Wälder, Träume, kalte Herzen – Von der Magie eines Märchens

“Schatzhauser im grünen Tannenwald,
Bist schon viel hundert Jahre alt;
Dein ist all Land, wo Tannen stehn,
Lässt dich nur Sonntagskindern sehn.“

Es war einmal … Die Ahnung eines dichten Waldes. Stille. Der Alltag nur eine vage Ahnung der Wirklichkeit. Und in der Stille Gekicher. Mal von hier, mal von dort. Eine finstere Kulisse und in der Mitte, sich langsam bewegend, ein weißes Männlein mit spitzem weißen Hut, bei dem man nicht umhinkommt, an die Kopfbedeckung eines Zauberers zu denken. Näher und näher kommt die Gestalt, die geisterhaft wirkt vor der Düsternis der irrealen Bäume; ein sich bewegender Lichtpunkt von Ferne, ummalt von einem schon fast schmerzlich grellweiß ausgeleuchtetem Rahmen, der an die aufgeschlagene Seite eines elektronischen Buches erinnert. Und die erste Frage ist bereits beantwortet, bevor sie sich stellt: Es ist Magie im Spiel in den kommenden neunzig Minuten.

Das Schauspiel Leipzig hat in der Inszenierung von Intendant Enrico Lübbe „Das kalte Herz“ des Schriftstellers Wilhelm Hauff (1802-1827) auf die Bühne gebracht oder vielmehr gezaubert, denn als Zuschauer ist man ab dem ersten Gekicher des weißen Männleins – das denn auch erzählend durch die Geschichte führt – in Bann gezogen. Sehr treffend steht dazu auch im Programmheft geschrieben: „Ein sehr erwachsenes Märchen über den schönen Schein und ein Herz aus Stein. Ein Märchen aus vergangenen Tagen. Ein Märchen über den modernen Menschen.“

Dabei beginnt die Geschichte, die 1827 in Hauffs „Märchenalmanach auf das Jahr 1828“ erschien (Hauff selbst erlebte die Veröffentlichung nicht mehr), nicht unbedingt, wie man es bei einem typischen Märchen erwartet. Statt des bekannten Es-war-einmal ist man mittendrin in einem etwas untypisch wirkenden Reisebericht, der stellenweise so düster und gruselig daherkommt, dass sich der Vergleich zur Schauergeschichte nahezu aufdrängt. Ehe es denn doch zum klassischen Und-wenn-sie-nicht-gestorben-sind-so-leben-sie-noch-heute-Ende kommt, haben Zuschauer (bzw. Leserinnen und Leser) eine an manchen Stellen eher herzzerreißende denn herzerkaltende Spannungsachterbahnfahrt hinter sich, die sich – Kenntnis des Stoffs hin oder her – jedes Mal von Neuem einstellt.

Alles beginnt und endet im Schwarzwald. Im Reich der Uhrmacher und der Glasbläser, der Köhler und der Flözer. Im Reich der Flüsse. Und im Reich des Waldes. Silva nigra, schwarzer Wald, wurde die Gegend von den Römern aufgrund des dichten Bestands an Nadelbäumen genannt, die kaum Tageslicht zum Boden durchdringen ließen. Vom spätantiken Historiker Ammianus Marcellinus stammt zudem die Bezeichnung Marciana silva (*marka > Grenze). Währenddessen ist bei Autoren wie Plinius dem Älteren (Naturalis historia), Tacitus (Germania) oder Claudius Ptolemäus (Geographia) auch der Name abnoda mons (Gebirge der Abnoda) für das Gebiet des Schwarzwalds überliefert. Abnoda (keltisch *abonā > Fluss), so bezeugen es u. a. verschiedene Inschriften, war eine keltische Muttergottheit und das Äquivalent zur römischen Göttin Diana. Sie galt als Beschützerin von Wald und Wild, der Quellen und der Jagd. Die perfekten Voraussetzungen also für die Fantasie. Und natürlich für ein Märchen aus der Zeit der Romantik.

