt er den Theodor-Frings-Preis der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Zu seinen interdisziplinären Forschungsschwerpunkten zählen Sprachgeschichte (Sprachwandel und Sprachvariationen), Soziolinguistik, mythologische Literatur sowie die Geschichte der Mathematik und Volkskunde.


Literaturhinweise:

Banghard, Karl (2016): Nazis im Wolfspelz. Germanen und der Rechte Rand. Hrsg. vom Archäologischen Freilichtmuseum Oerlinghausen. Wuppertal: de Noantri.

Eschebach, Insa/Thye, Elke (1995): Die Religion der Rechten. Völkische Religionsgemeinschaften – Aktualität und Geschichte. Dortmund: Humanistischer Verband Deutschlands.

Gallé, Volker (Hrsg.) (2015): Germanische Mythologie und Rechtsextremismus. Missbrauch einer anderen Welt. Worms: Worms-Verlag.

Schuppener, Georg (2017): Sprache und germanischer Mythos im Rechtsextremismus. Leipzig: Edition Hamouda.

Schuppener, Georg (2021): Die Schatten der Ahnen. Germanenrezeption im deutschsprachigen Rechtsextremismus. Leipzig: Edition Hamouda.

Schuppener, Georg (2022): The Germanic Tribes, the Gods and the German Far Right Today. Routledge Studies in Fascism and the Far Right. London/New York: Routledge.

Simek, Rudolf (2021): Götter und Kulte der Germanen. 5. Auflage. München: C.H. Beck.


Hinweis: Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projektes GAČR 22-00551S, das mit Mitteln der Tschechischen Forschungsförderungsagentur (GAČR) gefördert wird.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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