Die Gipfel sind unsere Wächter (Tibetisches Sprichwort)
Sie kannte dieses Buch, wahrscheinlich bewunderte sie es, aber vor allem stachelte es ihren Ehrgeiz an. Sie wusste, dass dieser James Hilton nie dort war, worüber er schrieb. Sie wollte ihm, dem erfolgreichen Bestsellerautor, voraus sein. Sie wollte zeigen, dass sie erlebt hatte, was er nur ansatzweise für seinen Roman Lost Horizon ausgeweidet hatte: die Magie Tibets.
Alexandra David-Néel (1868-1969) war vermutlich die erste westliche Frau, die Lhasa erreichte, jene sakrale, wie über der Welt schwebende Stadt im Himalaya, von der die Forschungsreisenden, die Esoteriker und die Pilger schwärmten. Zumindest der erste Anblick des numinosen Ortes, wie er über der Hochebene des höchsten Landes der Erde weißgolden leuchtete, muss wie ein Wunder gewirkt haben. Woher so viel Gold und Reichtum in diesem armen Gebiet? So viel Architektur, Tempel, Stupas und Pracht insgesamt? Wer näher kam, sah die Armut und das Elend in den Straßen der Hauptstadt. Es gibt ein Foto von ihr, eingehüllt in fettige Schafspelze und Stoffe, in der Ferne der Potala, der Palast des Dalai Lama. Neben ihr ein Junge, ihr tibetischer Adoptivsohn Aphur Yongden, der zu ihrem Begleiter wurde, zum Beschützer und Vermittler zwischen der weißen Frau und den Tibetern. Ein Foto als Beweis, dass sie diese Undenkbarkeit geschafft hatte – Lhasa zu betreten.
Tibet: seit Jahrhunderten umworben von Forschungsreisenden, ob aus China oder dem Westen: Inbegriff einer mystischen Kultur, wie es schien, einer dem Materiellen enthobenen Welt, in der man, wie eben Hilton andeutet, auch Unsterblichkeit oder wenigstens Langlebigkeit lokalisierte, so verfeinert glaubte man den Äther in diesen Höhen. Anders als China, Indien oder Japan, die ihre komplexen Geschichtsverläufe haben und zu groß sind für einfache Zuschreibungen, bündelt sich für die westliche Phantasie in dieser wörtlichen Hoch-Kultur das gesamte spirituelle Streben der Menschheit. Wie viele hatten sich aufgemacht, wie viele waren gescheitert; wie viele haben es erfunden, wenn sie nicht hingelangen konnten!
David-Néels wichtigster Charakterzug war ihre Hartnäckigkeit. Gegen alle Widerstände von Kolonialbeamten, Freunden, Beratern, auch die ihres fernen Ehemanns, gegen alle Widrigkeiten des Klimas, Schnee, Lawinen, Stürme, Hunger und Durst zog sie nicht nur nach Tibet, sondern so, als Abenteuer, gestaltete sie ihr ganzes Leben. Sie wird über 100 Jahre alt werden und in Frankreich sterben, inmitten einer Art tibetischen Museums, beinah eines Tempels. Eine ihrer einstmals engsten Vertrauten wird sie als Scharlatanin brandmarken und sie mit Artikeln und Büchern verfolgen: Es sei alles erlogen, dieses Leben, von Anfang bis Ende.
