Zum Ende der Welt: Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 7: Taygetos

Aus Richtung Gythio kommend, durchquerten wir eine kleine Ortschaft am Fuße des Gebirges. Ein Dutzend Häuser links und rechts der Straße, an einem Abzweig ein größeres Anwesen, ein Wohnhaus mit Nebengebäuden und einem Innenhof. Aus dem Hof rief uns ein Mann an, der dort gesessen hatte. Auf die Frage, wohin wir gingen, antworteten wir wahrheitsgemäß: Auf die andere Seite des Gebirges, nach Kardamili. Ungläubiges Erstaunen war die Reaktion. Eine schwarz gekleidete alte Frau bekreuzigte sich. Man bat uns in den Hof, ließ uns Platz nehmen und eine zweite, an einem Stock sich nur mühsam vorwärts bewegende uralte Frau schlurfte ins Haus, um uns Kaffee zu kochen. Der Mann sprach ein wenig Deutsch. Er habe, so erzählte er uns, vor längerer Zeit in München gearbeitet, im Restaurant eines Bekannten. Er versuchte uns von unserem Vorhaben abzubringen, verstand nicht, warum wir nicht mit einem Auto fuhren. Als er begriff, dass es zwecklos war, beschwor er uns, wenigstens die Straße zum nächsten Ort zu nehmen, nicht auf dem Wanderweg zu gehen, der nicht der kürzeste Weg sei. Da dieser Weg direkt hinter seinem Gehöft abzweigte, blieb uns nichts übrig, als vorläufig tatsächlich weiter auf der Straße zu gehen. Wir brachten es nicht fertig, den wohlmeinenden Rat der Leute auszuschlagen.

Kurz darauf – wir hatten die Straße inzwischen bereits wieder verlassen und gingen auf einem Feldweg, zwischen Olivenhainen – kamen wir in unübersichtliches Gelände, dicht mit Macchia bewachsene Hügel und Berghänge lagen vor uns und etliche sich verzweigende Feldwege und Pfade luden uns ein, in die Irre zu gehen. Dies war genau die Gegend, durch die Paris und Helena auf ihrer Flucht vor Menelaos gekommen sein mussten. Denn von Sparta führte der Weg hier entlang nach Gythio. Und dort auf der Insel Kranai hatten sie, so wird es in der Ilias jedenfalls berichtet, ihre erste Nacht verbracht, bevor sie in Richtung Troja absegelten. Waren sie – so es diese Flucht tatsächlich gegeben hatte – hier entlanggekommen? Zu Fuß? Helena womöglich in einer Art Sänfte? Waren sie geritten? Oder hatten sie einen Weg südlich von unserem genommen, da, wo heute die Straße verläuft?

Solange von der lakonischen Bucht Windstöße heraufkamen, war es ein angenehmes Gehen gewesen. Bald aber wurde es erbarmungslos heiß, der Wind war nur noch ein matter Hauch, durchzogen jedoch von aromatischem Thymian- und Blütenduft. Der Weg führte uns für einige Stunden am westlichen Rand eines langgezogenen Talkessels entlang, den wir umrunden mussten, nur um danach auf der östlichen Seite wieder zurückgeführt zu werden. Wir versuchten eine Abkürzung durch den dichten Wald zu finden, der den Grund des Tales bedeckte, und folgten einem Pfad, von dem wir hofften, dass er auf der gegenüberliegenden Talseite wieder in den Hauptweg münden würde. Eine trügerische Hoffnung, denn der Pfad verlor sich nach einer Weile, endete an einer undurchdringlichen Dornenhecke, Wildschweinspuren waren im feuchten Grund zu sehen.

