Zwischen Mythos und Machtanspruch. Die (Kiewer) Rus/Русъ

Einige Mythen, dazu gehören auch die Verschwörungsmythen, sind besonders hartnäckig. Sie behalten ihre Wirksamkeit bis heute und können durchaus politische Handlungen bewirken. Zu ihnen gehört u. a. der Mythos von der Kiewer Rus, der Kosaken-Mythos wie auch der Mythos vom russischen und ukrainischen Brudervolk, von ihrer „unverbrüchlichen Freundschaft“. In Folge des Kosakenaufstands unter Bogdan Chmelnizki/Chmelyzkyj (1595-1657), der Russland einen Vertrag anbot, sollte die Ukraine ein autonomer Teil Russlands werden. Ein Teil der Kosaken wollte allerdings lieber der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik angehören, in der sie sich größere Freiheiten versprachen.

Letztendlich wurde die Ukraine zwischen den beiden rivalisierenden Großmächten aufgeteilt; es entstand das Konzept von den zwei verschiedenen Ukrainen (Mykola Rjabčuk). Der vor allem von Russland, und teilweise zunächst auch von ukrainischen Intellektuellen vertretene Mythos von der zweigeteilten Ukraine, einer russischsprachigen, prorussischen und einer ukrainischsprachigen, pro westlichen, existiert spätestens seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine als solcher nicht mehr. Er wurde bemüht, um die Anerkennung der beiden Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu begründen. Unabhängig vom Wohnort und der bevorzugten Sprache will heute die große Mehrheit der Ukrainer in einem demokratischen Staat leben und keine Teilung des Landes in zwei Staaten oder eine Abspaltung von ukrainischen Regionen akzeptieren. Die überwiegende Mehrheit aller Ukrainer betrachtet die Ukraine als ihr Vaterland, auch im angeblich prorussischen Osten.

Zunächst hatte sich in der Westukraine eine nationale ukrainische Bewegung, eine eigene ethnisch-kulturelle ukrainische Identität herausgebildet; es wurde die Entstehung eines unabhängigen demokratischen ukrainischen Staates – weg von der Sowjetunion bzw. weg von Russland – angestrebt. Nach dem Ende der (russischen) Oktoberrevolution war eine selbständige ukrainische Republik entstanden, die bereits 1920 von der Roten Armee besetzt wurde. Durch den Friedensvertrag von Riga von 1921 fiel die Westukraine schließlich an Polen. Aus der Ost- und Zentralukraine wurde die Ukrainische Sowjetrepublik gebildet. Im  Zweiten Weltkrieg wurde dann der ukrainische Nationalismus von Hitler gegen die Vorherrschaft der Russen, gegen die Sowjetunion ausgenutzt und bewusst funktionalisiert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Ukraine zu einem unverzichtbaren Bestandteil der UdSSR.

Anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der russisch-ukrainischen Einheit, als solche festgelegt im Vertrag von  Perejaslaw, in dem die Mehrheit der ukrainischen Kosaken den Treueeid auf den russischen Zaren abgelegt hatten, machte Nikita Chruschtschow per Dekret die Krim der Volksrepublik Ukraine zum bis heute umstrittenen „Geschenk“. Die nachfolgende gewaltsame Annexion der Krim durch Russland wurde dabei als ein wichtiger Schritt zur Wiedervereinigung der Ukraine mit dem russischen Mutterland angesehen. Die wachsende kulturelle und mentale Distanz zwischen beiden Ländern und Völkern führte letztendlich auch zur Auflösung des Bruder-Mythos. Innerhalb der Ukraine war es zu erheblichen Meinungsunterschieden und Richtungskämpfen zwischen Anhängern Russlands und Fürsprechern einer engen Anbindung an den Westen gekommen, die sich u.a. in Gestalt des „Euromajdan“ äußerte, der von Russland als illegaler Staatsstreich, als eine wirtschaftliche wie politische Bedrohung der „allrussischen Welt“ angesehen wurde.