Die Erfindung Tibets und Dr. Tuesday Lobsang Rampa
Vielleicht ist Tibet selbst ja erlogen. Jedenfalls gab es solche Erzeuger Tibets wie Dr. Tuesday Lobsang Rampa, der in den 1950ern und 60ern die esoterisch Interessierten eine Zeitlang in Bann schlug mit seinen Büchern über lamaistische Astralreisen und seinem Dritten Auge (The Third Eye, 1956). Der Bergsteiger und Tibetexperte Heinrich Harrer hatte Zweifel an diesen Geschichten und setzte einen Privatdetektiv aus Liverpool auf ihn an. Dieser fand schließlich heraus, dass der Autor der Bücher ein englischer Klempnersohn namens Cyril Henry Hoskin (1910-1981) war, der weder jemals den Boden Tibets betreten hatte noch Tibetisch sprach. Beruflich war er eher vage einzuordnen: Berufsberater, Fotograf und Manager. Als Kind hatte er eine auffällige Neigung, mit elektrischen Geräten und Insekten zu spielen. Seinem Literaturagenten bot er anfangs zwei Bücher an: eins über Korsette und eins über Tibet. Wie konnte, fragt sich der Tibetologe Lopez, ein solch ausgewiesener Nichtkenner der Realitäten Tibets diese erfolgreichen Bücher schreiben und die Leute jahrelang an der Nase herumführen? Selbst Lopez‘ Studenten der tibetischen Kultur erschienen sie authentischer als all die anderen sachlich richtigen Werke, die sie sonst zu lesen hatten. Lopez sieht in ihm ein Simulacrum, das auch in tibetischen Zeremonien benutzt wird. Rampa verabreicht in seinem „Lebenslauf“ seinen glaubenswilligen Lesern tibetische Ingredienzen (das Bohren eines Dritten Auges, Bewusstseinsübertragung) und trifft auf westliche Erwartungen, die mit Tibet verbunden werden. Bei vielen geht das Interesse an Tibet auf die Bücher des Engländers zurück, gerade bei denen, die dadurch zum Studium der Tibetologie angeregt wurden. Der Dalai Lama war sich der Fälschung bewusst, begrüßte jedoch, dass Lobsang Rampa der tibetischen Sache durch Publizität geholfen habe (Lopez 86-113). Der falsche Doktor ließ noch weitere Phantasmen los: Reisen zur Venus, außerirdische Begegnungen, die Übertragung des Bewusstseins eines Lamas auf einen englischen Mann, da der Tibeter nach zahlreichen Beschädigungen durch Folter und Unfälle einen neuen Leib brauchte. Autobiographie als Autohalluzination in gut 18 Büchern, von denen die Welt einige verschlang und den Rest vergaß. Sein Fall war nicht unähnlich dem des Carlos Castaneda und seinen Reisen mit den indianischen Schamanen, die ebenfalls das Feuer des New Age anheizten.
Tibet mag für manche das Land der Dämonen und Götter sein, es hat in der westlichen Phantasie jedenfalls genau diese immer wieder geweckt. Vor allem eignet es sich als Projektionsfläche wie die Rückseite des Mondes. Das Land unter dem Himmel ist ein Stachel im Fleisch unserer Politik, es ist Traumland und Utopie für Esoteriker, Herausforderung für Kletterer, ein unzivilisiertes, sozial rückständiges und zu kontrollierendes Land für die Chinesen. Das geistige Staatsoberhaupt hält sich seit Jahrzehnten im Ausland auf und ist so etwas wie eine spirituelle Autorität für die Welt geworden – eindrücklicher und moderner, wie es scheint, als der Papst der Katholiken.
Alexandra besucht Aurobindo und die Theosophen
1911 erhält Aurobindo Ghose im südindischen Pondicherry Besuch von einer Französin. Es wird nicht die letzte sein. Seit 1910 lebt der bengalische Philosoph und Rebell in der französischen Enklave bei Madras (Chennai). Er hat sich von seinem politischen Aktionismus gegen die britische Herrschaft verabschiedet und widmet sich jetzt ganz dem Yoga. Soeben ist er in eine Schweigephase eingetreten, die bis1914dauern soll. Und doch unterbricht er sie für ein Gespräch mit der 43-jährigen Alexandra David-Néel, die sich zum zweiten Mal nach Indien begeben hat. Eigentlich ist Indien gar nicht ihr Ziel, aber es ist für sie ein wichtiges Sprungbrett – in den Himalaya. Zuvor hatte sie Pali-Studien bei dem buddhistischen Mönch Nyanatiloka auf Ceylon betrieben. Der Deutsche, der einmal Anton Gueth hieß, hatte hier eine kleine Kommune für Buddhisten errichtet. Danach zog sie weiter nach Pondicherry, um Aurobindo zu sehen.
Sehr ergiebig scheint die Unterhaltung in dem kargen Zimmer nicht gewesen zu sein, aber gibt doch Aufschluss über die Persönlichkeit von Alexandra David-Néel. Sie berichtet in ihrem Buch über Indien (Mein Indien) über den Kult, der sich um Aurobindo zu entwickeln beginnt. Der Guru lasse sich sonst kaum sehen, nur gelegentlich stecke er die Füße unter einem Vorhang hervor und die Anhänger knien vor diesen nieder. Man solle aber solche Devotionen nicht allzu ernst nehmen – es sei wie bei uns das Hutziehen. Alexandra hat einen skeptisch-distanzierten Blick auf die spätere Entwicklung bis zum Tod des Meisters im Jahre 1950 und der Übernahme seines geistigen Erbes durch Mother. Oh, ja, die kannte sie noch sehr gut aus Pariser Zeiten! Sie erinnert sich an gemeinsame Spaziergänge mit dieser anderen Französin, Mira Alfassa, an anregende Abende mit langen Diskussionen.