Das Dorf Agios Nikolaus, unser Tagesziel, erreichten wir dennoch, erschöpft zwar, aber immerhin noch vor Einbruch der Dunkelheit. Die Platia von Agios Nikolaus war ein großzügiger Platz, Kirche und Taverne befanden sich hier, die Dorfstraße führte quer über diesen Platz. Die Taverne war verschlossen, aber davor standen Stühle auf einer Veranda und wir machten es uns bequem. Durch die Fenster konnten wir hineinschauen, es war ein schöner Raum mit einem Tonnengewölbe, ein eiserner Ofen stand in der Mitte, es gab einen Tresen und zwei, drei Tische an den Seitenwänden. Wir waren durstig, ein Bier nach dem Gewaltmarsch aus der Küstenebene hier herauf wäre jetzt gut gewesen. Die Sorge, die Taverne könnte womöglich an diesem Abend nicht mehr öffnen (immerhin, es war ein Sonntag und der Abend inzwischen bereits angebrochen) war durchaus berechtigt. Nachdem wir die Hoffnung bereits verloren hatten – es mochten inzwischen zwei Stunden vergangen sein – erschien ein älterer Herr. Bald, bedeutete er uns lächelnd, bald schon werde die Taverne öffnen, kein Grund zur Sorge. Nach ihm trafen zwei weitere Männer ein, es war inzwischen weit nach zwanzig Uhr. Auch diese beiden setzten sich wortlos und warteten wie wir, nur schicksalsergebener und geduldiger vermutlich. Zuletzt traf der Geistliche des Dorfes ein. Ein Priester wie aus dem griechischen Bilderbuch: das bodenlange schwarze Gewand, die hohe Kopfbedeckung, ein langer grauweißer Bart, ein listiges Lächeln auf den Lippen, flinke, freundliche Augen, die uns zuzuzwinkern schienen. Ein unverhoffter Windstoß trieb eine leere Coladose über die leere Platia, das blecherne Scheppern der rollenden Dose war das einzige Geräusch inmitten der Stille – eine Szene wie man sie aus amerikanischen Westernfilmen erinnert. Die Szenerie wandelte sich jedoch innerhalb weniger Minuten vollständig. Der Wirt betrat unvermutet die Bühne, schloss mit einem gewaltigen Schlüssel die Tavernentür auf. Stuhlbeine schabten über den Boden, man erhob sich, folgte ihm schweigend ins Innere. Der Priester und zwei weitere Männer nahmen an einem Ecktisch Platz, der Rest versammelte sich am Tresen, ein Fernsehapparat begann an der Wand zu flimmern.

Ob wir Fleisch wollten? fragte der Wirt. Omelett, erwiderte mein Gefährte. Zögerliches Nicken war die Antwort. Thio Omelett. Dann ging er über den Platz davon, verschwand zwischen den Häusern. Nach einigen Minuten kehrte er zurück, vier große Eier in der Hand, und wir bekamen unser Omelett. Inzwischen waren weitere Dorfbewohner gekommen, alle Tische waren besetzt und Schüsseln mit dampfender Fleischbrühe, aus der mächtige Knochen ragten, wurden aufgetragen. Nach und nach hatte sich ein halbes Dutzend Katzen sowie zwei Hunde um die Veranda versammelt. Ab und an flog ein abgenagter Knochen zu ihnen hinunter und es kam zu Auseinandersetzungen zwischen den Parteien, wobei die Hunde regelmäßig das Nachsehen hatten. Nach kurzem Fauchen und Knurren, funkelnden Augen, gesträubten Katzenrücken und ängstlichem Zurückweichen der Hunde schleppte ein Mitglied der sieghaften Partei die Beute in einen stillen Winkel. Danach kehrte wieder Ruhe ein und sämtliche Tiere lagerten sich in märchenhafter Eintracht und friedvoller Stille rings um die Veranda.

Am nächsten Morgen lag ein langer Anstieg vor uns, der auf eine Passhöhe und von dort hinunter in das jenseitige Tal führen sollte. Auf diesem Weg kamen wir durch ein Dorf, das von ausgedehnten Kastanienwäldern umgeben war, die ihm auch den Namen – Kastania – gegeben hatten. Am Ortsrand  rasteten wir, das Wetter hatte sich langsam eingetrübt und erste, noch zaghafte Regentropfen fielen. Ein Feldweg führte uns weiter den Hang hinauf, Viehgatter versperrten immer wieder den Weg und hielten uns auf. Rinder, Esel, Hunde bevölkerten das Gelände und eine uralte mächtige Kastanie ließ uns kurz innehalten. Zwischen ihrem Wurzelwerk sprudelte eine in Stein gefasste Quelle hervor. Hoch über den Dächern von Kastania waren wir inzwischen und glücklicherweise nicht in die Irre gegangen, denn unser Weg wurde allmählich wieder breiter und wegsamer, auch die Regenwolken waren weitergezogen, und es klarte auf. Der Feldweg brachte uns zurück zur Straße, und nach zwei, drei Kurven und weiterem Anstieg sahen wir hoch über uns auf der Passhöhe das Kloster Panagia Giatrisa. Eine Festung mit Mauern, Schießscharten und Tor.

