Das Meer war noch grau und stumpf, die Luft frisch, ein wenig kühl. Aus dem nächsten Dorf war das Krähen der Hähne zu hören. Das Einrollen der Schlafsäcke, das Umziehen und Packen – es dauerte eine gute halbe Stunde, bis wir bereit waren zum Aufbruch. Die Klippen rückten schon bald immer enger an den Steilhang heran, kein Wanderweg schien mehr weiterzuführen. Wir mussten bergauf zu den Dörfern Thalamos und Platano gehen. Denn dort oben verlief die Straße, die weiter nach Süden führte, nach Areopoli und dann bis zum Kap Tenaro, unserem vorläufigem Ziel. Zwei, drei Stunden gingen wir auf einem schmalen Pfad aufwärts, unterbrochen nur von einer kurzen Rast an einer Kapelle. Der Weg wurde nach einiger Zeit noch schmaler, zweigte sich auf in mehrere Fußpfade, brachte uns schließlich in ein kleines Tal, dessen Ende von dichtem Gestrüpp versperrt war. Erst nach einigem Hin und Her fanden wir einen neuen Pfad, der am Rand des Tales wieder weiter aufwärts führte. Unvermittelt standen wir nach kurzer Zeit an einem staubigen Feldweg, der uns bis nach Thalamos führte.
Auf dem Dorfplatz saßen wir vor der Taverne, beschirmt vom ausladenden Geäst einer gewaltigen Platane, und erholten uns vom morgendlichen Anstieg. Der Wirt brachte uns Omeletts von wildem Spargel, gesammelt hier an den Hängen der Berge, wie er beteuerte. Woher auch immer der Spargel kommen mochte, das Omelett schmeckte köstlich, genauso wie die vielen Kafé Ellinikós, die wir danach tranken. Nur selten fuhren Autos vorüber. Im Baumschatten saß ein alter Mann. Saß auf einem Stuhl am Straßenrand und schauten jedem Fahrzeug interessiert nach. Die Drehung seines Kopfes, dem Fahrzeug folgend, war die einzige Bewegung, die er während dieser ganzen Zeit vollführte. Unterbrochen wurde diese Idylle unerwartet von drei Hunden, die – man wusste nicht woher und warum – plötzlich unter lautem Gekläffe die leicht abschüssige Straße heruntergerast kamen. Für einige Minuten balgten sie sich knurrend wie junge Teufel zu unseren Füßen. Unermüdlich wirkten sie wie einst der Hund Lailaps vielleicht, und als ob sie die ewige Jagd verkörpern müssten, rannten sie plötzlich die Strecke, die sie eben herunter gekommen waren, wieder hinauf, verschwanden ebenso unvermittelt wie sie zuvor erschienen waren.
Der Marsch nach Trahila am Vortag und der Aufstieg am Morgen hatten uns erschöpft. Es heißt, am dritten Tag einer Wanderung solle man ruhen. Aber wir wollten weiter. Nur fünfundzwanzig Kilometer waren es noch bis Areopoli, doch es gab nach Auskunft des Wirtes hier keinen Wanderweg, auf dem wir hätten weitergehen können. Auch von einem Bus wusste er nichts, tröstend fasste er meinen Begleiter am Arm, bedeutete uns, dass wir doch einfach bei ihm bleiben könnten. Es war inzwischen heiß geworden, und die Vorstellung auf der Straße, auf Asphalt zu gehen, war nicht angenehm. Aber was blieb zu tun? Alles würde sich lösen, wenn wir nur gingen. Losreißen mussten wir uns vom kühlen Baumschatten, von Getränken und Speisen, von der Idylle, von Thalamos. Und so gingen wir, traten hinaus in den gleißenden Sonnenschein, waren schon nach wenigen hundert Metern verschwitzt. Gingen und kamen voran, rasteten und gingen murrend weiter, setzten Fuß vor Fuß und erreichen das nächste Dorf am Nachmittag. Auf dem Dorfplatz trafen wir einen einzigen Menschen an, den Wirt eines Cafés, der seinen Laden gerade zugesperrt hatte, um sich zur Ksekourasi, zur nachmittäglichen Ruhe, zurückzuziehen. Von ihm erhielten wir die frohe Kunde, dass ein Bus kommen solle, der nach Idylo fahren würde, nicht mehr als zehn, zwölf Kilometer, aber wir hatten genug für diesen Tag. Der Mann wusste nicht, wann der Bus kommen würde, aber er käme gewiss, versicherte er uns lächelnd.