Die von Russland postulierte Einheit aller ostslawischen Völker richtete sich explizit zunächst gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine, gegen ein eigenes ukrainisches Bewusstsein, eine eigene Identität. Dabei berief man sich in Russland zuvorderst auf die gemeinsamen Wurzeln, auf das Erbe der Kiewer Rus. Selbst die politische Elite Russlands konnte nicht vom Mythos der „Einheit der slawischen Brudervölkern“ lassen, auch sie sah in der Ukraine einen festen Bestandteil, eine Provinz Russlands. Die ukrainische Geschichtsschreibung wiederum nahm nicht nur die Rus, sondern die gesamte Geschichte auf dem Gebiet der heutigen Ukraine für sich in Anspruch, um auf eine eigene „ewige“ Geschichte und Kultur zu verweisen. Dabei wird das Erbe des „goldenen Zeitalters“ der Rus auch für die tausendjährige Tradition der ukrainischen Staatsbildung in Anspruch genommen.

Blicken wir zum besseren Verständnis kurz auf die Geschicke der Kiewer Rus zurück, die als lebendiger Mythos von beiden Seiten funktionalisiert und für eigene Machtbestrebungen zunehmend in Anspruch genommen wird. Um die Ausprägung einer ukrainischen Eigenstaatlichkeit, die Herausbildung einer eigenen Identität, vor allem aber die gegenwärtigen heftigen Auseinandersetzungen um die Ukraine entsprechend wahrnehmen und einschätzen zu können, bedarf es einiger historischer Kenntnisse der Rus wie auch der ukrainischen Geschichte.

Kurzer historischer Abriss

Im Jahre 882 zog Fürst Oleg der Weise (882-912), seinem Ursprung nach Waräger und deshalb auch unter dem Namen Helgi bekannt, als „ein Mann weise und tapfer“, als Herrscher über das reiche Nowgorod, in südliche Richtung hin bis zu den Kiewer Höhen. Als er diese endlich erreicht hatte, entschied er, sich an dieser Stelle niederzulassen. Und so sprach er, wie die Nestorchronik berichtet: „Dies soll die Mutter aller russländischen Städte sein“, ein neues, ein zweites Jerusalem. Am schiffbaren Dnepr gelegen, konnten von der Stadt Kiew aus Feldzüge und Handelsreisen nach Griechenland, Konstantinopel und in den Orient unternommen werden. Es setzte eine umfangreiche Bautätigkeit ein, Burgen und Städte wurden gebaut und damit der Machtbereich des Fürsten ständig erweitert.

Selbst Nowgorod im Norden musste Kiew Tribute zahlen. Vor der Kiewer Landnahme Olegs hatte 862 bereits der legendäre Rurik, Begründer des bis ins 17. Jahrhundert bestehenden Fürstengeschlechts der Rurikiden, Nowgorod zur Hauptstadt seines Herrschaftsgebiets gemacht. In Folge ausgedehnter Exkursionen und Symbiosen mit anderen, nicht nur slawischen Stammesgruppierungen waren bis  zum 9. Jahrhundert die ostslawische Stämme hervorgegangen, von denen die erwähnte Nestorchronik zu berichten weiß. Sie bildeten die Grundlage für die Herausbildung des multiethnischen Großreichs der Rus, das erst seit dem 19. Jahrhundert als Kiewer Rus bezeichnet wird. Bis heute werden über die Herkunft des Namens heftige Auseinandersetzungen ausgetragen. Sollte die Rus zunächst tatsächlich von normannischen Kriegern aufgebaut worden sein, dann könnte der Name Rus tatsächlich auch von ihnen stammen. Zunächst wurde allerdings die „Normannenthese“ kategorisch abgelehnt. Heute kann sie allerdings als widerlegt gelten.[1] Dementsprechend wird die Herkunft des Namens Rus von der modernen Sprachwissenschaft auch als eine Ableitung von „Ruotsi“ (Ruderer) erklärt, eine Bezeichnung, die von den finnischen Küstenstämmen für die Schweden mit ihren Wikingerschiffen verwendet wurde. Daraus soll Rus zu einer Bezeichnung für alle Waräger geworden sein, deren Land nunmehr ebenfalls als Rus bezeichnet wurde.