Wir kamen leider zur Unzeit, es wurde uns kein Einlass gewährt, nur zwei junge Klosterkatzen krochen unter dem Tor heraus, fielen ohne Zögern über unsere geöffneten Rucksäcke her. Für kurze Zeit blieb die Sicht klar, wir konnten das Meer im Osten und im Westen sehen, dann zogen wieder dichte Wolkenschleier auf. Von hier mussten wir steil hinab, ein dicht bewaldeter Berghang lag in unserer Richtung. Wind kam auf, das Wetter trübte sich innerhalb von Sekunden ein. Wir umrundeten die Klostermauer, suchten zwischen Felsbrocken und Gestrüpp einen Pfad, der uns zu jenem Bergwald führte. Ein langer mühsamer Abstieg auf einem alten Eselspfad durch dichte Macchia und Steineichenwälder folgte. Stunde um Stunde stiegen wir ab, an manchen Stellen war der Pfad derart verwachsen und überwuchert, dass er kaum noch zu erkennen war. Einige hundert Meter tiefer gelangten wir in ein ausgetrocknetes Bachbett, über rundgewaschene weiße Steine sprangen wir abwärts, hüpften von Steinrücken zu Steinrücken, den Blick immer auf Stein und Fuß und Fuß und Stein gerichtet. So nahe hatte das Tal von der Passhöhe aus gewirkt, so fern schien es uns während der Stunden des Abstiegs. Vor einer der großen Steineichen blieb ich stehen und betrachtete die tiefgefurchte Rinde des mächtigen Stammes, die knorrigen weit ausladenden Äste. Ein derartiger Eichbaum, so ging mir durch den Kopf, musste es gewesen sein, der vor zweitausend Jahren oder mehr in Dodona gewachsen war. Dodona, das bedeutendste Baumheiligtum der Antike. Holz von dieser Eiche soll in der Argo, dem Schiff Jasons und seiner Gefährten, verbaut worden sein. Der Baum, vor dem ich stand, war in einer Senke gewachsen, es drang kaum ein Windstoß hier herunter, kein Laut war zu hören. Und dennoch wartete ich, wartete  minutenlang auf das Rascheln des Eichlaubs, erhoffte mir womöglich eine Weissagung …

Unser Tagesziel hieß Karjovouna, ein winziges Dorf im nächsten Talkessel. Es war später Nachmittag geworden als wir erschöpft ankamen. Zu Füßen einer großen Platane plätscherte eine Quelle, sie war ordentlich in Stein gefasst und das Wasser sammelte sich in einem steinernen Trog, bevor es durch eine Rinne abfloss und dem Talgrund zustrebte. Hier erneuerten wir unsere Wasservorräte, verzehrten Wein, Schafskäse und Brot. Auf dem Weg hatten wir etwa zwei Kilometer vor Karjovouna eine Kapelle am Wegesrand passiert. Dorthin gingen wir im letzten Tageslicht zurück. Der Vorplatz der Kapelle war wie üblich mit Steinplatten ausgelegt und von einer halbhohen Mauer umgeben – ein idealer Schlafplatz. Die eiserne Tür der Kapelle war leider verschlossen. Gegen zwanzig Uhr war es bereits vollständig dunkel, in der Ferne sahen wir nur noch die Lichter aus dem Dorf, sie wirken in all dem Schwarz der Nacht und der finsteren Berghänge rings um den Talkessel, wie ängstliche Tiere, und es schien, als ob sie jeden Moment verlöschen könnten.