Das Wichtigste, was ihr durch den Kontakt zu Aurobindo zustößt, ist, dass sie nun besonders scharf von der britischen Kolonialpolizei beobachtet wird. Ist die reiselustige Französin vielleicht eine Spionin? Jedenfalls werden von nun an Berichte über sie für die Polizei geschrieben werden, Berichte, die besonders virulent sind, als sie die Reise nach Tibet antritt. Shangri-La, diese Vorhalle des Himmels, ist von Polizisten und Geheimdiensten bewacht wie kein anderes Land, so als entscheide sich hier das Machtspiel der Welt.
Alexandra David-Néel hat sich in Pondicherry gut unterhalten, wie es scheint, und ist nun auf dem Weg nach Adyar, unweit von Madras (Chennai), wo sich der Hauptsitz der Theosophen befindet. Madame Blavatsky ist inzwischen verstorben (1893) und nun regiert Annie Besant den weltweiten Verband von Geist- und Wahrheitssuchern. In Madras wird David-Néel von einem gutgekleideten Engländer am Bahnhof abgeholt, was sie verwundert. Sie hält ihn für einen Theosophen, doch er ist der Polizeichef. Er fragt sie höflich über ihren Besuch bei Aurobindo Ghose aus, diesem Aufrührer, der gerade vor den Briten geflüchtet war. Die Französin betont ihre geistigen Interessen und Aurobindos philosophische Bedeutung. „Er besitzt“, so der Polizist, „fraglos höchst bemerkenswerte intellektuelle Fähigkeiten, aber er ist auch ein gefährlicher Mann. Ihm haben wir es zu verdanken, dass Mr. Ash einem Mordanfall zum Opfer gefallen ist.“ Die Französin aber konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Philosoph ein Mörder oder Mordsgeselle sein sollte (David-Néel 1993, 172f.).
Ein Tor nach Asien: Le Musée Guimet in Paris
Alexandras Weg in den Orient begann in ihrer frühen Jugend; die Theosophie bildete dabei eine Brücke. Als Mädchen war sie sehr früh von asiatischen Ideen und Bildern angezogen worden. Eigentlich war es die Saat eines Museums, die in ihr aufging, des Musée Guimet in Paris.
Das Museum geht auf den Industriellen Émile Guimet (1836-1918) zurück. Ein Liebhaber der asiatischen Künste, insbesondere Chinas, Japans und Indiens, Forschungsreisender mit großem Gefolge, König aller Sammler – er hatte Glück, dass sein Vater oft die Geschäfte der Chemiewerke in Lyon übernahm, damit der Sohn seinen vielfältigen und wenig kommerziellen Neigungen nachgehen konnte. Guimet hatte auch eine musikalische Begabung und schrieb Liebeslieder, Romanzen und die Oper Tai-Tsoung (1894), gewidmet dem Tang-Kaiser Taizong, der von 626 bis 649 China regierte. Er hatte eine Leidenschaft für die Ägyptologie, schrieb Bücher über seine Reisen in Ägypten, Indien und Japan. Er verwandelte sich den Kulturen an, suchte nach Brücken und Vergleichen. Den Buddhismus wollte er mit einer buddhistischen Seele verstehen, den Konfuzianismus mit der Seele eines chinesischen Gelehrten (Beaumont 11). Der Unternehmer, Philanthrop, Sammler, Connoisseur der asiatischen Künste, Archäologe und Komponist führte ein höchst privates Leben und ließ wenig davon an die Öffentlichkeit. 1889/90 schließlich eröffnete er seine Sammlung am Place d’Iéna in Paris und ermöglichte so den Europäern einen Zutritt zu den Schätzen Asiens.