Bis zum Ende des 16. Jahrhundert herrschten die schon bald slawisierten Rurikiden im Moskauer Reich. Dank zahlreicher Heiratsverbindungen waren sie mit Dynastien in ganz Europa verbunden (u.a. Frankreich, Deutschland, Polen, Ungarn, Skandinavien und Byzanz), was sich überaus vorteilhaft für die weitere Entwicklung von Wirtschaft, Handel, Bildung und Kultur auswirkte. Gegen die Normannenthese opponierte in erster Linie die russische Geschichtsschreibung, die darin eine Abwertung der eigenen slawischer Kulturleistungen bis heute sieht. Die Feinde des russischen Volkes, der Sowjetunion und der Russischen Föderation würden damit eine Vorstellung lancieren, dass die ostslawischen Völker eben nicht in der Lage gewesen waren, eigene Staaten zu gründen.

Vom Namen Rus leiten sich aber auch die Ethnonyme der Russen und Belorussen ab, ebenso wie die Namen Rusinen (Rusynen), Ruthenen und Kleinrussen, eine Bezeichnung, die zumeist abwertend von den „Großrussen“ für die Ukrainer verwendet wird. Die Rus war eine lockere Föderation unterschiedlicher Teilfürstentümer. Durch kriegerische Einfälle geschwächt, entstanden in den Grenzgebieten weitere Machtzentren, so die Fürstentümer Wladimir-Susdal im Nordosten, Galizien-Wolhynien im Südwesten, Polozk im Westen und die Stadtrepublik Nowgorod im Norden. Von 1237 bis 1240 wurde die Rus von Tataren (Mongolen) erobert, die Fremdherrschaft über die nördlichen Fürstentümer, an deren Spitze seit dem 14. Jahrhundert Moskau stand, dauerte mehr als zwei Jahrhunderte. Zur selben Zeit fiel der Süden und Westen der Rus an das Großfürstentum Litauen bzw. an das Königreich Polen.

Damit begann eine unterschiedliche Entwicklung in der von neuen geteilten Rus. In den Grenzen der Rus lebten u. a. die am Flusse Bug und in Wolhynien lebenden Slawen, die Drevljanen (d.h. Waldbewohner) des südlichen Pripjet/Pripjat-Gebietes, die Dregowitschen (Sumpfbewohner) in den Niederungen des Pripjat-Flusses sowie die Poljanen (Feldbewohner) im Gebiet des Dnepr-Flusses um Kiew. Ein wichtiger Stammesfürst der Poljanen war übrigens Kij mit seinen Brüdern Šček, Choriv und seiner Schwester Lybed‘. Sie ließen eine mächtige Burg zu Ehren ihres ältesten Bruder errichteten und benannten diese nach ihrem Bruder Kiew. Die Stadt entwickelte sich alsbald zu einem bedeutenden Machtzentrum der Ostslawen. Die Rus wiederum entwickelte sich zu einem frühfeudalen Großreich, das seinem Umfang nach mit dem Byzantinischen Reich oder auch dem Reich der Karolinger vergleichbar war. Über die Rus berichteten slawische Chroniken ebenso wie arabische Reisende, byzantinische Historiker und Staatsbeamte, sie findet aber auch in diversen skandinavischen Sagas Erwähnung. Die Fürsten von Kiew unterwarfen immer mehr Ländereien, die sie in ihr Reich eingliederten. Dabei erstreckte sich die Rus, die ethnisch, kulturell wie auch politisch gesehen kein homogener Staat war, von den Karpaten bis zum Nordkaukasus. Zwar dominierten in der Rus die Ostslawen, aber es gab auch finnougrische und baltische Stämme, vor allem in den Randgebieten.