Als wir in unsere Schlafsäcke krochen, wurde der Horizont von Wetterleuchten erhellt. Da, wo sich der Talkessel nach Westen öffnete, blinkten riesige Scheinwerfer in unregelmäßigen Intervallen auf. Über dem ionischen Meer, vielleicht auf der Höhe von Stoupa, musste ein Unwetter toben. Der Lichtschein war so stark, dass für Bruchteile von Sekunden der Talkessel in einen fahlen Lichtschein getaucht wurde. Noch blieb der Himmel über uns wolkenlos klar und bestirnt, doch einige Zeit später, gegen Mitternacht, war dumpfes Grollen zu hören, die Sterne über uns waren verschwunden und ein leichter Wind strich über unsere Gesichter – Vorboten eines Gewittersturms. Vergeblich hatte Stefanos an der eisernen Tür der Kapelle gerüttelt, in aller Hast hatten wir unsere Schlafsäcke eingerollt, die Regenponchos aus den Rucksäcken geholt, während die Windstöße schnell heftiger geworden waren, Lichtblitze plötzlich rings um uns niederfuhren. Noch waren wir nicht im Zentrum des Sturms, doch die Bäume ringsumher wurden bereits tief zu Boden gebeugt, die ganze Landschaft schien zu ächzen und Blitz und Donnerschlag folgten jetzt in immer kürzeren Abständen. Wir zogen die Ponchos über die Köpfe, hockten uns in den Schutz der Mauer und hoffen, dass das Unwetter nicht in unserem Talkessel hängenbleiben würde. Sturmböen wirbelten bereits alles Liegengebliebene umher, das Echo der Donnerschläge rollte durch die Schlucht und der Regen setzte mit voller Wucht ein, als ein heftiger Knall von ungeheurer Intensität uns zusammenzucken ließ. Gleisendes Licht fiel für einen erstarrten Moment auf uns und die Kapelle. Und – unglaubwürdig und absurd – aber mit einem metallischen Kreischen war die fest verschlossene eiserne Tür aufgesprungen und wir blickten unvermittelt ins Angesicht des Heiligen Nikolaus. Bart und Gesichtszüge glichen jenen, die wir bereits von zahlreichen anderen Nikolaus-Ikonen kannten: Die rechte Hand hielt er segnend vor der Brust, in der linken die Heilige Schrift. Begleitet war er mit dem typischen liturgischen Gewand, dem Omophorion, der Umhang rot, der Bart rundgeschnitten. Die großformatige Ikone war so aufgestellt, dass man beim Betreten der kleinen Kapelle dem Heiligen direkt in die Augen blickte, und zumindest in dieser Nacht zweifelte ich nicht daran, dass er uns persönlich vor dem Gewittersturm gerettet hatte. Denn war er nicht schon von jeher derart in Erscheinung getreten, als Retter in der Not, worin auch immer das Unglück der Bedürftigen bestand? In seinem und dem Schutz weiterer kleinformatiger Märtyrer und Heiligen, umhüllt von aromatischem Weihrauchduft, verbrachten wir die Schreckensnacht trocken und friedlich, während draußen ein unerhörtes Inferno tobte.

Gegen Morgen erst beruhigte sich der Sturm und es klarte langsam auf. Ein leichter Landregen fiel noch und ein blassblauer, erschöpfter Himmel zeigte sich zwischen abziehenden Wolkenmassen. Die Gewitterfront war endlich weitergezogen. Abgebrochene Äste und Zweige lagen auf dem Vorplatz, auf dem wir einige Stunden zuvor noch in unseren Schlafsäcken legen hatten. Wir entzünden zwei lange gelbe Wachskerzen vor dem Bildnis des Heiligen Nikolaus, vergaßen auch nicht den Dioskuren zu danken und machten uns wieder auf den Weg. In Karjovouna war kein Mensch zu sehen. An der Quelle füllten wir unsere Wasservorräte noch einmal auf und stiegen dann aus dem Talkessel. Aufwärts, immer weiter aufwärts führte die Straße für etliche Kilometer. Ein zweites Kastania lag irgendwo noch vor uns und danach waren wir bereits auf der Zielgeraden nach Exochoria, dem letzten Dorf, dass wir passieren würden, bevor es hinunterging zum Meer, nach Kardamili. Auf dem Weg zwischen Kastania und Exochoria begann es wieder heftiger zu regnen, in unsere Regenponchos waren schon bald Löcher gerissen, denn die Pfade waren hier schmal und von Dornenranken überwuchert. Erst kurz vor Exochoria gelangten wir wieder auf einen breiteren Weg, links und rechts zeigten sich erste kleine Olivenhaine, die von Trockensteinmauern gefasst waren, und die Sonne brach durch die Wolkendecke.

