„Einen so heißen Sommer, wie nun vor hundert Jahren, hat es seitdem nicht wieder gegeben. Kein Grün war zu sehen; zahmes und wildes Getier lag verschmachtet auf den Feldern.“ Man könnte meinen, der Beginn von Theodor Storms Märchen „Die Regentrude“ träfe auf die Sommer der letzten Jahre zu. Nun gehen und fahren wir zwar nicht an Tierkadavern vorüber, wenn wir den Urlaub antreten oder unseren Alltagsverpflichtungen nachgehen. Aber zu oft fallen uns die von der Sonne vertrockneten Grasflächen auf, hören wir Nachrichten von brennenden Wäldern, sehen wir Bilder von Flussbetten, die einer Mondlandschaft gleichen. Im Januar ging ich am Rhein spazieren, den wir wie kaum einen zweiten mit Schifffahrt, Geschichte oder Romantik verbinden. Mit unaufgeregtem Selbstverständnis strömte das Wasser in Richtung Nordsee. Die aktuellen Bilder von sinkenden Pegeln wirken im Vergleich zu diesen Erinnerungen beinahe surreal. Und surreal ist es auch an der Ahr (wie auch an der Elbe und an jedem anderen Fluss), die derzeit streckenweise zur einem Rinnsal verkommen ist, wiewohl deren Flut im Jahr 2021 Tod und Zerstörung gebracht hat.
Die Hungersteine, jene großen Steine, die in den Flüssen bei Niedrigwasser allmählich hervortreten und als sichtbares Symbol für Dürre, Gefahr und Hungersnot stehen (früheste Inschriften sind aus dem 15. Jahrhundert belegt, ein besonderer Hungerstein befindet sich in der Elbe beim tschechischen Děčín und stammt aus dem Jahr 1616, seine Inschrift lautet „Wenn du mich siehst, dann weine“), werden sichtbar und machen uns bewusst, dass Natur und Mensch schon in vergangenen Jahrhunderten auf Regen gewartet haben. Sie stehen aber auch für gegenseitiges Einvernehmen und wechselseitige Abhängigkeit. Ein Gleichgewicht, das momentan empfindlich leidet oder bereits in Zerstörung begriffen ist. Etwas, das der Schriftsteller Theodor Storm (1817-1888) schon in seiner 1864 in der „Leipziger Illustrieren Zeitung“ erstmals erschienenen Regentrude zu erzählen wusste. In diesem Märchen sinniert der Wiesenbauer, dem es als einzigem in der Dorfgemeinschaft gelungen ist, aus der Schattenseite des Sommers Kapital zu schlagen, gleich zu Beginn: „es gibt keinen Regen mehr in der Welt.“ Im Gespräch mit der Nachbarin, Mutter Stine, benennt diese denn auch recht verzweifelt den Grund für das Übel: „[…] die Regentrude muß eingeschlafen sein“. Doch gibt es Hoffnung, dass sie wieder geweckt werden kann mit Hilfe eines Sprüchleins, das schon fast in Vergessenheit geraten ist. Eine Hoffnung, die der Wiesenbauer unwirsch und mit einem Verweis auf sein Wetterglas abtut. Denn was soll Magie schon gegen die Natur, die sich doch am besten mittels Instrumenten bestimmen lässt, ausrichten? Dennoch kommt es zwischen beiden zu einem Pakt: ‚“Neu- oder altgläubig!“, rief [der Wiesenbauer], „geht hin und sucht eure Regenfrau und sprecht Euer Sprüchlein, wenn Ihr’s noch beisammenkriegt! Und wenn Ihr binnen heut und vierundzwanzig Stunden Regen schafft, dann-!“‚ Dann soll die Tochter des Wiesenbauers, Maren, den Sohn von Mutter Stine, Andrees, heiraten dürfen.
Gesagt getan. Und Maren und Andrees sind es denn auch, welche die Regentrude aus ihrem Schlummer erwecken sollen. Das Sprüchlein hierfür ist auf wundersame Weise rasch zusammengefügt.
“Dunst ist die Welle,
Staub ist die Quelle!
Stumm sind die Wälder,
Feuermann tanzet über die Felder!
Nimm dich in acht!
Eh du erwacht,
Holt dich die Mutter
Heim in der Nacht!”