Hat man zu Beginn der Erzählung erfahren, was für wunderliche Leute den Schwarzwald des 19. Jahrhunderts bevölkern, drehen sich alle weiteren Ereignisse um den jungen Köhler Peter Munk, der in einem armen und „elend Leben“ gefangen ist. Wohlhabend möchte er sein, gut tanzen können, Anerkennung genießen und bei den Leuten Eindruck machen. Es ist der ewige Traum vom „mehr“, vom Neid, von der Angst und der Unzufriedenheit, aber auch von der Entschlossenheit, sich nicht mit dem vorherbestimmten Schicksal abfinden zu wollen. Und so macht Peter sich auf in den „dunklen Tannenwald“, mit seinem Mut auf den Köhlerschultern und einem unfertigen Zaubervers auf den Lippen. Von einem Waldgeist, Glasmännlein genannt, hat er gehört, der jenen, die an einem Sonntag geboren wurden und denen man daher Glück nachsagt, Wünsche erfüllen könne. Vielleicht ist Magie also der Weg, den harten Bedingungen der Realität zu entkommen. Doch der erste Anlauf, ein neues Leben einzufordern, scheitert – zudem macht Peter Bekanntschaft mit einem zweiten Waldgeist, dem Holländer-Michel, von dem er gehört hat: „[…] alles Böse im Schwarzwald schreibt sich von ihm her; oh! er kann einen reich machen […]“.

Verängstigt von der Begegnung mit dem Holländer-Michel, wagt Kohlen-Peter mit dem nun vervollständigten Zaubervers noch einmal sein Glück mit dem Glasmännlein. Dieses erscheint denn auch und gewährt dem jungen Mann, ähnlich wie der Lampengeist in der Geschichte von Aladdin, drei Wünsche. Aber das Angebot kommt versehen mit einer Warnung: „Hochmut kommt oft vor dem Fall […]. Ihr seid ein sonderbar Geschlecht, ihr Menschen! Selten ist einer mit dem Stand ganz zufrieden, in dem er geboren und erzogen ist, und was gilt’s, wenn du ein Glasmann wärest, möchtest du gern ein Holzherr sein, und wärest du Holzherr, so stünde dir des Försters Dienst oder des Amtmanns Wohnung an. Aber sei es! Wenn du versprichst, brav zu arbeiten, so will ich dir zu etwas Besserem verhelfen, Peter. Ich pflege jedem Sonntagskind, das sich zu mir zu finden weiß, drei Wünsche zu gewähren. Die ersten zwei sind frei, den dritten kann ich verweigern, wenn er töricht ist. So wünsche dir also jetzt etwas, aber – Peter, etwas Gutes und Nützliches!“

Natürlich kommt es, wie es im Märchen kommen muss. Statt des Guten und Nützlichen wünscht sich Kohlenmunk-Peter, besser tanzen zu können als der Tanzbodenkönig – den er heimlich um sein Talent beneidet – und auch mehr Geld zu haben als dieser. Zudem möchte er die „schönste und reichste Glashütte im ganzen Schwarzwald mit allem Zugehör und Geld, sie zu leiten“ besitzen. Das Glasmännlein ist von den Begehrlichkeiten alles andere als angetan, doch die Abmachung gilt. Peters Leben und das seiner Familie verbessert sich schlagartig. Doch mit dem vermeintlichen Glück kommen die Schattenseiten, denn es fehlt ihm der nötige Weitblick sowie der Geschäftssinn für sein neues Unternehmen, und zudem verbringt er zu viele Abende im Wirtshaus, wo er sich ob seiner Tanzkünste bewundern lässt und dabei zugleich all sein Geld verprasst. Damit schlägt die Stunde des Holländer-Michels, der es schafft, Peter mit der Aussicht auf das Ende all jenes Unbills zu verführen, das ihm scheinbar vom Glasmännlein eingebrockt wurde. Peter braucht beim Holländer-Michel nicht zu wünschen. Dieser ist bei weitem kein knausriger Waldgeist. Im Gegenteil. Die Sache hat nur einen Haken: Der Preis für Geld und Ansehen ist Peters Herz. Etwas, das der junge Mann nur allzu schnell und willig aufzugeben bereit ist; fortan trägt er dafür ein kaltes, steinernes Herz in der Brust, das der Holländer-Michel ihm mittels Magie einpflanzt. Und Magie ist es denn schließlich auch, die die Geschichte zu ihrem Ende führt, wobei bis zum Schluss nicht gewiss ist, ob es Peter tatsächlich gelingt, das kalte Herz, das ihm im Grunde mehr Qual denn Glück bereitet, wieder loszuwerden. „Peter, schaff dir ein wärmeres Herz!“, heißt es dazu im zweiten Teil des Märchens an verschiedener Stelle und der Satz wirkt erstaunlich aktuell.