Leoforio. Das griechische Wort für „Bus“ ist schön, ich flüsterte es, als wäre es eine archaische Beschwörungsformel: Leo-fo-rio. Wir übten uns also in der Kunst des geduldigen Wartens. Das Café auf dem Dorfplatz war geschlossen, aber immerhin konnten wir im Schatten auf Stühlen davor sitzen. Das Sitzen ist – laut meinem Reisegefährten – eine typische, sozusagen urgriechische Angelegenheit. Man sitzt (Frauen sind merkwürdigerweise meist beschäftigt, es sind die Männer, von denen hier die Rede ist) entspannt auf den schmalen, mit Bast ausgeflochtenen Holzstühlen. Man sitzt als gäbe es keine Zeit und nichts Besseres zu tun, als eben auf diesem Stuhl zu hocken und die Welt mitsamt ihren Merkwürdigkeiten an sich vorbei ziehen zu lassen. Vielleicht hat das auch seine Berechtigung in einem Land, das seine Geschichte schon „hinter sich hat“. Denn ein solches Land muss nichts mehr werden, erreichen, sein wollen. All das war doch schon dagewesen: Die in ihrer Bedeutung und ihrem Glanz erdrückende Antike, das Romäertum des Byzantinischen Imperiums, das Rom noch um ein Jahrtausend überdauerte, Unterjochung, Aufstand und Befreiung von der türkischen Fremdherrschaft. Griechenland muss nirgends mehr hineilen. Muss überhaupt nicht eilen. Griechenland sitzt. Nichts ist hier zu spüren von der hektischen Betriebsamkeit, dem Getriebensein eines späten Emporkömmlings wie Deutschland, das immer etwas werden muss. Nichts Neues hingegen unter der griechischen Sonne, nichts, was nicht schon einmal gewesen wäre. Bleiben wir also noch etwas sitzen und erfreuen wir uns an dieser Sonne, solange sie uns noch bescheint.
Man wusste nicht, ob tatsächlich ein Bus kommen wird, geschweige denn wann. Eine große Stille lag über dem Ort und falls es hier Menschen gab, mutmaßte ich, dann lagen sie im tiefen Schlaf der südländischen Nachmittagsruhe. Der Weg in die Innere Mani gestaltete sich mühsamer als gedacht. Doch wer weiß, murmelte mein Freund, der ein gläubiger Mensch ist, welche Schwierigkeiten erst eingetreten wären, hätten wir bei unserem Aufstieg am Morgen in der Kapelle am Berghang keine Kerzen entzündet, nicht um Beistand gebeten und keine großzügige Spende zurückgelassen.
Von der lakonischen Seite der Mani her drang die Sonne über die Berge, fiel Meter für Meter tiefer in die Bucht ein. Das breite vergoldete Kreuz auf dem Dach der Kapelle am Hafen wurde bereits von ihr erfasst. Es strahlte und glänzte, als ob es von einem inneren Licht erhellt würde. Ein goldfarbenes Glühen, von dem ich meinen Blick lange nicht wenden konnte. Es schien mir, als müsse dieses Kreuz im nächsten Augenblick zerfließen, wie flüssiges Magma in kreuzförmigen Strömen sich ausbreiten, in die Welt hineinfließen, sie mit ihren goldenen Strömen durchdringen und in eine glücklichere Welt verwandeln. Bewegungslos dagegen ruhte die Wasserfläche in der weiten Bucht, dunkel und stumm und womöglich belustigt über mein kindliches Staunen. Der Einfall des Sonnenlichts war alltägliches Schauspiel für diese Meeresbucht und ihre Bewohner: Seeigel klebten in Mengen auf den ufernahen Steinen, eine zahme Seeschildkröte, von der uns schon berichtet worden war, schwamm gemächlich vorüber, Schwärme winziger Fische, die auf Abfälle aus den ufernahen Tavernen spekulierten, Oktopusse und zahlloses winziges Getier, dessen Namen ich nicht kannte. Ein Kessel voller Leben, so sah ich die Bucht am Morgen. Hellblau ruhten die Fischerboote und hellblau waren die hölzernen Aufbauten der Taverne gestrichen, dazwischen prangte das kräftige Grün von Kiefern und das dunklere der Pinien.