Andrees, der bei einer seiner Inspektionsrunden auf den Feldern feststellen muss, dass mehrere Schafe verdurstet sind, hat eine seltsame Begegnung, die sich bei Storm gruselig liest, im Hörspiel des Märchens (unvergessen die LP von 1986 mit der Musik von Reinhard Lakomy) aber noch viel gruseliger daherkommt. Es handelt sich hier um die Beschreibung des Feuermanns (mit feuerrotem Rock und roter Zipfelmütze, krummen Fingern und Spinnenbeinen), der – bedingt durch den Schlaf der Regentrude – die Oberhand über die Welt gewonnen hat und nun zu Ungunsten des Gleichgewichts sein Werk tut. „Das Unding drunten war noch immer in Bewegung; es bückte sich und riß ein Bündel versengten Grases aus dem Boden, daß ich glaubte, es müsse mit seinem Kürbiskopf vornüber schießen; aber es stand schon wieder auf seinen Spindelbeinen, und indem es das dürre Kraut zwischen seinen großen Fäusten zu Pulver rieb, begann es so entsetzlich zu lachen, daß auf der anderen Seite des Hügels die halbtoten Schafe aufsprangen und in wilder Flucht an dem Rain hinunterjagten.“ Dabei singt das Männlein immer wieder das Sprüchlein. Und es wird denn auch zum Schlüssel, den Weg zur Regentrude zu finden. In den Wald müssen die Mutigen gehen, zu einer hohlen Weide, in der es eine Treppe gibt, die unter die Erde führt. Auch kann die Regenfrau nur durch eine Jungfrau geweckt werden. Die Szene erinnert ein wenig an das Märchen vom Rumpelstilzchen. Auch hier verrät der Antagonist unfreiwillig sein Geheimnis und zudem auch seinen Namen; der Feuermann nennt sich Eckenneckepenn. Laut dem Volkskundler und Chronisten der Insel Sylt, Christian Peter Hansen (1803-1879), handelt es sich beim „Ekke Nekkepen“ allerdings um eine mythische Meeresgestalt. Zudem will er diese auch mit einer Meeresgottheit der nordischen Mythologie gleichgesetzt wissen, die bei den Friesen Ekke oder Neeke genannt wurde, eine Theorie, die allerdings verworfen und vermutlich von Hansen erfunden wurde (vgl. Friesische Sagen und Erzählungen). Dennoch ist die Transformation einer vermutlich mit Wasser zu assoziierenden Sagengestalt in einen Feuerkobold bei Storm allemal ein interessanter Antagonismus. Im Althochdeutschen existiert der Begriff „nihhus“ oder „niccus“ (Nöck, Nix, Neck, Näck), was laut Jacob Grimm „Wassergeist“ bedeutet (vgl. Grimm, Deutsche Mythologie, S. 275).
Aber zurück zum Märchen. Mit einem besonderen Honigwein zur Stärkung ausgerüstet, der noch von Mutter Stines Urahne stammt, welche der letzte Mensch gewesen ist, der die Regentrude geweckt hat, steigen Maren und Andrees die Treppe der Weide hinab und begeben sich auf eine ungewisse Reise. „Wenn sie nach der einen oder anderen Seite blickten, so sahen sie ein ödes, unabsehbares Tiefland, das so von aller Art Rinnen und Vertiefungen zerrisssen war, als bestehe es nur aus einem endlosen Gewirre verlassener See- und Strombetten. Dies schien auch dadurch bestätigt zu werden, daß ein beklemmender Dunst, wie von vertrocknetem Schilf, die Luft erfüllte. Dabei lagerte zwischen den Schatten der einzeln stehenden Bäume eine solche Glut, daß es den beiden Wanderern war, als sähen sie kleine weiße Flammen über den staubigen Weg dahinfliegen.“ Bald kann nur noch Maren die Reise fortsetzen, die sie mehr und mehr durch eine verdorrte, tote und surreale Landschaft führt, bis sie schließlich eine schlafende Frauengestalt findet. Diese erinnert ihrer Gestalt nach an eine heidnische Naturgöttin. „[…] es war eine schöne mächtige Frauengestalt. Der Kopf lag tief aufs Gestein zurückgesunken; die blonden Haare, die bis zur Hüfte hinabflossen, waren voll Staub und dürren Laubes. Maren betrachtete sie aufmerksam. ‚Sie muss sehr schön gewesen sein‘, dachte sie, ‚ehe diese Wangen so schlaff und die Augen so eingesunken waren. Ach, und wie bleich ihre Lippen sind! Ob es denn wohl die Regentrude sein mag? – Aber die da schläft nicht; das ist eine Tote! Oh, es ist entsetzlich einsam hier!'“
Mit Hilfe des Sprüchleins gelingt die Erweckung der Regentrude, die so „grausam lang geschlafen“ hat, und nachdem ein magischer Brunnen mit Hilfe eines Schlüssels aufgeschlossen wird, „stieg [ein frischer Duft] aus der Tiefe […] und erfüllte bald alles mit einem feinen feuchten Staube, der wie ein zartes Gewölk […] emportstieg. […] Wie ein Hauch rieselte ein lichtes Grün über die verdorrte Pflanzendecke, die Halme richteten sich auf, und bald wandelte das Mädchen durch eine Fülle sprießender Blätter und Blumen.“ Die Schilderungen des Wiedererwachens der Natur erinnert hierbei an das Erwachen des Frühlings, aber nicht aus einem kargen Winter, sondern inmitten des Sommers. Auch dies eine Andeutung an vorchristliche Rituale und Denkweisen. Wobei die Regentrude selbst bemerkt: „Sie [die Frauen] kamen damals öfter zu mir, ich gab ihnen Keime und Körner zu neuen Pflanzen und Getreiden, und sie brachten mir zum Dank von ihren Früchten. Wie sie meiner nicht vergaßen, so vergaß ich ihrer nicht, und ihre Felder waren niemals ohne Regen. Seit langem aber sind die Menschen mir entfremdet, es kommt niemand mehr zu mir. Da bin ich vor Hitze und lauter Langerweile eingeschlafen und der tückische Feuermann hätte fast den Sieg erhalten.“ Zum Glück ist Maren rechtzeitig zur Stelle gewesen. Denn eine Herrschaft des Feuermanns hätte auch bedeutet, dass die Regentrude erneut hätte hinabgehen müssen zu der Mutter unter die Erde.