Bis in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts herrschten in diesem Reich unterschiedliche heidnische Glaubensformen mit Haupt- und Nebengöttern vor. Eine bedeutende Epoche in der Geschichte der Rus und ihrer gleichnamigen Hauptstadt war die Herrschaftszeit von Großfürst Vladimir Svatoslavič (980-1015), in der die Vereinigung der ostslawischen Stämme zu einem einheitlichen Staat abgeschlossen wurde. Als Symbol der Einheit der Rus ließ er einen heidnischen Tempel mit „Götzenbildern“ von sechs zentralen slawischen Göttern errichten: Perun, Choros, Dažbog, Stribog, Simargl und Mokoš. Ein mächtiger Festungswall schützte den Altkiewer Berg wie auch die Wladimirstadt mit ihren drei Toren, unter ihnen das steinerne Paradetor, später als Sophientor bekannt.

Bereits seit Ende des 9. Jahrhunderts verbreiten sich in der Rus erste Nachrichten vom christlichen Glauben. Nachdem die verbindliche Einführung des Perun-Kults und eines damit verbundenen vorchristlich-slawischen Pantheons gescheitet war, übernahm Großfürstin Olga, 955 römisch-katholisch getauft und später auch heiliggesprochen, die neue Religion. Die aus einer Waräger-Familie stammende Großfürstin hatte Otto den Großen bei ihrem Unterfangen, die Rus zu christianisieren um Hilfe gebeten. Die daraufhin erfolgte Missionsreise des Bischofs von Magdeburg scheiterte allerdings. Erst gegen Ende des 10. Jahrhunderts begann sich der orthodoxe Glaube durch Olgas Enkel Wladimir (ukrainisch Wolodymir) durchzusetzen, der sich 988 mit seinen Bojaren taufen ließ, nachfolgend die Tochter des oströmischen Kaisers heiratete und das Christentum zur Staatsreligion der Rus erklärte. Mit der Gründung der orthodoxen Kirchenprovinz von Kiew und der ganzen Rus festigte sich zugleich auch die Stellung des Staates weit über die Grenzen Europas hinaus. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts gehörte die Rus bald schon zu den größten europäischen Staaten. Wirtschaft, Handel und Schiffsverkehr auf den großen Flüssen und dem Schwarzen Meer erstarkten, es wurden internationale Verträge geschlossen, Gesetze erlassen und die Hauptstadt Kiew wurde weiter ausgebaut. An der Spitze der Kirche der Rus stand der von Konstantinopel bzw. auch von den Teilfürsten eingesetzte Kiewer Metropolit, dessen Sitz zunächst die von 989 bis 996 errichtete Desjatin bzw. Zehntkirche wurde, später gefolgt von der berühmten Sophienkathedrale. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das im 11. Jahrhundert entstandene Höhlenkloster, das größte der Rus.

Der Mythos Rus

Das mittelalterliche Großreich der Rus, das in seiner Bedeutung in wirtschaftlicher wie kultureller Hinsicht (Architektur, Rechtsprechung, Literatur, Malerei, Bildung) weit über seine eigentlichen geographischen Grenzen hinaus reichte, kann als ein Vorläuferstaat Russlands, der Ukraine, aber auch von Belarus angesehen werden. Im 18. Jahrhundert versuchten die russischen Zaren Kiew als „Wiege der russischen Orthodoxie“ wie auch als Zentrum des russischen Imperiums zu etablieren. Ein großstaatliches Narrativ, das sich gegen die Polnisch-Litauische Adelsrepublik richtete, auf die u.a. Geistliche und Literaten des habsburgischen Galizien setzten, um eigene Machtansprüche zu legitimieren. Hinzu kommt seit dem 17. Jahrhundert eine ukrainisch-zentristische Interpretation unter dem Metropoliten Petro Mohyla und dem Kosakenheld, Hetman Ivan Mazepa in Gestalt eines identitätsstiftenden Mythos der ruthenisch-ukrainischen Orthodoxie und des ruthenisch-ukrainischen Volkes. Das trifft des Weiteren auch auf historische Persönlichkeiten zu, wie z.B. Wladimir dem Großen, der von Russland und der Ukraine als eigentlicher Staatsgründer angesehen wird und bis heute Gegenstand heftiger geschichtsphilosophischer Auseinandersetzungen ist.