Am Vortag waren wir – ein Bus hatte irgendwann auf dem Dorfplatz von Lagatha gestanden, war als Deus ex Machina aus dem Nichts erschienen, um unser stoisches Warten zu belohnen – bis nach Idylo gefahren. Aus unerfindlichen Gründen hatte die Fahrt hier geendet. Vielleicht, weil wir die einzigen Fahrgäste gewesen waren und der Busfahrer es für angemessen gehalten hatte, dass wir die endlosen Serpentinen hinunter in die Bucht zu Fuß zurücklegten. Vielleicht, weil er selbst das großartige Panorama betrachten wollte, vielleicht aber auch, weil am südlichen Ende der Bucht mit Limani bereits die Grenze zur Inneren Mani lag. Auf diesem jenseitigen Rand der Bucht – hoch oben am Berghang – waren Häuser zu sehen gewesen, die bereits jene von Areopoli sein mussten. Das Tor zur Inneren Mani lag vor uns. Dazwischen, auf einer Anhöhe über der Bucht und nahe bei Idylo, waren die Überreste eines großen Kastells zu erkennen: hier hatte sich die von den Türken erbaute Festung Kelefa befunden. Von diesem strategischen Punkt ließ sich theoretisch die gesamte Bucht beherrschen. In der Praxis der Auseinandersetzungen mit den widerborstigen Manioten blieb es allerdings beim erfolglosen Versuch. Die Mani blieb eines der wenigen griechischen Gebiete, die von den Osmanen niemals vollständig unterworfen werden konnten. Viel ist von der gewaltigen Anlage nicht übrig geblieben. Ein riesiges Mauergeviert und die Überreste von Ecktürmen sind noch erkennbar.
Wir waren lange oberhalb der weiten Bucht gestanden und hatten diese Landschaft betrachtet. Nicht mehr als vierzig Kilometer von Kardamili entfernt, hatte sie sich bereits vollständig gewandelt. Die Berge kahl, jeder einzelne Baum, der da und dort noch zu entdecken war, zog den Blick unweigerlich auf sich, erschien als etwas Besonderes. Klare Linien, nicht schroff, sondern sanft gerundet, abfallend und aufsteigend. Die Farbtöne braun und grau. Hier hatte die Landzunge von West nach Ost immerhin noch eine Breite von etwa zwanzig Kilometern. Nach Süden würde sie jetzt immer schmaler werden, bis sie am Kap Tenaro in einer einzigen spitzen Felsnadel auslaufen würde. In der kargen Felslandschaft dieses südlichsten Zackens des griechischen Festlands hatte sich die Widerstandskraft gegen die jahrhundertelange türkische Fremdherrschaft auf engstem Raum geballt und sich immer mehr verdichtet, bis sie sich dann in einer Umkehrung dieses Vorgangs explosionsartig nach Norden ausgebreitet und das ganze Land erfasst hatte. Von hier zogen am 17. März 1721 einige tausend Manioten unter ihrem Anführer Petros Mavromichalis nach Kalamata, eroberten dort in einem Handstreich die türkische Garnison und gaben damit das Signal zum Aufstand, der letztlich zur Befreiung Griechenlands führte. Mavromichalis sollte der berühmteste Anführer werden, den die Mani je hervorgebracht hatte.
Die Ortschaft Limeni fungierte in früherer Zeit als Hafen von Areopoli. Heute ist sie vor allem Touristenressort. Ein dutzend Tavernen und Bars am Wasser, sorgsam restaurierte alte Gebäude und ein wenig oberhalb in den Berghang gebaute Bungalows, die den historischen maniotischen Steinhäusern nachempfunden worden waren. Die frühere Residenz des Mavromichalis-Clans war ein eher bescheidener Bau, ein einstöckiges Steinhaus mit Blick auf die Bucht. Der Wohnturm befand sich in etwa fünfzig Meter Entfernung landeinwärts auf einer Anhöhe. Die gesamte Ortschaft Limeni war nicht wesentlich größer als die Siedlung Karavostasi auf der nördlichen Seite der Bucht, wo wir in der Taverne „O Pharos“ Quartier bezogen hatten. Die meisten Gebäude waren sorgfältig restauriert worden und das Wappen der Mavromichalis war an zahlreichen Gebäuden zu sehen.