In der Szene spiegelt sich nicht nur eine Metapher für das Gleichgewicht der Naturkräfte wieder, sie ist auch eine Anspielung an den griechischen Mythos der Persephone (in der römischen Mythologie Prosperina). Diese war die Tochter der Erdgöttin Demeter und wurde vom Unterweltgott Hades geraubt. Aus Kummer über den Verlust geriet die Natur aus dem Gleichgewicht, weswegen der Göttervater Zeus den Kompromiss aushandelte, dass Persephone die Hälfte des Jahres (Frühjahr/Sommer) auf der Erde mit Demeter verbringen durfte und den Rest des Jahres in der Unterwelt.
Apropos Unterwelt. Oben und Unten wirken in Storms Märchen seltsam auf den Kopf gestellt (ähnlich wie im Märchen „Frau Holle“). So steigen die beiden Protagonisten in die Erde hinab. Die Schilderungen des Naturerwachsens, der Wolken und des Regens wirken allerdings so, als ständen Maren und die Regentrude auf der Erde, vielleicht sogar in einer Wolke selbst, während alles rückgekehrte Leben aus einem geöffneten Brunnen störmt. So sagt die Trude zu ihr: „Klatsch nur ein wenig in die Hände, aber nimm dich in Acht, daß du die Wolken nicht zerreißt.“ Das Happy End ist vollbracht. Die Hitze des Feuermanns ist bezwungen und auch Maren und Andrees finden ihr Glück.
Storms Geschichte zählt immer noch zu meinen Lieblingsmärchen, nicht nur wegen des Unheimlichen, der Bewährungen und einem äußerst breit erzählten Alles-wird-gut-Moment, sondern auch, weil es sich wie eine Mahnung gegen das Vergessen des Alten liest, des Ursprünglichen und Geheimnisvollen, das immer noch in unserer Kultur und unserem Miteinander begraben liegt, aller Technik und aller wissenschaftlichen Erkenntnis zum Trotz. Natürlich bedarf es mehr als eines Sprüchleins und einer Reise zu einer mythischen Gestalt, um der aktuellen Regenlosigkeit Einhalt zu gebieten. Doch sind es gerade die Märchen, die uns mit Unstimmigkeiten, Ungleichgewichten und Verwerfungen konfrontieren und uns dazu auffordern, Lehren zu ziehen, auf dass Lehren eines Tages doch die eine oder andere Veränderungen bewirken. Ein Plädoyer, uns das Jetzt mehr ins Bewusstsein zu rücken – und natürlich, um wieder mehr Märchen zu lesen.
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Zum Nachhören:
Literaturhinweise:
Christian Peter Hansen: Sagen und Erzählungen der Haidebewohner auf Sylt. In: Christian Peter Hansen: Friesische Sagen und Erzählungen. Wendeborn, Altona 1858, S. 148–194.
Jacob Grimm. Deutsche Mythologie, Verlag In der Dieterichschen Buchhandlung 1835. Online-Ausgabe.
Theodor Storm. Die Regentrude. Bulemanns Haus. Zwei Märchen. Neuausgabe mit einer Biografie des Autors. Herausgegeben von Karl-Maria Guth. Hofenberg, Berlin 2018.
Theodor Storm. Sämtliche Werke in vier Bänden. Bd. 1. Hrsg. v. Peter Goldammer. 4. Aufl. Aufbau-Verlag, Berlin/Weimar 1978.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Sehr interessant – bei uns im Südwesten ist noch alles sehr trocken. Vielleicht hilft der Gedanke an die Regentrude ja auch hier.
Mal schauen, ob es hier Entdprechungen gibt.
und dann fiel endlich wieder Regen in Leipzig! Wahrscheinlich als dieser Essay in den Blog gesetzt wurde, am 17.8. 2022 gegen 23 Uhr….
gute mythische Arbeit!