Seit 1472 war Moskau zum Zentrum des orthodoxen Christentums geworden, die Rus wird von nun an eher als ein Grenzland, eben als U-kraina bezeichnet. Die Wirkungsgeschichte fast all dieser Mythen setzte sich im 20. und 21. Jahrhundert fort, sie dienten einer ethnischen, kulturellen, konfessionellen und politischen Abgrenzung nach innen und außen. 2016 wurde im Zentrum Moskaus für Fürst Wladimir ein stattliches, immerhin 16 Meter hohes und nicht zu übersehendes Denkmal errichtet. In der einen Hand hält Wladimir ein Kreuz, in der anderen ein Schwert. Bei der Einweihung des Denkmals äußerte Wladimir Putin, dass mit Wladimir der Grundstein für die geeinte russische Nation wie auch der Weg zu einem starken einheitlichen russischen Staat gelegt worden sei. (Allerdings war Moskau erst im 12. Jahrhundert gegründet worden.) Zuvor hatte 1853 bereits das zaristische Russland ein 20 Meter hohes Denkmal an der Stelle am Ufer des Dnepr-Flusses errichten lassen, an der angeblich die Taufe des Fürsten stattgefunden und damit die Christianisierung der Rus begonnen haben soll. In der einen Hand hält hier Fürst Wladimir ein Kreuz, in der anderen Hand eine Krone.  Wir haben es bei der Rus mit einer geteilten Erinnerung, mit einem Gründungsmythos des heutigen russischen wie ukrainischen Staates zu tun. Dazu zählt auch die Kirche: die dem Moskauer Patriarchat unterstellte Ukrainische Orthodoxe Kirche ebenso wie die 2018 gegründete und dem Patriarchen von Konstantinopel unterstellte Orthodoxe Kirche der Ukraine. In Russland sieht man bis heute eine ununterbrochene historische, kulturelle, religiöse wie politische Kontinuität von der Rus über das russische Zarenreich, die Sowjetunion bis hin zur heutigen Russländischen Föderation. Die Ukraine wird dagegen als eine von Russland erschaffene und zu Russland gehörende Region angesehen.

In der ukrainischen Historiographie wird wiederum eine Kontinuität von der Kiewer Rus über das Fürstentum Galizien-Wolhynien, die Zugehörigkeit zur Polnisch-Litauischen Union, das Hetmanat der (Saporoger/Saporoscher) Kosaken, die ukrainische Volksrepublik innerhalb der Sowjetunion bis zum heutigen unabhängigen ukrainischen Staat in realen wie imaginierten Dimensionen postuliert. Die westliche Geschichtschreibung übernahm zumeist das nur wenig reflektierte russische Narrativ; erst in den letzten Jahren wird die Geschichte der Rus auch im Westen differenzierter betrachtet. Nach dem Zerfall der Sowjetunion  avancierte der Erbstreit um die „gemeinsame Wiege“ beider Völker, um die Herausbildung eines eigenen ukrainischen nationalen Bewusstseins zusehends. Das widerspielgelte sich u.a. auch deutlich in der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine vom 24. August 1991, die sich auf eine „tausendjährige Staatlichkeit“ seit der Kiewer Rus beruft. Übrigens auch der Name der ukrainische Währung, Hrywnja, mit den Porträts der Kiewer Fürsten Wladimir/Wolodymir und Jaroslaw versehen, geht auf die alte Geldbezeichnung der Kiewer Rus zurück, ebenso wie auch das Staatssymbol, der Dreizack auf dem ukrainischen Staatswappen.

