Die Geschichte von Kain und Abel und wie wir sein wollen

Wir kennen alle die Bibelgeschichte von Adam und Eva, dem „Sündenfall“ und die darauf folgende Vertreibung aus dem Paradies, der bald darauf der erste Mord in der Menschheitsgeschichte folgt und Kain seinen jüngeren Bruder Abel erschlägt. Was lernen wir aus der Geschichte? Welche Konsequenzen ziehen wir aus den Unzulänglichkeiten der ersten Menschen, die, vertrieben aus einem paradiesischen Dasein, sich selbst überlassen, für sich selbst und ihren Nächsten Verantwortung tragen mussten?

Kain, 80 cm x 100 cm, Gouache auf Baumwolle, 2004

Vor beinahe zwei Jahrzehnten beschäftigte ich mich erstmals malend mit der Geschichte des ersten Mörders in der Menschheitsgeschichte namens Kain. Warum und mit welcher Absicht ich das tat, versuche ich im Folgenden darzulegen. Da ich Kunstmaler bin, steht für mich die Malerei, also das Bilder machen, an erster Stelle. Aber es ist auch so, dass die Behauptung, Bilder sprächen für sich selbst, bestenfalls zum Teil und niemals vollkommen zutrifft. Das gilt nicht zuletzt auch für mein Bild „Kain“. Es beruht auf der bekannten Erzählung von Kain und Abel: die urgeschichtliche Bibeldarstellung im 1. Buch Moses (Gen. 4). Ich setzte dabei in dem Moment an, als Kain den Mord begangen hat. Es zeigt, wie Kain seine hoch erhobene Hand betrachtet und seine Tat vergegenwärtigt. Dabei setzte ich weder das Opfer noch die Tat ins Bild. In der Bibelerzählung heißt es dazu lediglich: „… als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.“ (Gen. 4,8).

Abel, Acryl auf  Leinwand, 80 cm x 60 cm, 2020

Am Ende bleibt, wie die Bedeutung seines Namens besagt, nur ein Windhauch zurück. Das unterstreicht noch einmal, dass diese urgeschichtliche Erzählung vorrangig Kain, dem Täter, gewidmet ist. Da jedoch auch der Windhauch, d.h. das Opfer Abel, nicht gleichbedeutend mit Nichts ist, habe ich ihm 16 Jahre nach Entstehung von „Kain“ ein eigenes Bild gewidmet.

Kains Brudermord ist für mich nur im Zusammenhang der Geschichte von Adam und Eva und ihrer Vertreibung aus dem Paradies zu verstehen, die aus der Auflehnung der Menschheit gegen Gott erfolgte und zugleich als Selbsterkenntnis verstanden werden kann. Diese geht jedoch einher mit der Selbstverantwortung eigenen Handelns. Aufgrund der Schöpfungsfähigkeit der Frau ist es kein Zufall, dass der erste Impuls, sich Gott gleichzustellen, von Eva ausgeht.

Eva, gib den Apfel her! 50 cm x 70 cm, Gouache auf Baumwolle, 2007

Die katholische Theologin Renate Brandscheidt schreibt: „Die stolze Behauptung der Frau (Eva), mit der Geburt des Kain einen „Mann geschaffen“ zu haben, ist nicht Ausdruck eines Jubels oder Lobrufes, sondern, worauf der Schöpfungsterminus „geschaffen“ (hebräisch qnh) verweist, Anzeichen für ein erwachendes Bewusstsein des Menschen von den Möglichkeiten der eigenen schöpferischen Potenz, weshalb der Verfasser den Schöpfungsterminus qnh im Namen des erstgeborenen Sohnes Kain (qjn) nachklingen lässt.“[1] Um das eigene Geschick selbst in die Hand zu nehmen, ist es jedoch auch erforderlich, die Konsequenzen eigenen Handelns zu tragen. Das ist das, worum es sowohl in der Geschichte des „Sündenfalls“ als auch in der Geschichte des ersten Mordes geht. Dieser Verantwortung müssen wir uns als Menschen stellen, wenn wir Evas „Verführung“ nicht als übermütig interpretieren wollen, sondern als wichtigen wie mutigen Schritt zur Selbstbehauptung unseres Daseins.

Sicherlich ist die Schöpfung – göttlich oder nicht – kein Werk von uns Menschen. Das entlässt uns keineswegs aus der Verantwortung, wie wir mit uns und der Welt, in der wir leben, umgehen. Das führt zu einem weiteren Aspekt der Geschichte, nämlich der Aussage: Abels Opfer findet Gottes Wohlgefallen, Kains dagegen nicht. Wesentlich dabei ist, dass es sich bei Abels Opfergabe um ein blutiges(!) Opfer von Erstlingen handelt. Kain dagegen bringt Früchte des Feldes als Opfergabe dar, was, so eine theologische Erklärung, als Dankesopfer, nicht aber als Sühneopfer göttliche Anerkennung findet, worauf auch die Worte Gottes anzuspielen scheinen, der zu Kain sagt: „Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür.“ (Gen. 4,7). Abels Opfer steht dafür, dass alles, was dem Menschen gegeben ist, Gott oder wie ich es lieber ausdrücken würde, der Schöpfung gehört. Dies verweist sicherlich auch auf die blutige Praxis von Tier- und Menschenopfern. Und Kain, das sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, ist der Erstgeborene und müsste, nach altem Gesetz und Brauch, Gott gehören, d.h. ihm geopfert oder mittels eines Ersatzopfers ausgelöst werden. Ein Umstand, der auch bei den biblischen Zwei-Brüder-Motiven von Ismael und Isaak über Esau und Jakob bis hin zum Gleichnis vom verlorenen Sohn von Bedeutung sein dürfte.