Im Bergdorf Chora, oberhalb von Kardamili saßen wir erschöpft aber zufrieden bei Sarah und Jerome im Innenhof ihres restaurierten alten Dorfhauses und tranken Kaffee. Jerome war der typische, ein wenig exzentrische Engländer, etwa sechzig Jahre alt. In jungen Jahren, so erzählte er uns, sei er mit einem Moped in zwölf Tagen durch zwölf Länder gefahren. Dann zählte er auf und bog bei jedem Land einen Finger durch: „England, Holland, Deutschland, Österreich, Jugoslawien, also Slowenien, Kroatien, Bosnien, dann Albanien, Griechenland, Italien … Ah! Mein Moped war wie eine Schwalbe, ich flog wie ein Zugvogel einfach immer weiter und weiter. Und dann, und das wird Sie besonders interessieren“, er blinzelte mir zu, zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und zeigte uns die Fotografie eines Trabant 601. (Alls wir uns den beiden vorgestellt hatten, war das Gespräch kurz auf die untergegangene DDR gekommen, aus der ich stammte.)

„Ich liebe diesen Oldtimer“, sagte er. „Ich habe ihn letztes Jahr gekauft. Ich wollte damit von London nach Venedig fahren, aber dann kam Corona.“

„Ich mag es nicht“, bemerkte Sarah. „Dieses furchtbare Fahrzeug stinkt und ist mir zu laut.“

„Aber das ist ja gerade das Reizvolle, rief Jerome enthusiastisch. „Ich liebe es!“

Wir berichten den beiden von unserer Mani-Rundreise und der Taygetos-Durchquerung.

„Nun“, Jerome nickt zufrieden, „das ist nicht schlecht. Haben Sie die Schakale gehört?“

„Schakale?“

„Aber ja! Das Taygetos ist voller wilder Schakalhunde. Sie müssen sie gehört haben, wenn Sie im Freien geschlafen haben.“

„Wir haben im Freien geschlafen“, sagte ich. „Aber Schakale …“

„Schakale“, unterbrach mein Freund, und nickte Jerome zu, obwohl er sich – davon war ich überzeugt – ebenso wie ich nur an Schnarchgeräusche erinnerte.

„Doch“, konsultierte ich nun zögernd,  „vielleicht waren da auch Schakale.“

„Ich wusste es!“, rief Jerome erfreut. „Warten Sie“, er eilte ins Haus, „ich habe eine Tonaufnahme, phantastische Schakalstimmen, ich spiele sie Ihnen vor.“

Später führte uns Sarah zu der kleinen byzantinischen Kirche in Chora, die wir gesucht hatten. Die Kirche wurde gerade restauriert. Ein langhaariger bärtiger junger Mann, Restaurator aus Thessaloniki, rührte mit seinem Gehilfen Mörtel, mit dem sie die Außenwand der Apsis verfugten. Normalerweise war die Kirche verschlossen, aber wir konnten hineingehen. Vier Treppenstufen führen hinauf zu der engen niedrigen Tür, durch die wir uns gebückt zwängen mussten, um eintreten zu können. Verblasste Fresken in blau und rot. Nach oben schauend, erblickte ich ein kleines, in seiner Schlichtheit berührendes Kuppelgewölbe, wie ein umgestülptes Vogelnest erschien es mir. Ein umgestülptes Nest, aus dem wir mitsamt der ganzen modernen Welt schon vor langer Zeit herausgefallen waren. Es wölbte sich jedoch ungeachtet unseres Glaubens oder Unglaubens noch immer ganz selbstverständlich dem Himmel entgegen.