In Russland ist die wichtigste Bezugs- und Identifikationsfigur der später heiliggesprochene Fürst Alexander Newski geworden, der ebenfalls aus der Rurikiden- Dynastie stammt. Der als Nationalheld Russlands und Heiliger der orthodoxen Kirche verehrte Fürst Newski hatte 1242 auf dem Eis des Peipus-Sees einen glorreichen Sieg über den Deutschen Ritterorden errungen wie bereits zuvor schon an der Newa gegen die Schweden. Daher sein Beiname „Newski“. Nach ihm wurde einer der höchsten Orden in der Sowjetunion und seit 2010 auch in der Russischen Föderation benannt. In der Ukraine war es wiederum der galizisch-wolhynische Fürst Danilo/Danylo (Daniel Romanowitsch von Galizien), 1240 Großfürst von Kiew, unter dem die Fürstentümer Galizien und Wolhynien den Höhepunkt ihrer Macht erlebte. 1253 war Danilo vom päpstlichen Legaten Opizo de Mezzano zum „König der Rus“/„Rex Russiae“ gekrönt worden. Aus ukrainischer Sicht steht Fürst Danilo für die Zugehörigkeit der Ukraine zum westlich-lateinischen Europa. Im Zentrum von Lemberg/Lviv steht auf dem Halytskyi-Platz ein Denkmal für „König Danilo“, sein Konterfei befindet sich auch auf ukrainischen Münzen, seit 2012 trägt der Flughafen von Lemberg/Lviv seinen Namen. Als im Sommer des Jahres 2013 das 1025. Jubiläum der Taufe der Rus in Kiew gefeiert wurde, entzündete sich erneut der Streit um das kulturelle Erbe und die ruhmreiche Tradition der Rus. Anstoß dazu waren Äußerungen des russischen Präsidenten, dass Russland und die Ukraine eine historische, kulturelle wie spirituelle Einheit bilden würden.

Nach der Annexion der Krim betonte Putin am 18. März 2014 noch einmal die gemeinsame Herkunft der Russen und Ukrainer von der Rus. Kiew sei nach wie vor das spirituelle, geistige und kulturelle Zentrum Russlands, die Wiege der russischen Seele. Es ist ein Geschichtsbild, das zuvor bereits Stalin mit grausamer Gewalt durchsetzen ließ. So wird von der russisches Seite mit dem Krieg gegen die Ukraine Geschichte als Waffe eingesetzt, wird des Weiteren bewusst an den Mythos vom ruhmreichen antifaschistischen Befreiungskampf im Großen Vaterländischen Krieg gegen die (deutschen) Faschisten angeknüpft. Dementsprechend gilt es die ukrainische Bevölkerung auch vom (Neo-)Faschismus, von militanten Nationalisten und Söldnern zu befreien. Es ist eine gefährliche These, die vom eurasischen Politologen und „Philosophen“ Alexander Dugin lanciert wurde. In diesem Kontext muss auf das Trauma der ethnischen Säuberungen, auf den Völkermord an den Ukrainern durch den Holodomor  (Mord durch Hunger bzw. Hungertod) verwiesen werden. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es in der Sowjetunion zu einer der größten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sechs bis sieben Millionen Menschen, davon in der Ukraine allein 3,5 bis 4,5 Millionen, wurden Opfer der Großen Hungersnot, verursacht durch Misswirtschaft, Missernten sowie die Enteignung und Deportation der „Kulaken“ als „Volkfeinde“. Die meisten Angehörigen der ukrainischen Elite, die den stalinistischen Säuberungen zum Opfer gefallen waren, wurden durch russische Kader ersetzt. Heute ist in der Ukraine der Holodomor, nicht aber in Russland, zu einem zentralen Aspekt der Erinnerungskultur geworden. Er steht auch im Zeichen der Distanzierung von der kommunistischen Vergangenheit und dient der Konsolidierung der ukrainischen Nation.  

Geschichtsdeutungen wie funktionalisierte und interpretierte Mythen sind zeitabhängig, sie können aktuellen politischen Zielen und Machtansprüchen mit fatalen Folgen dienen, wie der Überfall Russlands auf die Ukraine beweist. Die geteilte Erinnerung an die (Kiewer) Rus wird von beiden Seiten historisch verbrämt und geschichtspolitisch instrumentalisiert. Russlands Präsident will mit seiner Invasion „historisches Unrecht“ korrigieren. Das „ewige Russland“ wird dabei bewusst als ein löblicher Gegenentwurf zum dekadenten Westen gesehen.