Der Lama im Museum: Agwan Dorschiew
Am 27. Juni 1898 findet im Musée Guimet eine buddhistische Zeremonie statt, wohl die erste überhaupt in Frankreich (s. Bild ) Gekommen ist ein tibetischer Lama, eigentlich ein Burjate, der am Baikalsee geboren wurde. Er heißt Agwan Dordschiew (1853-1935) und ist Lehrer und Berater des 13. Dalai Lama. Er ist auch in politischer Mission unterwegs, denn er möchte eine französisch-russische Allianz für Tibet (gegen Großbritannien) aufbauen, ist mithin Teil des Great Game, dem Wettkampf um das Innere Asiens. Der heutige Dalai Lama, der 14. also, ist jedoch der Meinung, dass Dordschiew in erster Linie ein weiser Gelehrter und frommer Buddhist war und kein Spion.
Dordschiew sollte von 1909 bis 1913 in St. Petersburg zusammen mit den Theosophen einen großen buddhistischen Tempel errichten – gegen den Widerstand der Orthodoxen Kirche. Der Maler Nikolai Roerich wurde mit den Glasfenstern beauftragt. Der Lama stellte die vielleicht wichtigste Verbindung zwischen dem zaristischen Russland und Tibet dar. Nicht zufällig vertrat er die These, dass Russland das nördliche Shambhala darstelle und der Zar die Verkörperung einer buddhistischen Gottheit, der Weißen Tara, war. Im Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfasste ein Mönch namens Uljanow gar ein Buch, in dem er nachweisen wollte, dass die Romanows Nachkommen des Königs von Shambhala waren. Dordschiew selbst sollte nach der Revolution mehrmals inhaftiert werden und wurde schließlich 1938 nach einer Razzia gegen buddhistische Lamas umgebracht. Der Tempel wurde zwar nach der Revolution umfunktioniert, konnte aber erhalten bleiben. Während der Belagerung Leningrads durch die Deutschen verzichtete man auf die Bombardierung des Tempels, weil es unter den Nationalsozialisten (Ahnenerbe) noch Anhänger des tibetischen Buddhismus gab, die sich für eine Verschonung einsetzten. 1989 wurde er in einer religiösen, von einem Lama geleiteten Zeremonie wieder in Betrieb genommen. 2004 feierte man hier den 150. Geburtstag von Dordschiew und enthüllte eine Plakette.
Das Musée Guimet belebte mit Dordschiew die Verbindungen zwischen Lhasa, St. Petersburg und Paris. Anwesend war auch ein Freund Guimets, der Journalist Georges Clemenceau, der sich mit seiner Zeitschrift in diesem Jahr besonders für den Kapitän Dreyfus einsetzte und dafür Émile Zolas berühmten Brandruf „J’accuse“ gedruckt hatte. Wenige Jahre später sollte Clemenceau Ministerpräsident von Frankreich werden. Eine weitere Teilnehmerin war eine Dreißigjährige, die schüchtern einige Fragen stellt: Es ist Alexandrine Marie David, wie sie damals noch hieß. Hier in den Fragen, im Museum, beginnen ihre philosophisch-spirituellen Abenteuer.
Margaretha Geertruida Zelle / Mata Hari
Alexandra saß am liebsten im Lesesaal des Museums, in dem die Orientalisten studierten und nichts mehr von der Großstadt um sie herum mitbekamen: „In diesem kleinen Raum geben die Seiten beim Blättern lautlose Zeichen. Indien, China, Japan – alle Plätze dieser Welt, die jenseits von Suez beginnt, ziehen die Leser in ihren Bann… Hier, im Musée Guimet, habe ich als Zwanzigjährige meine Bestimmung gefunden.“ (David-Néel 1993, 11)
Die falsche Inderin: Mata Hari
Sieben Jahre später trat in diesem Museum auf Einladung des Direktors eine Tänzerin auf. Sie verdrehte die Köpfe ihrer Fans und verwirrte die Menschen in Europa. In Paris, wo sie zunächst als Zirkusreiterin und Model scheiterte, legte sich Margaretha Geertruida Zelle, die Tochter eines niederländischen Hutmachers und seiner aus Java stammenden Frau, eine neue Identität zu: Sie hieß von nun an Mata Hari. Jedermann wusste, dass sie eine indische Bajadere war, die in den unterirdischen Hallen Shivas in Südindien die Kunst des Tanzes erlernt hatte. Manchmal war sie auch die Tochter eines Sultans aus Java. Natürlich stammt sie aus der oberen Kaste der Brahmanen. Vor allem beherrscht sie die Kunst des Verschleierns und Entschleierns im erotisch wiegenden Tanz – eine Art indisch verbrämter Striptease. Indischen Tanz hatte sie nie studiert, sie kannte allenfalls das Kamasutra und hatte sich auf dieser Basis eine Phantasieform exotischer Leiblichkeit entwickelt. 1917 wurde sie als deutsche Spionin von den Franzosen hingerichtet. Noch gut zehn Jahre länger glaubte die Öffentlichkeit, dass sie aus Indien oder Java stammte.