Kain, der Erstgeborene, ist Ackermann, der jüngere Bruder Abel hingegen Schäfer. Dementsprechend unterscheiden sich ihre Opfergaben. Kain bringt „Früchte des Feldes“, Abel dagegen Erstlinge seiner Herde dar. Im Hinblick auf die blutige Opfergabe sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass zu jener Zeit Viehzucht vornehmlich der Woll- und Fellgewinnung, nicht jedoch der Fleischgewinnung galt. Wird der historische wie gegenwärtige und bis in heutiger Zeit ungelöste Konflikt zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern in der Bibel also lediglich erwähnt und benennt damit nur einen wichtigen Konfliktherd unter den Menschen? Renate Brandscheidt liefert diesbezüglich eine theologische Interpretation, wenn sie schreibt: „Für Kain, den Ackerbauer, ist die Konzentration auf den Lebensraum, dessen Kraft er sich dienstbar machen will, entscheidend; das Hirtesein Abels hingegen bildet im Kontext von (Gen 2) ein Ideal ab: das einer ‚Wanderexistenz‘ des Menschen, der geformt und mit seiner ganzen Existenz der Führung Gottes zugeordnet und auf sie hin in seiner Daseinsgestaltung unterwegs ist (Gen 2,7).“[2] Dieses Ideal kann ich im Paradies jedoch gar nicht finden. Zwar steht da geschrieben: „Du darfst essen von allen Bäumen im Garten.“ (Gen. 2, 16), aber auch: „Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ (Gen. 2,15) Hinweise auf die verschiedenen Kulturen von Bauern und Hirten tauchen wiederholt in der Tora auf und spiegeln sich auch im Gegensatz von Hirten und Städtern wider. Denn schon der unstete und flüchtige Kain baute eine Stadt namens Henoch auf (Gen. 4, 17). Möglicherweise dient auch der Verweis auf Kains Nachfahren, wie die Zeltbewohner, Schmiede und Viehbesitzer, dem Verständnis von der Vielzahl an urgeschichtlichen Völkern und Kulturen. Sie stehen aber auch in einer Linie mit Nomaden- und Künstlertum, Städtebau, Vielehe und Gottferne: Zuschreibungen und Stereotype, die bis heute Bestand haben und sich auf „Gottes Worte“ zurückführen lassen. Das sollte dann aber auch für das Strafmaß des ersten Mörders gelten, der eben nicht mit dem Tode bestraft wird, dafür aber mit seiner Schuld leben muss.

Als (potentielle) Nachkommen der ersten Menschen der biblischen Mythologie drängt sich die Frage auf, welches Erbe wir heute übernehmen wollen? Wie wir in Gegenwart und Zukunft mit unseren Unzulänglichkeiten umgehen wollen? Die Antwort darauf werden wir sicherlich nicht in der Bibel, sondern bei uns selbst suchen müssen.

Ein Beitrag von Willi Büsing


Willi Büsing lebt und arbeitet als freier Künstler in Berlin. Angeregt durch die Zeichnungen und der Malerei seines Vaters sowie Buchillustrationen zur griechischen Mythologie wendet sich Willi Büsing bereits in Kindertagen der Malerei und Zeichenkunst zu. Die Bilder aus dieser Zeit spiegeln die Einflüsse  von Elternhaus, Kirche und Fernsehwelt wider: vom Kreuzzug frommer Ritter, über den Konflikt von Cowboys (weiße Siedler und Armee) gegen die Indianer, bis hin zum Vietnamkrieg.

Das Studium und der Universitätsabschluss der Europäischen Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und die Begegnung mit der eigenen und fremden Kultur schärft seine Sicht auf die menschliche Existenz, die den wesentlichen Fokus seiner Arbeit bildet.

Arbeiten von Willi Büsing unter https://www.willi-buesing.de/


Anmerkungen:

[1] Brandscheidt, Renate, Art. Kain und Abel, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2007.

[2] Ebd.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

2 Antworten auf „Die Geschichte von Kain und Abel und wie wir sein wollen“

  1. Für Leute, die sich für Fantasy interessieren, empfehle ich die Roman und Kurzgeschichten zu „Kane“ von Karl Edward Wagner mit einem faszinierend anderen Bild der Kain-Gestalt. Hat natürlich so gut wie nichts mit dem Original zu tun.

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