Wieder draußen saßen wir lange auf dem ummauerten Vorplatz. Der Blick konnte von hier weit nach Westen schweifen, über den Bergrücken hinüber zum Meer. Eine kleine Insel weit draußen schien zwischen Wasser und Horizont zu schweben. Irgendwo da draußen, weit in der Ferne lag die italienische Küste und weiter dahinter Frankreich, der Kanal und dann würde England kommen mit seinen grünen Hügeln und Ebenen und Flüssen und Seen. Ich fragte mich, ob Bruce Chatwin, der Autor von In Patagonien und Traumpfade, Bruce Chatwin, der Reiseschriftsteller, der ruhelose Nomade, so etwas wie Heimweh empfunden haben mochte, wenn er hier oben gesessen hatte. Vielleicht in Erinnerungen versunken an die Kindertage in einer südwestlichen Vorstadt von Birmingham, an ein Haus, in dem sich eine Vitrine voller wundersamer und geheimnisvoller Dinge befunden hatte, die in ihm eine unstillbare Neugier auf die Welt geweckt, ihn zu seinen Reisen und Büchern inspiriert hatten.

Nach Norden hat man von hier aus die Taygetos-Gipfel im Blick, direkt hinter uns erhebt sich die pyramidenförmige Spitze des Ilias Profitis. Dieser Platz vor der alten Kapelle war ein Lieblingsplatz Bruce Chatwins gewesen. Wenn er in Kardamili bei Patrick Leigh Fermor, seinem Mentor und Freund, zu Gast gewesen war, soll er oft hier herauf gegangen sein. Und hier, so sein Wunsch, sollte auch seine Asche begraben werden. Wir hatten Wein dabei und gossen ein wenig auf die Erde. Eine Eidechse huschte aus einer Ritze des Mauerwerks, beobachtete uns für einen erstarrten Moment, wohlwollend wie mir schien, verschwand dann ebenso flink und unvorhersehbar wie sie aufgetaucht war. Von Exochoria gingen wir auf einem bequemen Wanderpfad zum Meer hinunter. Uralte Steinplatten, immer mehr Olivenbäume, kühle Schluchten, die der Weg querte, vereinzelte imposante Steineichen. Am späten Nachmittag standen wir auf einem Plateau über Kardamili, der Kreis unseres Weges war gezogen.

In der Taverne am Meer spielt George, der Chef, mit uns Tavli. George gewinnt immer.

„Du kannst“, sagt mein Freund resigniert, „gegen einen Griechen nicht gewinnen. Nicht im Tavli.“

„Früher“, sagt George, nachdem er sieben Spiele gewonnen hatte, beiläufig, „früher war dieses Haus ein Hotel. Und bevor Patrick Leigh Fermor sein eigenes Haus gebaut hat, wohnte er hier in einem Zimmer. Und hier hat er sein erstes Buch geschrieben.“ 

Er musste mit diesem Buch „Mani“ meinen, jenen Reisebericht, den Fermor nach seiner Erkundung der Halbinsel Anfang der fünfziger Jahre geschrieben hatte. Jenes Buch, das so viel mehr als nur ein Reisebericht ist und das letztlich auch uns hierhergeführt hatte. Zwei nicht mehr ganz junge Männer mit großen Rucksäcken, die sich in abgelegenen Gegenden herumtrieben, der Teufel allein mochte wissen, was sie dort suchen und sich davon zu erhoffen wagten.


Unser Gastschreiber Jörg Jacob berichtet von einer Griechenlandreise, die ihn mit einem Freund von Athen über Sparta und Mystras bis zum südlichen Ende des Peloponnes geführt hat. Eindrücke und Gedanken der Wanderer verbinden sich mit Orten, die aus der griechischen Mythologie überliefert sind. Unterteilt in sieben Kapitel veröffentlichen wir diesen Text im Jahresverlauf auf unserem MYTHO-Blog.


Kapitel 1 – “Hotel Byzantio”

Kapitel 2 – “Exo Mani”

Kapitel 3 – “Exo Mani 2”

Kapitel 4 – “Messa Mani”

Kapitel 5 – „Messa Mani 2“

Kapitel 6 – „Kato Mani“


Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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