Mata Hari gehört auch deshalb in die Geschichte der europäisch-asiatischen Beziehungen, weil hier oft Scharlatanerie, Erfindung und Hochstapelei vorherrschen. Täuschung und Projektion funktionieren besonders in einem Umfeld des Unwissens und sie sind aufeinander bezogen. Projektion ist eine Form der Selbsttäuschung, indem ich das Andere für mich vereinnahme, es mir aneigne, ohne der Andersartigkeit inne zu sein. Diese Täuschungen von sich und anderen können sich unter dem Druck von nachbetenden Medien und dem Narzissmus der Leser und Beobachter verselbständigen. Eine Zeitlang kann der Betrug sogar eine Menge Geld einbringen, vielleicht auch Ruhm, doch eines Tages schlägt die getäuschte Welt zurück – man erinnere sich an Karl May und die Prozesse, die er am Ende seines Lebens gegen seine Widersacher führen musste.
Im Zusammenhang mit Alexandra David-Néel ist dieses Thema durchaus angebracht, da die Französin von einer Aura der Täuschung und der Spionage umgeben war, was ihr den englischen Geheimdienst immer wieder auf die Fersen setzte – ähnlich wie in Jules Vernes In Achtzig Tagen um die Welt, wo der arme Passepartout stets geheimdienstlich beobachtet wird. Mit Mata Hari teilte Alexandra David-Néel aber nicht nur den Gebrauch von Pseudonymen und die Verwandlung, sondern auch die Neigung zu Tanz und Musik: Sie vollzog sozusagen einen westöstlichen Schleiertanz, in dem das Wahre vom Falschen so schwer zu trennen ist. Das sind jedoch nur äußere Ähnlichkeiten, denn die Französin stellte diese Fähigkeiten in den Dienst einer ernsthaften und ertragreichen Suche nach fremden Wissen.
Stationen einer unfrommen Pilgerin
Unter den Büchern der Orientalisten und in Gesprächen mit ihnen entdeckte David-Néel also ihre Bestimmung. Das hieß nichts anderes, als ihrem eigenen Weg zu folgen, ungeachtet aller Konventionen und christlich-westlichen Wertvorstellungen. Ihr Horoskop spricht von einer „rätselhaften Persönlichkeit, die sich weigert, ein gewöhnliches Leben zu führen“, von ihrer Eigensinnigkeit, ihrer Suche nach den Mysterien, von ihrer Leidenschaftlichkeit ebenso wie von ihrer Indifferenz, ihrem Stolz und ihrer Kompromisslosigkeit (van Heurck 17).
Das Elternhaus war sehr wichtig für sie, insbesondere der Vater, ein Republikaner, der nach der Niederschlagung der Pariser Kommune mit der Familie nach Belgien emigrierte. Er pflegte Kontakte zu Anarchisten und Sozialisten sowie zu anderen Emigranten, wie etwa Victor Hugo (auf dessen Knien die Tochter gesessen haben soll). Der Feminismus sagte ihr zu, sie würde darüber ein Buch schreiben. Schon früh hatte sie ihr Eigensinn in die Ferne getrieben. Zunächst durch Bücher, vor allem die Werke von Jules Verne. Mit 15 unternahm sie einen ersten Fluchtversuch nach England, der aber misslang. Kaum war sie dann volljährig, reiste sie nach London und studierte orientalische Sprachen und Philosophie. Dabei geriet sie in den Bannkreis der Theosophie. Sie wurde nie so wundergläubig, wie es viele Theosophen waren, doch teilte sie mit ihnen Ansichten von der geistigen Struktur des Universums. Madame Blavatsky lernte sie kennen, denn diese wohnte gerade in London, es war zwei Jahre vor ihrem Tod 1893. Alexandra bewunderte sie für ihre weibliche Stärke, ihren Feminismus, ebenso wie sie später Annie Besant, die Nachfolgerin, respektierte. Bei Besant wohnte sie sogar eine Zeitlang; durch sie sollte sie den Weg nach Indien finden. Denn alle Wege führten zunächst einmal nach Adyar bei Madras, dem theosophischen Weltzentrum.