Die Straße – es ist immer dieselbe einzige schmale Straße, der wir die ganze Zeit schon folgten –, diese Straße, die südwärts führt bis zum Kap Tenaro, sie führte auch hier mitten durch den Ort und wand sich am südlichen Ende der Bucht hangaufwärts nach Areopoli hinauf. Am Ortsende von Limeni fanden wir eine Badestelle, balancierten vorsichtig über große Steine zum kristallklaren Wasser, um nicht auf einen der zahlreichen Seeigel zu treten, eine vermutlich schmerzhafte Angelegenheit, die vermieden sein wollte.
Herr Panteli, der Wirt des „O Pharos“, machte uns nach unserer Rückkehr mit einer älteren Dame bekannt. Eine Griechin, sagte er, die deutsch spricht und gern ein wenig Zerstreuung und Gesellschaft hätte. Anastasia war bereits in ihren Siebzigern, sie war eine kleine, dunkle, zähe und lebendige Frau. Sie war mit einem Österreicher verheiratet gewesen, jetzt aber schon lange von ihm getrennt. Sie lebte teils in Wien, teils hier auf der Mani. Wir verabredeten uns auf ein Glas nach dem Essen und es sollte ein angeregter Abend werden. Anastasia hatte Patrick Leigh Fermor noch persönlich kennengelernt, sie war vor vielen Jahren in seinem Haus in Kardamili zu Gast gewesen. Sie habe einfach geklopft, erzählte sie uns, und gesagt, dass sie ihn gern kennenlernen möchte. „Dann herein mit dir!“, habe ihr Fermor lachend geantwortet und sie ins Haus gebeten.
Sie erinnere sich nicht mehr, wann das gewesen war und worüber sie mit Fermor gesprochen hatte, nur an ihn und an das Haus und den Sitzplatz im Freien, den Arkadengang im Rücken („wie in einem Kloster, müsst ihr euch vorstellen“) und den Blick über die kleine Bucht und auf das Meer hinaus nach Westen. Wir erfuhren einige interessante Dinge über die Mani, die Manioten und den Clan der Mavromichalis, mit dem Anastasia weitläufig verwandt war. Ohne sich in Details verlieren zu müssen, konnte man sagen, dass sie ein abenteuerliches Leben geführt haben musste. Nach der Trennung von ihrem österreichischen Mann war sie nach Griechenland zurückgekehrt. Sie wohnte in ihrem Haus in Gythio, das sie selbst restauriert und eingerichtet hatte. Sie sammelte Artefakte aus aufgegebenen Häusern, die leer standen und verfielen. Sie arbeitete künstlerisch, malte und arrangierte die Dinge, die sie von ihren mitunter tagelangen Streifzügen mitbrachte – Steine, Muscheln, verrostete Türbeschläge, Keramik – in Objektkästen. Sie malte wunderschönes Meeresgetier auf Holzplatten und beschriftete sie mit dem jeweiligen lateinischen Namen. Immer wenn ihr dann doch einmal fad war, fuhr sie nach Karavostasi zu Panteli und seiner Familie. Am Nachmittag, während wir durch Limeni spazierten, hatte sie in der Bucht einen Oktopus gefangen. Sie erklärte uns – unterstützt von einer lebhaften szenischen Darstellung –, wie man einen Tintenfisch packt und tötet, die Saugnäpfe nach außen stülpt. Es herrschte eine gelöste und inspirierte Stimmung an diesem Abend. Ein weiteres Treffen wurde verabredet und Anastasia lud uns ein, sie in in Gythio zu besuchen. Doch zuvor wollten wir nach Areopoli und zum Kap Tenaro. Das Totenorakel der Spartaner und einer der geheimnisumwitterten Zugänge zur Unterwelt warteten dort auf uns.
Wird fortgesetzt
Unser Gastschreiber Jörg Jacob berichtet von einer Griechenlandreise, die ihn mit einem Freund von Athen über Sparta und Mystras bis zum südlichen Ende des Peloponnes geführt hat. Eindrücke und Gedanken der Wanderer verbinden sich mit Orten, die aus der griechischen Mythologie überliefert sind. Unterteilt in sieben Kapitel veröffentlichen wir diesen Text im Jahresverlauf auf unserem MYTHO-Blog.
Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Jörg Jacob lebt und arbeitet als freier Autor in Leipzig, zuletzt erschien Godot gießt nach/Herr Tod will leben, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019 sowie Aus der Stadt und über den Fluss: Zwölf Versuche über das Gehen, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2021.
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