Mit subtilem psychologischen Blick verwebt Wilhelm Hauff in seinem Märchen romantische Naturpoesie (vor allem der Wald war seit jeher Ort der Angst und des Unheimlichen) mit Elementen des Volksglaubens und der Sehnsucht nach dem Guten, das sich gegen das verführerische (teuflische) Böse bewähren muss. Zudem wird die Frage aufgeworfen, wo sich der Mensch zwischen den beiden moralischen Polen Gut und Böse verortet – was es ist, das ihn mal in die eine und mal in die andere Richtung treibt und wie weit er bereit ist zu gehen, um seine Träume, aber auch seine Gier zu realisieren und was er dafür aufgibt, vergisst oder zurücklässt. Bisweilen hat man den Eindruck, die Magie sei in der Geschichte das Alte und Urwüchsige, das sowohl zum Schaden als auch zum Nutzen verwendet werden, aber doch nur soweit Macht entfalten kann, wie der Mensch sie eben zum Nutzen oder zum eigenen Vorteil zu gebrauchen versteht. Was zu der Frage führt: Ist die Magie hierbei reines Mittel zum Selbstzweck oder unterliegt sie (muss es vielleicht sogar) einem moralischen Kodex? Eine Frage, die sich der Zuschauer (und Leser) selbst stellen muss. Eine Frage, auf die es vielleicht keine Antwort gibt und die vielleicht deshalb aus Magie und Märchen eine so wunderbar besondere Kombination macht. Man kann sich das eine kaum ohne das andere vorstellen. Ob Flüche, Zaubersprüche, gute und böse Feen, zauberische Verwandlungen und Rückwandlungen, verhexte Gegenstände, sprechende Tiere: in Märchen, so scheint es, findet sich – fern von alchemistischen Experimenten oder den praktischen Anwendungen (vermeintlich) zauberischer Rezepturen – unser erdachtes und erzähltes magisches Erbe, das von den Romantikern, allen voran den Brüdern Grimm, gesammelt und aufbereitet wurde.

Was wäre wohl unsere Welt ohne Märchenmagie? Eine Welt, so kalt wie die kalten Herzen in der Erzählung von Wilhelm Hauff? Ohne Freude. Ohne Mitgefühl. Ohne Reue. Ohne Träume. Und vor allem ohne Vorstellungskraft. Damit ist die Metapher vom kalten Herz sowohl moralischer Fingerzeig als auch Spiegel unserer selbst, denn zuweilen sind wir eben genauso hin- und her gerissen zwischen unserem Leben und unseren Wünschen wie der Kohlenmunk-Peter. Und so echot an jenem Theaterabend das Gekicher des Glasmännleins, als es in der künstlich bewaldeten Bühne verschwindet, wohl wissend, dass sich alles wiederholend wird, auch seltsam beruhigend und beunruhigend in uns wieder, während das grellweiße Licht des virtuellen-realen (Buch-Bühnen)Rahmens allmählich erlischt. Ein magisches Märchen eben für den modernen Menschen.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm


Literaturhinweis:

Wilhelm Hauff. Das kalte Herz. Hamburger Lesehefte Verlag. Husum 2020.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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