Zuvor aber machte sie eine Karriere als Opernsängerin. Tourneen mit Verdi, Puccini und führten sie nach Haiphong und Hanoi, später nach Nordafrika. Hier lernte sie ihren Mann kennen, einen französischen Eisenbahningenieur, der Linien von Tunis bis Algerien baute. Doch Asien zog sie immer stärker an. Da ergab sich eine Gelegenheit, nach Indien zu gehen. Was ursprünglich als ein kurzer Spaziergang gedacht war, entpuppte sich als Lebensweg. Das Paar wollte sich nach einigen Monaten wiedersehen, doch daraus wurden 14 Jahre.
Indien war für sie das Tor zum Inneren Asiens. Sie nahm alles mit von dort, Yoga, Gurus, Krankheiten, Magie, tantrische Kulte, Spiritualität. Auch Japan bereiste sie und war 1917 in einem Hotel in Tokyo, wo sich auch der Sohn von Tolstoi aufhielt, mit dem sie interessante Gespräche führte. Mirra Alfassa scheint hier zur selben Zeit gewesen zu sein, und wohl auch Tagore, von dem Alfassa seine Schreibmaschine erhielt.
Es folgten über die Jahrzehnte immer neue Versuche, die geheimnisvolle Stadt Lhasa zu erreichen. Sie war so etwas wie der Stein der Weisen der europäischen Alchemisten und konnte nur unter viel Mühsal und Strapazen gewonnen werden. Tibetisch beherrschte David-Néel inzwischen sehr gut, neben einer Reihe anderer asiatischer Sprachen. Sie hatte Mumm und Humor und zog, manchmal als Mann verkleidet, durch die Höhen und Tiefen des Himalaya, mit Maultieren und Yaks, Sherpas und Soldaten. Sie hatte endlose Hindernisse zu überwinden, Bergpässe wie Reisepässe, Bürokraten wie Lamas; Räuberbanden lauerten, Mönche zockten ab oder halfen, Unwetter zogen herauf und verwandelten die Berge in ein einziges Schlammloch und trieben die Flüsse aus ihren Betten. Krankheiten befielen sie und ihre Begleiter. Nie legte sie ganz ihre französische Rationalität ab, bei aller Liebe zu Mysterium und Mystik. Sie wusste sehr genau die Illusionen ihrer Gegner zu füttern und den Aberglauben mancher Leute auszunutzen, die ihr nicht wohlgesonnen waren.
Mit ihrem tibetischen Adoptivsohn Aphur Yongden bildete sie ein eingeschworenes Team. Er verkaufte sie als göttliche Inkarnation oder als Würdenträgerin, wenn man sie nicht über den Fluss lassen wollte oder eine Straße schnell repariert werden musste. Yongden nutzt auch seine Taschenlampe, um göttliche Kräfte zu demonstrieren. Nicht einmal ein Lama besaß sowas! Man konnte damit Regen zaubern oder stoppen, die Ernte zerstören oder den Boden fruchtbar machen! (David-Néel 2018, 36). Das machte mächtig Eindruck, ebenso wie Alexandras gelbe Mütze und die tantrische Halskette mit den 108 Knochenstückchen aus menschlichen Schädeln, und so manche Tür öffnete sich den beiden. Sie konnte auch Flüche aussprechen, die ihre Wirkung bei den Hörern nicht verfehlten: „Weil ihr eine Khandoma [eine Zauberfee, d.h. sie selbst] an einen unreinen Ort geschickt habt, sollen die Dämonen euch heimsuchen, und ihr sollt in eurem nächsten Leben Sch… fressen.“ (ebd. 35). Yongden war zudem der einzige Bolschewik der Gruppe, „und damit ist er wohl einfach mein Schüler. Doch so fortgeschrittene Ideen er auch haben mag, er hat nie protestiert, wenn ich ihn schlug.“ (ebd. 31) Ja, sie konnte ihre tibetisch-indischen Begleiter ganz schön drangsalieren, die Anti-Kolonialistin, aber diese wussten auch, dass sie sie immer beschützen würde, wenn es darauf ankam. Politisch war sie eher links einzuordnen, aber wehe dem, der sie ideologisch festnageln wollte! Himmler las ihre Werke, als er arische Träume über Tibet hatte; mit Mussolini war sie bekannt, er lud sie einmal ein; sie lehnte jedoch ab. Hitler soll sich bei einem ihrer Vorträge in Deutschland angemeldet haben, war aber wohl verhindert. So wie Tibet im westlichen Bewusstsein schillerte, so schillerte auch diese Frau zwischen Anarchisten, Heiligen und Massenmördern.