Seit 1991 fordern russische Nationalisten, unter ihnen auch der Schriftsteller Alexander Solschenizyn, die Rückgabe der russischsprachigen Gebiete der Ukraine an Russland. Wladimir Putin bestätigte 2014 die Rückkehr von “Noworossija“/„Neurussland“ in den mütterlichen Schoß Russlands. Die neue Regierung der Ukraine unter Selenskyjs wird dabei als eine von Nationalisten und Faschisten unterstützte Junta bezeichnet. Allerdings hat auch der ukrainische Nationalismus seine problematische Seite. Als nur ein Beispiel dafür mag der Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), der 1959 von einem KGB-Agenten im Münchner Exil mit einer Giftpistole (sic!) getötete Stephan Bandera (1909-1959) dienen. Bandera gilt bis heute als ein überaus polarisierender und heftig umstrittener ukrainischer Nationalheld. In der Sowjetunion in Abwesenheit zum Tode verurteilt, sprach ihn 1934 auch ein polnisches Gericht wegen seiner Beteiligung an einem Attentat auf den polnischen Innenminister schuldig. Ab 1940 stand Bandera an der Spitze der radikalnationalistischen und antisemitischen OUN-B(andera), die an der Ermordung von ca. 800.000 Juden unter den deutschen Nazis in der Westukraine beteiligt war. Kurz nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion proklamierte Bandera am 30. Juni 1941 in Lemberg einen unabhängigen ukrainischen Staat an der Seite Hitlers. Seine Kämpfer verübten Massaker in der polnischen Westukraine, 1943/44 wurden ca. 100.000 Zivilisten ermordet. Seine Anhänger, die sich bei Kriegsende offiziell von der faschistischen Ideologie verabschiedet hatten, kämpften bis in die 50er Jahre für eine „unabhängige Ukraine“. Dagegen gingen die Sowjets mit äußerst brutaler Gewalt vor; so fielen 150.000 Westukrainer dem sowjetischen Terror zum Opfer, mehr als 200.000 von ihnen wurde deportiert. Banderas Verehrung, vor allem in der Westukraine, benutzt Putin heute propagandistisch für die Rechtfertigung seines Angriffskrieges gegen die Ukraine.

Die sowohl von der russischen wie auch der ukrainischen Seite funktionalisierten Mythen gilt es gegen den Strich zu lesen. Dabei ist die Mythisierung auch in einem semiotischer „Verblendungszusammenhang“ zu sehen. Die politischen Gefahren eines ideologisch entfesselten „Mythendesigns“ müssen aufgedeckt, untergraben und kritisch hinterfragt werden, war doch das Mythische fast immer ein Instrument der Herrschaft, der Unterdrückung, aber auch der Vernichtung. Dabei gilt es zu neuen Einsichten und Erkenntnissen zu kommen, auch im Rahmen eines postkolonialen Diskurses.

Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte


Hans-Christian Trepte studierte Russisch und Englisch (Erwachsenenbildung) in Greifswald und Leipzig, nachfolgend Polonistik (Literaturwissenschaft) in Leipzig, Warschau und Wroclaw. 1979 Promotion über Jarosław Iwaszkiewiczs Epochenroman ” Sława i chwała” [Ruhm und Ehre]. 2002-2016 Mitarbeiter am Institut für Slavistik der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: polnische und tschechische Kultur und Literatur, Exilliteratur, deutsch-polnische kulturelle und literarische Beziehungen. Er ist auch als Übersetzer tätig (u. a. Jarosław Iwaszkiewicz, Henryk Grynberg, Tomasz Małyszek, Czesław Miłosz u.a. Zuletzt erschien in 2022 sein Buch „Zwischen Kap Arkona und dem Lausitzer Bergland. Westslawische Mythologie“ in der Reihe Kleines Mythologisches Alphabet (Edition Hamouda).


Beitragsbild: Olegs Feldzug gegen Konstantinopel 907, Miniature aus der Radziwiłł Chronik (frühes 13. Jahrhundert).


Anmerkung:

[1]Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. München: Beck 2021.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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