Sie traf auf ihrer Reise auch einen französischen Priester, mit dem sie sich bestens unterhielt, wobei sich beide nicht um den Glauben des anderen kümmerten: sie die Buddhistin, er der Katholik. Eine erfrischende Begegnung in der Einsamkeit Tibets. Bei ihm schaute sie sich wieder einmal französische Illustrierte an und stellte fest: „all diese Leute schlemmen, turteln, schwadronieren … Ich habe den Eindruck, die Insassen einer Irrenanstalt zu betrachten.“ (ebd. 51) Keine Seite ihrer Bücher vergeht ohne einen Seitenhieb, ohne eine ironische Anmerkung, eine humoristische Selbstveräppelung. Was bleibt, ist Skepsis gegenüber den religiösen Verrücktheiten der Menschen, und die erhält sie sich ihr ganzes Leben lang.
Immer trug sie die heiligen Schriften mit sich, die sie studierte, um dem Geheimnis Tibets, was ein anderes Wort für das Universum ist, näher zu kommen. Sie schrieb und schrieb: Reiseerzählungen, Berichte, einen Tibetroman, Forschungen über Hexen und Heilige und viele, viele Briefe. Sie dienten ihr der Selbstvergewisserung, ersetzten oft das Tagebuch und hielten den Kontakt mit ihrem fernen Ehemann aufrecht. Der Eisenbahningenieur lebte weiterhin im Maghreb, schickte Geld wenn nötig, und führte ansonsten sein eigenes Leben; es war ihr nicht unbekannt, dass er ein Schürzenjäger war. Aber das konnte ihr nur recht sein, denn auch sie führte ihr eigenes Leben. Überliefert ist ein riesiges Konvolut an Briefen, die bis heute noch kaum ausgewertet sind.
Anfang 1924 erreichen Alexandra David-Néel und Aphur Yongden, beide schwer krank, sie dünn wie ein Skelett, die Gelobte Stadt Lhasa, das Jerusalem des Ostens. „Aber ich war auf Lhasa in keiner Weise neugierig. Ich bin hingegangen, weil die Stadt auf meinem Weg lag und auch weil ich denen, die den Zugang zu ihr verbieten, einen echten Pariser Streich spielen wollte.“ (ebd. 164) Hier ist sie wieder, die französische Variante des Eulenspiegels. Es ging ihr also nicht so sehr um Lhasa, sondern darum einen Spaziergang gut zu Ende zu bringen, vor allem aber einen großen Weg gemacht zu haben. Das Glück liegt nicht in Lhasa, sondern in der Überwindung des Weges dorthin. Der Stein der Weisen, das Gelobte Land ist kein Ding, ist auf keiner Karte, sondern es ist die eigene Bewegung, die fortgesetzte Suche. Selbst wenn dieses Etwas imaginär wäre, so hätte es seinen Dienst getan. Nachdem sie einen Antrag auf Erneuerung ihres Reisepasses gestellt hatte, starb Alexandra David-Néel 1969 als Hundertjährige in der alpinen Provence. Ihre Asche wurde 1973 auf dem Ganges in Varanasi verstreut.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweise:
Beaumont, Hervé. Les aventures d’Émile Guimet (1836-1918), un industriel voyageur. Paris: Flammarion 2014.
David-Néel, Alexandra. Mein Indien. München: Knaur 1993.
—. Mein langer Weg in die verbotene Stadt. Briefe aus Tibet. Wiesbaden: Erdmann 2018.
Dordschiew, Agwan: https://fr.wikipedia.org/wiki/Agvan_Dorjiev
Zugriff 29.7. 2020.https://en.wikipedia.org/wiki/Agvan_Dorzhiev Zugriff 9.4. 2020
Foster, Barbara und Michael Foster. The Secret Lives of Alexandra David-Neel. A Biography of the Explorer of Tibet and Its Forbidden Practices. Woodstock/New York: Overlook 1998.
Lopez, Donald S. jr. Prisoners of Shangri-La. Tibetan Buddhism and the West. University of Chicago 1999.
Snelling, John. Buddhism in Russia. The Story of Agvan Dorzhiev. Element Books 1993.
Van Heurck, Philippe. Alexandra David-Néel (1868-1969). Mythos und Wirklichkeit. Ulm: Fabri 1999.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.